01.01.1999

Der Holocaust als Totschlagargument

Von James Heartfield

James Heartfield über die auch hierzulande grassierende Mode, Leuten durch Anrufung des Holocaust den Mund zu stopfen.

Wer heute Dinge sagt, die nicht der herrschenden Meinung entsprechen, läuft Gefahr, als neonazistischer Leugner des Holocaust abgekanzelt zu werden. Wer beispielsweise die "Safe Sex"-Kampagne der britischen Regierung hinterfragt, handelt sich schnell den Vorwurf ein, zum "Aids-Holocaust" beizutragen. Die Standard-Replik auf jeden kritischen Kommentar zur Verfolgung von Hutu-Flüchtlingen in Ruanda und Zaire lautet, man sei ein Leugner des ruandischen Völkermords. Und wer die Berichterstattung über den Krieg in Bosnien hinterfragt, muss sich darauf gefasst machen, der Revision und Beschönigung der Geschichte serbischer "Konzentrationslager" bezichtigt zu werden.

Der Vorwurf, Auschwitz- oder, allgemeiner gesprochen, Völkermord-Leugner zu sein, ist heute Trumpf in jeder politischen Auseinandersetzung. Einem Gegner dieses Etikett anhaften, hat dieselbe Wirkung, als hätte man ihn mit pornographischen Kinderfotos ertappt: Jeder Zweifel über Recht und Unrecht in der betreffenden Kontroverse ist mit einem Schlag ausgeräumt.

Die Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden durch den NS-Staat ist dabei, zu einem moralischen Totschlagargument gegen jede Abweichung vom herrschenden Konsens zu degenerieren. Hier wird nicht nur die freie Rede untergraben, sondern auch der Holocaust der Bagatellisierung preisgegeben. Als das Wort "Holocaust" zu einem Terminus für das Böse schlechthin wurde, statt ein einzigartiges Geschehen zu bezeichnen, war solcher Missbrauch schon vorprogrammiert. Die Art, in der "Holocaust" inzwischen inflationär zur Beschreibung jeder Art von Gewalt oder Bedrohung herangezogen wird, weist darauf hin, dass die tatsächliche Bedeutung von Hitlers "Endlösung" inzwischen trivial und unkenntlich geworden ist.

Es ist ein Zeichen der begrenzten moralischen Ressourcen unserer Zeit, dass Leute es für nötig befinden, dieses schreckliche Ereignis zu plündern, um ihren eigenen kleinlichen Anliegen gravitas zu verleihen. Wie ein Teenager, der seine Eltern Faschisten schimpft, weil sie darauf bestehen, dass er sein Zimmer aufräumt, trivialisieren diejenigen, die sich heute so gern auf sie berufen, um diverse Süppchen zu kochen, die Ermordung von sechs Millionen Juden. Dieses abscheuliche und historisch einzigartige Verbrechen ist zu einem bloßen moralischen Knüppel verkommen, mit dem Andersdenkende rhetorisch erschlagen werden.

Seit Beginn der neunziger Jahre entdecken kritische Journalisten dauernd neue Genozide an allen Ecken der Erde. Schon im Golfkrieg meinten sie, in Saddam Hussein eine Reinkarnation Adolf Hitlers vor sich zu haben. In Bosnien erschienen ihnen die Serben als Urheber einer Neuauflage des faschistischen Völkermords. In Ruanda, wo ein Krieg zwischen den RPF-Guerillas aus Uganda und der Regierung stattfand, der in einem barbarischen Gewaltausbruch mündete, beeilten sich Journalisten, das Geschehen zu einem schwarz-weißen Konflikt zwischen bösen, mörderischen "Hutu-Extremisten" und deren guten Tutsi-Opfern zu stilisieren.

Jede dieser Holocaust-Wiederentdeckungen führt dazu, aktuelle Ereignisse zu mystifizieren. Die Konflikte in Bosnien oder in Ruanda sind für sich betrachtet schlimm genug. In keiner Weise sind sie jedoch mit dem nationalsozialistischen Völkermord vergleichbar. Das war kein Bürgerkrieg in einem zerbrechenden unterentwickelten Land, sondern die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden durch eine der reichsten, modernsten und angeblich zivilisiertesten Industrienationen. Der deutsche Völkermord war die grauenvolle Kulmination der im Westen damals generell verbreiteten Ideologie und Praxis rassischer Vorherrschaft. Diesen Akt mit den blutigen lokalen Konflikten gleichzusetzen, die in den letzten Jahren auf dem Balkan, in Afrika und im Nahen Osten ausgebrochen sind, heißt, den Holocaust missverstehen und bagatellisieren. Und es heißt gleichzeitig, diese neueren Konflikte unbegreifbar machen. Das Bedürfnis, überall neue Nazis zu entdecken, unterwirft Ereignisse, die sich gegen diese Interpretation sträuben, einem vorgefertigten Schema von Gut und Böse. Dieses Schema schafft Feindbilder, die für Militärinterventionen der heutigen Großmächte gegen relativ schwache, ohnmächtige Gegner eine moralische Rechtfertigung liefern.

In der Bosnien-Berichterstattung wurden und werden komplexe Ereignisse so wiedergegeben, als handele es sich um einen Hollywood-Film. Die Muslime, meint John Keane in seinem Buch Reflections on Violence (1996), sind "die Juden von heute". Laut Ed Vulliamy erstreben die Serben ein "muslimfreies" Bosnien, genau wie Hitler einen "judenfreien" Staat. Diese Schilderung hat mit der Realität in Bosnien nicht das geringste zu tun. Die serbische Bevölkerung Bosniens war gegen die Sezession dieser Republik aus der jugoslawischen Föderation. Der Bürgerkrieg, der auf die Sezessionserklärung durch die bosnisch-muslimische Führung folgte, war zweifellos ein blutiger Konflikt, in dem auf allen Seiten Gräuel begangen wurden. Aber es war kein Völkermord.

