20.08.2019
Der Schatten der Demokratie
Von Matthew Goodwin
Populismus entsteht, wenn Menschen mehr von der Politik wollen, als ihnen das Establishment bietet. Er wird uns auf absehbare Zukunft erhalten bleiben.
Es fällt einem grundsätzlich schwer, sich einen Reim auf den Populismus zu machen. Egal ob in den Debatten über Donald Trump, den Brexit oder nationalen Populismus in Europa, ein gemeinsames Problem ist die Tendenz, sich fast ausschließlich auf kurzfristige Entwicklungen zu konzentrieren und unsere politische Welt aus einer unglaublich engen Perspektive zu betrachten.
Der „plötzliche“ Anstieg des Populismus wird routinemäßig auf jüngere Ereignisse zurückgeführt. Der Populismus wurde durch die Finanzkrise nach 2008 und die Große Rezession verursacht. Er wurde durch die folgende harte Austeritätspolitik verursacht. Er wurde durch die Flüchtlingskrise nach 2014 verursacht. Er wurde durch die Einführung von Social Media verursacht, wie z.B. Facebook im Jahr 2004 oder Twitter im Jahr 2006. Meistens wurde er durch ein bestimmtes Ereignis bei einer bestimmten Wahl verursacht, sei es durch Enthüllungen über Hillary Clintons E-Mails, die Wählerbeeinflussung durch Cambridge Analytica oder durch Brexit-Befürworter, die während ihrer Kampagne 2016 mehr Geld ausgegeben haben, als sie eigentlich durften.
Einige dieser Dinge sind zweifellos wichtig, aber ich würde behaupten, dass sie ein Maß an Aufmerksamkeit erhalten haben, das zu ihrer tatsächlichen Bedeutung in keinerlei Verhältnis steht. Unterdessen haben wir überall im Westen eine tiefere und letztlich wichtigere Kraftquelle für den Populismus aus den Augen verloren: eine grundlegende und unvereinbare Spannung zwischen verschiedenen „Modellen“ der Politik, die seit der Geburt der Massendemokratie einen Großteil der westlichen Gesellschaft geprägt hat.
„Es gibt im Westen eine Tradition des nationalen Populismus, die älter ist als unsere moderne Vorstellung von liberaler Demokratie.“
Wie wir in unserem Buch „National Populism: The Revolt Against Liberal Democracy“ darlegen, sind Figuren wie Donald Trump, Matteo Salvini oder Marine Le Pen alles andere als einzigartig in der Moderne. Es gibt im Westen eine Tradition des nationalen Populismus, die älter ist als unsere moderne Vorstellung von liberaler Demokratie.
Man hört heute nichts mehr von ihr, aber diese Tradition reicht zurück zu Bewegungen wie den französischen Poujadisten in den 1950er Jahren, den russischen Narodniki im 19. Jahrhundert oder den Populares in der späteren Römischen Republik, die Bürger gegen eine dominante Oligarchie hinter sich scharten (wobei sie üblicherweise ihre eigenen Interessen verfolgten). Ebenso kann man nicht anfangen, Trump zu verstehen, ohne zuerst seine relevanten Vorfahren auf dem populistischen Stammbaum der USA zu erforschen, wie die People’s Party in den 1890er Jahren, die „Know Nothing“-Partei der 1850er Jahre und einflussreiche Persönlichkeiten wie Andrew Jackson. Diese Bewegungen unterschieden sich stark, aber sie alle trugen zur allgemeinen Entwicklung der national-populistischen Tradition bei und erinnern uns daran, dass diese eine lange Geschichte hat.
