01.07.1999

Der Krieg und der moralische Autoritarismus

Von Sabine Reul

Seit der Ostblock vor zehn Jahren zusammenbrach, ist Jugoslawien – aus Gründen, die mit der Region weniger zu tun haben, als viele denken – Brennpunkt des Ringens um die Errichtung einer neuen internationalen Ordnung.

Der seit 1991 anhaltende Krieg auf dem Balkan wurde zum Brennpunkt des Reifungsprozesses der 68er-Generation, die heute in fast allen westlichen Ländern – auch jenen ohne Grüne Minister – maßgebliche Positionen bekleidet. Nach der Enttäuschung ihrer radikalen Erwartungen fand sie Anfang der neunziger Jahre in Jugoslawien eine neue moralische Mission.
Diese Generation war wohl prädestiniert, den Kampf des Guten gegen das Böse zum Grundprinzip der Weltordnung werden zu lassen, weil dies der Beschwerdekultur, über die ihre Sozialkritik nie weit gedieh, entsprach. Mit der Formulierung der Doktrin der Humanitären Intervention erlangten die 68er in einer Zeit großen Bedarfs an neuen Ordnungskonzepten für die Welt nach dem Kalten Krieg politische Definitionsmacht und Autorität. Der Kosovo-Krieg war nun der erste, den sie selbst führten. Was ist das für eine Politik, die sich da so martialisch den Weg bahnt?

In seinem letzten Werk Die blinde Elite. Macht ohne Verantwortung zeichnete der amerikanische Soziologe Christopher Lasch kurz vor seinem Tod 1994 eine bemerkenswerte Beobachtung auf. Er schrieb, es bestehe eine ”wachsende Unfähigkeit, an die Realität zu glauben – entweder an die Realität der inneren Welt oder die der öffentlichen Welt, entweder an einen stabilen Kern der persönlichen Identität oder an die reale Möglichkeit einer Politik, die sich über das Niveau von Platitüden und Propaganda erhebt” (Hoffmann & Campe 1995, S.208). Lasch befaßte sich zwar nicht mit Außenpolitik und erst recht nicht mit den Balkan-Kriegen der neunziger Jahre. Seine Schilderung einer Politik, deren prägendes Merkmal der Verlust ihres Realitätsbezugs zu sein scheint, hat aber angesichts des Krieges gegen Jugoslawien neue Brisanz gewonnen.

Hier wurde ein Krieg geführt, dessen Ziele über Propaganda und Platitüden hinaus nicht ersichtlich waren, der aber nichts Geringeres als die Zerstörung der bestehenden internationalen Ordnung zur Folge hatte – von der Vernichtung Jugoslawiens und der Destabilisierung Südosteuropas ganz abgesehen. Zwischen den angegebenen Interventionszielen, dem tatsächlichen Kriegsverlauf und seinen noch unabsehbaren mittel- und langfristigen Folgen besteht kein erkennbarer intentionaler Zusammenhang – es sei denn, man wäre geneigt, ihn zynisch als semantisch verschleierte Strafexpedition gegen den jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic zu betrachten. Gerade für die europäischen NATO-Partner läßt sich ein Interesse an der Instabilität, die dieser Krieg nicht zuletzt im Verhältnis zwischen West- und Osteuropa nach sich zieht, beim besten Willen nicht feststellen. Der Bombenkrieg gegen Jugoslawien hat weder sein angegebenes Ziel der Verteidigung der Kosovo-Albaner erreicht, noch erkennbaren Stabilitäts- und Sicherheitsinteressen Geltung verschafft – im Gegenteil.

Angesichts der dem Kriegsausbruch vorausgegangenen Serie innenpolitischer Mißerfolge in den ersten vier Monaten ihrer Amtszeit wirkt die moralische Selbstherrlichkeit, mit der die rot-grüne Koalitionsregierung die Intervention gegen Serbien führt, grotesk. Was offenbar als kurzfristiger Militärschlag geplant war, wurde nach seinem Fehlschlag von der Regierung zum Kreuzzug gegen Völkermord und Faschismus stilisiert. Selbst aus der CDU und in ihr nahestehenden Medien wurden daraufhin mahnende Stimmen laut, die Sache doch vielleicht etwas niedriger zu hängen.
Die Moralisierung der Politik ist allerdings das unausweichliche Pendant ihres Realitätsverlusts. In dem Maße, in dem Politik den Bezug zu den realen Problemen verliert, die sie zu lösen beansprucht, aber nicht löst, bietet sich der Rekurs auf Moral als naheliegendes Mittel zur Stützung politischer Führungsansprüche an. Solcherart Berufung auf Moral repräsentiert das Ende der Politik; er ist der Ausbruch aus den Regeln des demokratischen Diskurses. Da hört die Ebene des sachlichen Gesprächs auf, und es beginnt die Manipulation der Empfindungen. Das Feindbild Milosevic rekurriert auf das Empfinden von Abscheu gegenüber Krieg, Vertreibung und Völkermord. Nur, es hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Es ist ein Feindbild, das sich auf Unkenntnis der Öffentlichkeit über die tatsächlichen Ereignisse auf dem Balkan stützt. Durch die ständige Wiederholung erhielt das Feindbild Milosevic schließlich eine Plausibilität, die sich im Laufe der Zeit auch den besten Einwänden hartnäckig widersetzte.

