01.07.2004

Der Neue Konservatismus

Analyse von Sabine Reul

Über die Transformation des politischen Systems.

Die Reformdebatte wendet sich in letzter Zeit dem Grundsätzlichen zu. Das hebt das Niveau der Auseinandersetzung, denn da werden Aussagen getroffen, die Einblicke in sich wandelnde geistige Landschaften bieten. Eines scheint unabweisbar: Konservative Deutungen der aktuellen Krise westlicher Gesellschaften liegen im Trend.

Dafür sprechen nicht nur, aber auch deutsche Veröffentlichungen, die in den letzten Wochen von sich reden machen. Wenn Paul Nolte in seinem viel beachteten Buch Generation Reform erklärt, „Deutschland sei im internationalen Vergleich ein System nicht mehr nur verzögerter, sondern blockierter Modernität“, dann sagt er zweifellos nur, was alle sagen. Den CDU-Anhänger trennt da aber nicht viel vom Sozialdemokraten Gabor Steingart, der in seinem fulminanten Essay Deutschland. Der Abstieg eines Superstars mehr oder weniger das gleiche feststellt. Doch der erste Blick täuscht.

Steingarts Essay über die deutsche Krise will das Ausmaß des relativen Niedergangs der deutschen Wirtschaft verdeutlichen, dabei aber auch Mut machen für notwendige Anstrengungen, damit es wieder aufwärts geht, und so der SPD für die Fortsetzung des eingeschlagenen Reformkurses Rückhalt bieten. Der Umbau des Sozialstaats und eine weit reichende Föderalismusreform sollen die Position der SPD als Modernisierungspartei deutlich markieren.
Noltes Erörterung dagegen zielt in die entgegengesetzte Richtung. Er wünscht sich die Union als eine Partei, die das Vertrauen in die „Machbarkeit“, das sie als Träger des Konservatismus der Nachkriegszeit prägte, endgültig durch eine „Ethik der Behutsamkeit im 21. Jahrhundert“ ersetzt. Offenbar hat Nolte hier einen bemerkenswerten geistigen Crossover vollzogen.

Der konservative Professor verkündet die Verabschiedung des Vertrauens in die Machbarkeit und stellt die Sorge um die soziale Integration und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt seiner politischen Vision – Themen, für die früher eher SPD und Grüne als zuständig galten. Den Sozialdemokraten Steingart dagegen beschäftigt die Frage, wie Deutschland wieder wirtschaftlich auf die Beine zu bringen ist. Offenbar verspürt Steingart wenigstens den Ehrgeiz, Lösungen für handfeste wirtschaftliche Probleme anzubieten. Nolte dagegen plädiert für eine ideologische Neuausrichtung der CDU, die mit der Lösung irgendwelcher politischen Aufgaben keinen erkennbaren Zusammenhang aufweist. Er plädiert für eine Neubestimmung des Konservatismus im Sinne einer Annäherung an die ökologische Sensibilität der Menschen, die sich mit zunehmender Offenheit für Religion gut verbindet. Nolte konstatiert, Habermas folgend, wir lebten in einer postsäkularen Welt, in der christliche Werte wieder Relevanz hätten, gerade wenn es darum geht, „Kulturen der Armut und der Abhängigkeit, des Bildungsmangels und der Unselbständigkeit nicht sich selber zu überlassen, sondern sie herauszufordern und aufzubrechen“.

„In Deutschland fehlt der in sich schlüssige Zusammenhang zwischen Politik, Wertvorstellungen, Wirtschaft, Verwaltung, Öffentlichkeit und privatem Handeln, die alle nur noch unaufhaltsam auseinander zu streben scheinen.“