Politik als Glaube
Um die lange Haltbarkeit dieser Kraft zu verstehen, sollte man die Arbeit von Margaret Canovan betrachten, einer meiner Lieblingsdenkerinnen zum Thema Populismus, die leider kürzlich verstorben ist. Canovan, die wiederum von Michael Oakeshott beeinflusst wurde, argumentierte im Gegensatz zu einem Großteil der öffentlichen Debatte, dass der Populismus heute keine historischer Irrweg oder Ausreißer ist. Vielmehr ist er eng mit der Praxis der Demokratie verbunden. Solange wir Demokratie haben, werden wir Populisten haben. Denn Bewegungen wie der Brexit, Trump, die Fünf Sterne in Italien oder die Schwedendemokraten schöpfen ihre Kraft nicht einfach aus dem, was heute geschieht, sondern aus einem tieferen Konflikt zwischen zwei verschiedenen Idealtypen, Tendenzen oder Politikstilen, die den Westen (und insbesondere Europa) seit Jahrhunderten durchziehen. Das sind letztendlich zwei sehr unterschiedliche Arten, die Welt um uns herum zu sehen. Auf der einen Seite steht „Politik als Glaube“, auf der anderen Seite „Politik als Skepsis“.
„Der Populismus ist letztlich eine Form von Politik als Glaube.“
Der Populismus ist letztlich eine Form von „Politik als Glaube“. Er beruht auf der Vorstellung, dass der Mensch hier auf der Erde – durch Politik – Vollkommenheit, Erlösung oder eine Utopie erreichen kann. Die politische Arena ist kein Forum, in dem wir einfach nur über Politik oder Manifeste diskutieren, sondern auch ein Mittel, mit dem das Volk sein eigenes Heil verfolgen kann – das Heil seiner Gemeinschaft, seiner Nation und seiner Gruppe. Politik als Glaube ist also hochemotional, erfordert totalen Gehorsamkeit und versucht, Massenbegeisterung, Zuneigung, Liebe und Stammesloyalität zu wecken. Der ansonsten routinemäßige Alltag des politischen Lebens verwandelt sich in eine weitaus größere und ehrgeizigere Erzählung, eine Kampagne zur Rettung der Nation oder ihres Volkes, ein Versprechen, „Land X wieder groß zu machen“ oder „die Kontrolle zurückzuerobern“.
Obwohl der Populismus routinemäßig als reaktive Kraft dargestellt wird, die nur gegen etwas ist, appelliert die Politik als Glaube an eine anerkannte Autorität, nämlich das Volk, und behauptet, in seinem Namen zu sprechen. Aus diesem Grund beschrieb Canovan die Politik als Glaube als „erweckungsspiritualistische Geschmacksrichtung einer Bewegung, von einem Enthusiasmus angetrieben, der normalerweise unpolitische Menschen in die politische Arena zieht“. Tatsächlich haben die heutigen Populisten, wie die Alternative für Deutschland, der Brexit und Trump, genau das getan und Stimmen von Menschen eingeholt, die zuvor die Politik aufgegeben hatten, aber nun die Möglichkeit gesehen haben, wieder in die politische Arena zurückzukehren, um die Rettung ihrer Gruppe und Nation zu verfolgen.
Dies ist ein wichtiger Punkt, denn während Populisten sich zwar auf Mainstream-Themen wie Verteilungsfragen, EU-Mitgliedschaft, Einwanderung oder Recht und Ordnung konzentrieren, übersetzen sie diese Debatten über Politik gleichzeitig und ständig in weitaus grundlegendere Fragen der demokratischen Macht, von der sie oft behaupten, sie wurde Eliten übergeben oder von ihnen gestohlen. Dies führt uns zu einem Punkt, der vielen unangenehm ist: Zumindest einige der Kritikpunkte, von denen der nationale Populismus lebt, sind legitim. Der Verlust der Stimme in einem politischen oder wirtschaftlichen System oder ein Mangel an demokratischer Verantwortlichkeit in Institutionen, die über dem Nationalstaat agieren, sind reale Probleme. Die Politik des Glaubens behauptet, dass den Menschen eine viel größere demokratische Macht eingeräumt werden sollte und dass nur dem Volk, das seine eigene Erlösung durch das System verfolgt, diese Macht anvertraut werden kann. Letztendlich kann man sich darauf verlassen, dass die Bürger die richtige Entscheidung treffen.