Verteidigungsminister Rudolf Scharping – einst Teilnehmer an Protesten gegen die Stationierung von US-Raketen – fiel im Krieg die Rolle des Chefpropagandisten zu, der diesen Ritus der Selbstvergewisserung zu vollziehen hat. Er tat es mit flammenden, keinerlei Zweifel duldenden Eifer. In den täglichen Bundespressekonferenzen trug der Minister mit steinerner Miene und flackernden Blicks die Kriegsgründe vor: Völkermord, Massaker, Vergewaltigungen, großserbischer Nationalismus, Deutschlands besondere historische Verantwortung, die Verteidigung der westlichen ”Wertegemeinschaft”, vor allem aber und immer wieder Slobodan Milosevic als alleiniger Urheber der Balkankriege.

Hier entstand eine ideologische Phantasiewelt. Den millionenfachen, industriemäßigen Genozid der Nationalsozialisten mit der Gewalt in einem durch internationale Einmischung angeheizten Bürgerkrieg zu vergleichen, spottet selbstredend jeder Urteilskraft. Beklemmend nah kam die Politik hier einem totalen Umschlagen in Irrationalität. Eine Intervention, die zum erbarmungslos geführten Angriffskrieg wird, weil das westliche Bündnis offenbar nicht unterscheiden kann, ob man nun in einer Friedensmission, zur Sicherung nationaler Interessen oder schlicht in einer Strafexpedition unterwegs ist, ist schlimm genug. Sie zu Legitimationszwecken dann auch noch zum antifaschistischen Kreuzzug zu stilisieren, ist Aberwitz.

Aber wer gegen diesen Krieg und seine ideologische Glorifizierung die geringsten sachlichen Einwände erhob, wurde umgehend mit dem Hinweis auf das Schicksal der vertriebenen Kosovaren zum Schweigen gebracht. Daß zu diesem Zweck auch gezielte Desinformation betrieben wurde, war spätestens ersichtlich, als Rudolf Scharping Ende April ein Bild vom 29. Januar als Beweis, schon damals hätten serbische Massaker an Zivilisten stattgefunden, vorlegte, das Experten einhellig und seit langem einem ungeklärten militärischen Zwischenfall zugeordnet hatten. Der Umgang rot-grüner Regierungsvertreter mit jenen, die Kritik oder auch nur verhaltenen Zweifel am Bombenkrieg der NATO äußerten, war nichts Geringeres als die Sabotage der Demokratie. Daß der Fanatismus, der hier zum Einsatz kam, auch die Möglichkeit der Rückkehr zu einem diplomatischen Ausweg aus dem Krieg erschwerte, war so offenkundig, daß schließlich aus den Reihen der Opposition Zweifel am missionarischen Überschwang der Koalitionsregierung laut wurden. Der hessische Ministerpräsident und neue Stern am CDU-Himmel Roland Koch ging so weit, in Deutschlands prominentester Talkshow gegen die ”Rhetorik gegen Herrn Milosevic” Stellung zu beziehen und zu mahnen: ”Wir wollen keinen totalen Krieg und auch keine totale Niederlage” (Sabine Christiansen-Show, ARD 25.4.99). Es spricht zwar nicht viel dafür, daß eine CDU-geführte Regierung die Dinge anders gehandhabt hätte. Unbestreitbar auffällig ist aber, daß eine Regierung, die die Tradition der Friedensbewegung für sich reklamiert, mit Vehemenz einen so brutalen und irrationalen Krieg führte.

Die sogenannte Modernisierung der Politik erweist sich bei näherer Betrachtung als ihre Abkehr von ihrer traditionellen öffentlichen Aufgabe, Konzepte und Argumente vorzutragen, oder für ihr Handeln Rechenschaft abzulegen. Die neue politische Elite neigt statt dessen dazu, die Bürger zum passiven Objekt ihrer Maßgaben und Sprachregelungen zu degradieren. Dieser autoritäre Führungsstil hat auch innenpolitisch verheerende Folgen. Der politische Raum verengt sich auf den kleinen Kreis der Insider. Ihr zwangsläufig beschränkter Erfahrungs- und Interessenshorizont bestimmt, was in der Politik geschieht. Das Ergebnis ist das, was Christopher Lasch sehr treffend als blinde politische Elite beschrieb. Sie ist blind, weil freigesetzt aus dem Zwang, sich ernstlich mit der Außenwelt auseinanderzusetzen. Ihr gegenüber steht eine ebenso blinde Bevölkerung, die dem, was in der Politik geschieht, immer weniger folgen kann oder will, weil ihr der Zugang zu Fakten und Argumenten fehlt, ohne die aktive Teilnahme an der Politik schlicht unmöglich ist.