Hier deutet sich eine Vision an, die, dem amerikanischen Vorbild folgend, die so genannte „underclass“ zum Ausgangspunkt nehmen möchte, um dem Konservatismus als Hüter bürgerlicher Leitbilder und sozialer „Inklusion“ ein runderneuertes Profil zu geben. Während von der CDU der Nachkriegsepoche aufgrund ihrer Identifikation mit dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt durchaus progressive Impulse ausgingen, wäre es damit, folgte sie den Vorschlägen Noltes, nun wohl vorbei. Nolte plädiert für einen Konservatismus, dessen Projekt sich offenbar darin erschöpft, die Rolle des Therapeuten in einer auf Stagnation und Desorientierung eingestellten Gesellschaft einzunehmen.
Nicht nur, aber auch in Deutschland ist offenbar etwas abhanden gekommen, das man als „verallgemeinerbare Rationalität“ bezeichnen kann. Es fehlt der in sich schlüssige Zusammenhang zwischen Politik, Wertvorstellungen, Wirtschaft, Verwaltung, Öffentlichkeit und privatem Handeln, die alle nur noch unaufhaltsam auseinander zu streben scheinen. Dass da gegengesteuert werden muss, ist im Kern der Gehalt aller Reformdebatten. Doch wird das Problem in Formen diskutiert, die diese Spirale des Zerfalls eher beschleunigen als bremsen.
Die Gesellschaftskritik ist in einen seltsamen Modus rückblickender Desavouierung der jüngeren Vergangenheit verfallen. Alles, was gewesen ist, steht plötzlich zur Disposition. Kaum ein Stein wird nicht umgedreht, um festzustellen, dass sich hinter bislang doch vertretbar anmutenden sozialen Arrangements krasse Missstände verbergen, die uns offenbar bislang völlig verborgen blieben.

„Eine Art Selbsthass richtet sich offenbar heute gegen alles, was sich westliche Gesellschaften bislang als positive Attribute zugerechnet haben.“

Gabor Steingart kann man zwar grundsätzlich gewiss nicht absprechen, ein positives Bild der Chancen des Wandels zeichnen zu wollen. Trotzdem liefert auch er ein bemerkenswertes Beispiel der aktuellen Neigung zum misanthropischen Blick auf die Nachkriegsära. Der bundesdeutsche Sozialstaat sei bloß eine durch wahltaktisches Kalkül motivierte Massenbeglückungsveranstaltung Konrad Adenauers gewesen, meint er. Das ist für einen Sozialdemokraten ein etwas befremdlicher Befund, auch wenn dahinter offenkundig die Absicht steht, die SPD von ihrem Ruf zu distanzieren, Urheber des inzwischen mit starken Vorbehalten versehenen Sozialstaats zu sein. Doch die rückblickende Annahme, hinter einer wegweisenden Reform, die alten Menschen aller Schichten zum ersten Mal eine Rente bescherte, von der man tatsächlich leben kann, hätten in Wirklichkeit nur zynische Motive gestanden, ist typisch für den aktuellen Modus einer Gesellschaftsbetrachtung, in der Vergangenheit sich dem negativen Bild der Gegenwart entsprechend nur noch trivial darstellen kann.
Eine Art Selbsthass richtet sich offenbar heute gegen alles, was sich westliche Gesellschaften bislang als positive Attribute zugerechnet haben. Das hat nichts mit kritischer Bestandsaufnahme zu tun, sondern entspringt einer Vertrauenskrise, die es offenkundig nicht mehr zulässt, selbst Dingen, die wohl unbestritten als Errungenschaften westlicher Modernisierung gelten dürfen, anders zu begegnen als mit tiefster Skepsis.

Daher ist es folgerichtig, dass der Rückgriff auf Wertvorstellungen, die sich auf konservative Motive des 19. Jahrhunderts berufen, heute gar nicht so abwegig erscheint. Wenn schon der moderne Sozialstaat nur noch als Rechenfehler gilt, wundert es auch nicht mehr, dass konservative Parteien im Fundus ihrer Nachkriegstradition nichts Positives mehr zu erblicken vermögen. Dass heute eher Autoren, die auf ältere Motive des Konservatismus zurückgreifen, pointiert zur aktuellen Krise Stellung beziehen, verdankt sich wohl dieser Entwicklung.
Dabei werden allmählich auch Einrichtungen zur Zielscheibe ätzender Abwertung, die bislang zum Kernbestand des westlichen Werteverständnisses zählten. Wenn der britische Politologe Keith Sutherland in The Party is Over konstatiert, Parteiabgeordnete repräsentierten in Wirklichkeit weder ihre Wähler, noch leisteten sie einen messbaren Beitrag zur vernünftigen Führung der britischen Politik, mag das als polemische Bestandsaufnahme durchgehen. Nur fragt sich, was ihn treibt, deshalb die Abschaffung des Parlamentarismus zu propagieren.
Sutherland plädiert für die Stärkung der Monarchie und die Abschaffung des Unterhauses, das er durch eine „Jury“ aus ausgewählten Repräsentanten der verschiedenen Volksschichten ersetzt sehen möchte – also eine Art Rückkehr zum Ständeparlament aus der Zeit vor Einführung des Wahlrechts. Schließlich seien die britischen Parteien spätestens seit Disraeli ohnehin nur korruptionsanfällige Brüderschaften rhetorisch begabter Demagogen gewesen, so Sutherland. Letztlich habe die Monarchie der Demokratie voraus, dass der Monarch, gerade weil sein Amt ein erbliches ist, sein Land sorgsamer verwalte als von der Wählergunst abhängige und ansonsten mittellose Mandatsträger.
Gewiss will Sutherland provozieren. Doch dass Ansichten, die früher einen Aufschrei der Empörung ausgelöst hätten, in der britischen Presse als bedenkenswerter Beitrag zur Debatte wohlwollende Aufnahme gefunden haben, lässt sich wohl nur als Beleg für das angesprochene konservative Klima werten.