Politik als Skepsis
Genau deshalb sehen andere den Populismus als zutiefst problematisch an und propagieren eine „Politik als Skepsis“. Diese stellt eine Art Gegengewicht zum Populismus dar. Politik als Skepsis ist eine grundlegende Betrachtungsweise des politischen Bereichs. Im Gegensatz zur „erweckungsspiritualistischen Geschmacksrichtung“, die die Politik als Glauben charakterisiert, ist die Politik als Skepsis viel stärker auf inkrementelle und nicht auf radikale Veränderungen ausgerichtet. Es geht um die Formalia des Regierungshandelns, Verfahren, Regeln, technische Einzelheiten, Selbstkontrolle und Mäßigung, die sie praktisch, aber unvermeidlich trocken und langweilig macht. Sie ist nicht nur gegenüber großen ideologischen Visionen skeptisch, sondern auch gegenüber jeder Machtkonzentration und auch der Beteiligung der Massen an komplexen Themen, obwohl diese Skepsis schnell in offene Verachtung umschlagen kann. Bei der Politik als Skepsis geht es darum, sich auf die Seite der Experten zu stellen. Max Weber sagte einmal, dass die Politik langsam ist und ständig harte Bretter bohrt. Das ist die Politik der Skepsis.
„Der Populismus kann ein wichtiges Korrektiv werden, wenn sich Gruppen zurückgelassen fühlen, wenn bestimmte Missstände ignoriert werden.“
Die Politik der Skepsis ist zutiefst misstrauisch gegenüber der Vorstellung, dass Vervollkommnung, Erneuerung oder Erlösung hier auf der Erde jemals erreicht werden können. Sie ist sehr besorgt darüber, wie die Politik als Glaube Barrieren und Kontrollen ablehnt, die das Streben nach Erlösung verzögern sollen: die bürgerfernen bürokratischen Strukturen in Brüssel, der „Deep State“ in Washington, die Pro-Remain-Beamten in Westminster oder der italienische Staatspräsident, der sich weigert, einen euroskeptischen Minister zu vereidigen. Wenn die Politik des Glaubens die Daily Mail ist, dann ist die Politik der Skepsis die Financial Times.
Der entscheidende Punkt bei diesen konkurrierenden Modellen ist jedoch, dass sie untrennbar miteinander verbunden sind. Sie brauchen einander. Ohne Politik als Skepsis riskieren die Heilssuchenden, alle Checks and Balances einzureißen und sich zu Autoritären zu entwickeln. Aber ohne die Heilssuchenden laufen die Skeptiker Gefahr, in totale politische Passivität zu verfallen. Sie akzeptieren viel zu bereitwillig den Status quo und sind zu langsam, um Veränderungen oder Reformen voranzutreiben. Deshalb sind einige Beobachter (darunter auch wir) zumindest bereit zu akzeptieren, dass der Populismus ein wichtiges Korrektiv werden kann, wenn sich Gruppen zurückgelassen fühlen, wenn bestimmte Missstände ignoriert werden, wenn sich der Gesellschaftsvertrag zwischen den Herrschern und den Herrschenden aufzulösen beginnt.
Versäumnisse des Mainstreams
Tatsächlich entsteht Politik als Glaube typischerweise, wenn Politik als Skepsis nicht auf bestimmte Anliegen oder bestimmte Gruppen reagiert. Es ist vielleicht nicht verwunderlich, dass in Großbritannien der Aufstieg der national-populistischen UK Independence Party (Ukip), des damaligen linksradikalen Jeremy Corbyn und letztlich des Brexit im Schatten der 13-jährigen Herrschaft von New Labour stattfand, einem Beispiel für ein politisches Managertum, das oft nicht auf Identitätsfragen reagierte und abfällig auf die öffentliche Meinung schaute.
„Der Brexit war ein Versuch, ein Ungleichgewicht in einer Nation zu korrigieren, die sich mehr für Großunternehmen, Großstädte, Sozialliberale und Mittelschichtsakademiker interessiert hatte.“
Insbesondere das Brexit-Votum war nicht nur eine formelle Aufforderung an Großbritannien, die EU zu verlassen. Es war das Ergebnis der Politik des Glaubens, die sich gegen die Politik der Skepsis richtete, ein Versuch, ein Ungleichgewicht in einer Nation zu korrigieren, die sich mehr für Großunternehmen, Großstädte, Sozialliberale und Mittelschichtsakademiker interessiert hatte, auf Kosten von Arbeitern, Konservativen, ländlichen Gemeinden und kleineren Städten.