Die Interventionspolitik der rot-grünen Koalition ist geprägt durch das gleiche Gemisch von Reaktivität, starrer Arroganz und ideologischer Verblendung, das schon in den vorausgegangenen Monaten ihre Regierungsarbeit charakterisierte. Nicht umsonst wurde in dieser Zeit die Vokabel ”nachbessern” in der deutschen Politik zur am meisten verwendeten sprachlichen Mißbildung. Ebenso wie dem Kosovo-Krieg, der auch diplomatischer Nachbesserung bedurfte, ging es jeder anderen Initiative der Bundesregierung.

In jedem Politikbereich lief die Regierungsarbeit nach dem gleichen, etwas ungewohnten Muster ab: Ob ökologische Steuerreform, Ausstieg aus der Atomenergie oder Eindämmung sogenannter geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse – die Regierung legte Gesetzesentwürfe vor, die oft unvernünftig und stets in sich widersprüchlich, schwer durchführbar, in hohem Maße ideologisiert und zwangsläufig prädestiniert waren, den Einspruch der Opposition und betroffener Interessenverbände zu wecken. Und sobald der Einspruch kam – in den meisten Fällen genaugenommen eher verhalten –, verschwanden die Vorlagen zwecks Nachbesserung wieder in den Ministerien und Ausschüssen.
Besonders extrem war der Verlauf im Falle des einzigen durchweg begrüßenswerten Regierungsvorhabens: der Staatsbürgerschaftsreform. Diese Gesetzesvorlage wurde in vorauseilendem Gehorsam der Diktion der erwarteten Gegner aus CDU und CSU angepaßt, ohne daß ihr positiver Zweck zuvor überhaupt der Öffentlichkeit einmal nahegebracht worden wäre. Das Ganze hörte sich daher an, als sei die erleichterte Einbürgerung ein Instrument der Bürgerkriegsprävention statt der rechtlichen Besserstellung von Ausländern. Da die Unionsparteien im Vorfeld der Hessenwahlen trotzdem eine breit angelegte Kampagne gegen diese Reform in Gang setzten, wurde die Vorlage einer noch umfassenderen Revision unterzogen, um die dadurch ausgelöste öffentliche Debatte zu unterbinden.

Man zögert fast, diese Politik zu beschreiben. Denn wie anders soll man sie nennen als selbstherrlich, inkompetent und völlig unberechenbar. Sie ist aber vor allem eines: anti-demokratisch. Es ist schon eine böse Ironie der Geschichte, daß SPD und Grüne – die Parteien der Basis und des Kollektivs – inzwischen einen solchen Abscheu vor politischen Diskussionen an den Tag legen, daß die Unionsparteien vergleichsweise wie ein Hort der demokratischen Meinungsbildung aussehen.

Die Arroganz dieser neuen Elite äußert sich eben nicht nur in dem Wahn, die Erde nach moralischen Schablonen aufteilen und umpflügen zu müssen. Mit der gleichen Überheblichkeit begegnet man der eigenen Bevölkerung. SPD und Grüne haben eine Obrigkeitskultur gegenüber dem Bürger etabliert, von der man hoffte, sie sei längst Vergangenheit. Sie äußerst sich in der herablassenden Annahme, der Bevölkerung keine Rechenschaft schuldig zu sein, wie in dem pedantischen Bestreben – natürlich immer aufgrund sittlich wertvollster Anliegen – möglichst jede Lebenssphäre zu regulieren.

Früher sicherten soziale Milieus mit starken politischen Bindungen ein lebendiges Verhältnis zwischen politischen Repräsentanten und ihrer Anhängerschaft. Ihre Auflösung hat eine politische Obrigkeit entstehen lassen, deren bestechendstes Merkmal ihre Distanz zur Bevölkerung zu sein scheint. Sie ist desinteressiert am Gespräch mit der Wirklichkeit und den Menschen. Sie versteht sich, wie Christopher Lasch treffend formulierte, als ”zivilisierte Minderheit” in einer von Fanatikern und Dummköpfen bewohnten Welt. Sie meint, sie sei berufen, die Welt nach Ermessen zu ordnen, und sie ist unerschütterlich überzeugt davon, immer im Recht zu sein.

Die Isolation dieser politischen Elite macht sie so unberechenbar, weil sie keiner Kontrolle durch reale Bindungen mehr unterliegt. Hinzu kommt, daß ihr – allen moralischen Ansprüchen zum Trotz – jene innere menschliche Integrität zu fehlen scheint, die andere Leute im allgemeinen haben. Das mag daran liegen, daß den Akteuren auf dem wirren Weg der Anpassung und Mutation aus eigener Anschauung das Vertrauen in die Kraft der menschlichen Persönlichkeit abhanden gekommen ist. Es ist in jedem Fall eine reaktive, unberechenbare und im Kern anti-humane Politik, die daraus entstanden ist.

Daher ist die Lage instabil und gefährlich. Im Bombenkrieg gegen Jugoslawien zeigte sich das volle Ausmaß der Destruktivität, zu der diese Politik fähig ist. Dieser Krieg mag ein Extremfall in dem Sinn gewesen sein, daß – hoffentlich – nicht immer Krieg sein wird. Aber die Verantwortungslosigkeit und Irrationalität, die da zum Durchbruch gekommen sind, lassen die Zukunft düster erscheinen.

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