In diesem Umfeld, wo alles, wofür die Moderne einmal stand, trivial, wenn nicht suspekt erscheint, gewinnen auch radikal-konservative Strömungen Zugang zum politischen Mainstream. Der deutschstämmige amerikanische Professor für Volkswirtschaft und Mitglied des in Alabama ansässigen konservativen Ludwig-von-Mises-Institute, Hans-Hermann Hoppe, hat mit Demokratie. Der Gott, der keiner ist nun auch hierzulande eine nicht ganz nachvollziehbare Beachtung gefunden, die sich unter anderem darin dokumentiert, dass das Werk mit dem Geleitwort eines führenden Redakteurs einer angesehenen deutschen Tageszeitung versehen ist.
Mit rechten Zirkeln am Rand der amerikanischen Politik teilt Hoppe die Auffassung, nicht nur Parteien, sondern auch der Staat gehöre auf den Müllhaufen der Geschichte. Er plädiert für eine „elitäre Privatrechtsgesellschaft“, in der autarke lokale Gemeinschaften unter Führung von Personen mit „natürlicher Autorität“ sich selbst verwalten und in der, wer nichts besitzt, auch nichts zu melden hat. Hoppe ist zweifellos von erfrischender Deutlichkeit und propagiert die Gründung „freier Territorien“ für die Umsetzung dieses Projekts mittels Sezession, in denen es selbstredend weder Einwanderer noch sozialstaatliche Systeme gibt.
Sein Pamphlet mag exzentrisch erscheinen, doch in Wirklichkeit besticht eher die Nähe zu vielen inzwischen gängigen Denkfiguren – was wohl auch seine positive Aufnahme erklärt. Hoppes Klage über den Staat als Gebilde, das nur Geld verschlingt, unnötige Kriege führt und die Menschen hindert, „natürlich“ zu leben, liegt der aktuellen Politikskepsis durchaus nicht fern. Hoppe treibt die Überzeugung, die Moderne habe uns nichts Positives zu bieten, zwar auf die Spitze, doch steht er mit dieser Auffassung offenbar keineswegs allein.

Die Neigung, aus der aktuellen Vertrauenskrise westlicher Gesellschaften konservative Rückschlüsse zu ziehen, ist offensichtlich sehr stark. Wie sich unter solchen Gegebenheiten Politik und Bevölkerung wieder in ein produktives Verhältnis bringen ließen – was ja von allen Seiten gewünscht wird –, bleibt ein Rätsel. Auch wenn das Wort Partizipation wohl selten so häufig gebraucht wurde wie heute: Eigentlich hält man vom Bürger nicht mehr viel. Er gilt heute oft entweder als störrischer Besitzstandwahrer, der zu erziehen, oder als schreckhaftes Wesen, das zu schützen und zu therapieren ist. Dieses degradierende Menschenbild korrespondiert mit einer Haltung, die nicht mehr imstande ist, der eigenen Gesellschaft und ihren Leistungen positive Seiten abzugewinnen.
Für die realen Lebenserfahrungen der Menschen ist diese Haltung eher undurchlässig. Sie unterstellt Passivität, Ohnmacht und Schutzbedürftigkeit als menschliche Grundeigenschaften und ist daher prinzipiell unempfänglich für die Kreativität, den Mut und die Risikobereitschaft, die Menschen in Wirklichkeit jeden Tag zeigen.
Derzeit prägt Anbiederung, Geringschätzung, Paternalismus und gelegentliche Furcht die Haltung der Politik gegenüber der Bevölkerung, was verständlicherweise auf der Gegenseite Skepsis, Unverständnis und Verärgerung fördert. Diese unfruchtbare Begegnungsform ist vielleicht der Kern der Blockade, von der zurzeit alle sprechen. Sie aufzuheben hieße, die Begegnung zwischen Politik und Bürgern das werden zu lassen, was sie in einer Demokratie zu sein hat: eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe.

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