Dies sollte uns nicht daran hindern, Fälle von Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zu kritisieren, die oft mit der Politik des Glaubens einhergehen. Aber es stimmt auch, dass viele Anhänger des Populismus keine solchen Ansichten vertreten und stattdessen einen radikalen politischen Wandel wünschen. Es geht ihnen darum, das Pendel von der Politik der Skepsis hin zu einer Politik des Glaubens und der Erlösung zu bewegen, wie auch immer sie diese genau definieren mögen. Sofern wir uns nur mit den Inhalten der gegenwärtigen Kampagnen beschäftigen, verlieren wir den Blick für die zugrundliegenden Spannungen, die am Werk sind, und verlieren so die Möglichkeit, ernsthaft darüber nachzudenken, wo die Politik als Skepsis schiefgelaufen ist.
Ich denke, so verstehen wir besser, welche Fehler der „linke“ Mainstream im Zusammenhang mit den Revolten von 2016 gemacht hat. Beim Rückblick auf die damaligen Kampagnen erkennt man nur die Politik der Skepsis: unglaublich trockene und Tauschangebote für Wähler, die nach etwas viel Aussagekräftigerem suchten. „So viel Geld bringt Ihnen die EU-Mitgliedschaft“; „So viel BIP erwirtschaftet Ihre Region aus den EU-Strukturfonds“; „So viel Schaden wird Trump, Salvini oder Le Pen Ihrer Wirtschaft zufügen“.
„Eine Bewegung, die die Abgehängten am stärksten anspricht, kann nicht selbst abgehängt werden.“
Die Remainer in Großbritannien, die Demokraten in den USA und die Sozialdemokraten in Europa sind die Meister der Politik als Skepsis. Aber sie sind unglaublich schlecht darin, Brücken zu den Wählern zu bauen, die eher zur Erlösung und zum Glauben neigen. Erstgenannte entziehen ihren Kampagnen die Emotionen und verstecken sich vor Debatten, die sich auf Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Identität konzentrieren, auf genau das, was Letztgenannte interessiert. Diese Zurückhaltung, darauf einzugehen, wirft ein weiteres Problem für die Skeptiker auf: Dass sie zwar den Respekt der Menschen gewinnen konnten, aber nie deren Liebe oder Hoffnung inspirieren können (wie Emmanuel Macron jetzt entdeckt). Das macht sie allenfalls von Gleichgültigkeit oder schlimmstenfalls von Verachtung abhängig. Wie sagte schon Oakeshott: „Es ist immer schwierig, sich für Mäßigung zu begeistern oder Leidenschaft für Selbstbeherrschung zu entwickeln.“
Während Skeptiker immer anfällig dafür sind, unter der Mäßigung zu leiden, die sie leben, sind diejenigen, die die Politik des Glaubens praktizieren, immer anfällig für ihre Missachtung von Details und ihre Neigung zum Exzess. Und so füttern sie sich gegenseitig. „Die Kontrolle zurückerobern? Zeigen Sie mir, wie das in der Praxis gehen soll“. „Wollen Sie, dass wir in der EU bleiben? Zeigen mir, wie das Volk dann eine Stimme haben und dies unsere Nation retten kann.“ Und so geht es hin und her. Die bürgerfernen Technokraten und selbsternannten Moderaten auf der einen Seite und die leidenschaftlichen Heilssuchenden auf der anderen. Was wichtiger ist als die Frage, wer auf welcher Seite gerade das Sagen hat, ist der Umstand, dass diese Spannung, die in das Gefüge unseres politischen Lebens eingebettet ist, immer vorhanden sein wird.
Deshalb ging Canovan davon aus – und ich finde, sie hatte Recht –, dass der Populismus sich niemals „auswachsen“ wird; dass eine Bewegung, die die Abgehängten am stärksten anspricht, nicht selbst abgehängt werden kann. Der Populismus war in ihren Augen der Schatten der Demokratie und wird es auch in absehbarer Zeit bleiben.