Wenn der Bosnienkonflikt als serbischer Holocaust dargestellt wird, so hat dies eine unausweichliche Folge: Es wird unerlässlich, mit den Muslimen gegen die Serben Partei zu ergreifen. Und jede Grausamkeit, die gegen Serben begangen wird – wie in der Krajina – wird totgeschwiegen, weil sie nicht ins Bild paßt. Manchen Journalisten scheint es inzwischen sogar legitim, Tatsachen zu manipulieren, um die vermeintliche "größere Wahrheit", dass in Bosnien in der Person Radovan Karadzics ein Hitler wiederauferstanden sei, glaubhaft zu machen.

Umgekehrt gilt jeder, der die herrschende Weisheit über den Bosnienkonflikt hinterfragt oder gar als Tatsachenbericht aufgemachte Kriegspropaganda als solche bloßstellt, als "Geschichtsrevisionist". Der Journalist Ed Vulliamy hat LM mit dem rechten Historiker und Auschwitzleugner David Irving gleichgesetzt, weil die Zeitschrift die Authentizität der berühmten Fotos ausgemergelter Muslime hinter einem Stacheldrahtzaun in Trnopolje anzuzweifeln wagte. Der Vorwurf der "Holocaust-Revision" dient dazu, jede offene Diskussion über zeitgeschichtliche Ereignisse zu verhindern. Jeder, der die Analogie zwischen Bosnienkonflikt und Holocaust als fragwürdig empfindet, wird kurzerhand als Nazi-Apologet abgestempelt und mit diesem einfachen Kunstgriff kaltgestellt.

Der so fabrizierte Mythos des bosnischen Holocaust bildet die moralische Grundlage für westliche Vorherrschaft auf dem Balkan. Dass westliche Einmischung der Eskalation des Krieges Anfang der neunziger Jahre den Weg bahnte, geriet dabei in Vergessenheit. Anstelle einer sachlichen Aufarbeitung des Bosnienkonflikts trat die Legendenbildung. Dave Chandler meint zurecht, dass der Mythos des Serben-Faschismus heute sogar dazu dient, die Einrichtung einer westlichen Diktatur über ganz Bosnien zu legitimieren.

Der Vorwurf der "Völkermord-Revision" geht heute jedem leicht von den Lippen, der sachlichen Kontroversen ausweichen und die Wahrheit über bestimmte aktuelle Ereignisse nicht zur Kenntnis nehmen will. Seit 1995 haben LM und Novo immer wieder die einseitige und verzerrende Darstellung des ruandischen Bürgerkriegs durch das "UN-Tribunal über den Völkermord in Ruanda" kritisiert. Die Behauptung, Hutu-Extremisten hätten in Ruanda im Jahre 1994 eine systematische Völkermordpolitik betrieben, hat die wirklichen Ursachen und Folgen dieses Konflikts jeder sachlichen Kenntnisnahme entzogen. Wie wir immer wieder hervorgehoben haben, war es schlicht irreführend, den Konflikt in dieser Art in Kästchen mit der Aufschrift "gut" und "böse" einzuordnen, und die Folge dieses Vorgehens konnte nur darin bestehen, ihn noch schlimmer zu machen.

Der Krieg in Ruanda war nicht das Ergebnis ethnischer Spannungen, wie uns immer wieder eingehämmert wurde. Vielmehr weitete sich ein lokaler politischer Konflikt durch externe Einwirkung westlicher Staaten zu einem Blutbad aus. Die Tutsi-geführte Rebellenarmee RPF wurde von den USA aufgerüstet und trainiert, während die alte Hutu-geführte Landesregierung von Belgien und Frankreich unterstützt wurde. Das Vorurteil, hier ereigne sich ein Völkermord, hatte eine Stärkung der moralischen Autorität dieser rivalisierenden Westmächte zur Folge, noch stärker zu intervenieren, wodurch der Konflikt weiter eskalierte.

Auf diese sachliche Darstellung der Dynamik des ruandischen Konflikts reagierten Apologeten der neuen RPF-Regierung Ruandas mit Empörung. Menschenrechtsaktivisten und selbst das Simon Wiesenthal-Institut bezichtigten uns gemeinsam mit der ruandischen Botschaft in London der Leugnung des ruandischen "Völkermords". Aber diese großmundigen Anschuldigungen dienten lediglich der Unterschlagung der Wahrheit, indem sie die Ereignisse in Ruanda – und insbesondere die Rolle westlicher Einmischung im Bürgerkrieg – jeder sachlichen Auseinandersetzung entzogen.

Die Warnungen von LM und Novo, dass die moralisch aufgeheizte Verzerrung der wirklichen Konfliktursachen die ruandische Tragödie nur noch auswegloser machen würde, haben sich in vollem Umfang bewahrheitet. Die Armee der neuen Regierung hat neue Massaker an Hutus in Ruanda begangen. Angeklagte in den ruandischen Völkermordtribunalen haben keinen Zugang zu Anwälten und unterliegen summarischer Justiz. Über 200.000 Flüchtlinge, die aus Angst um ihr Leben Ruanda verlassen haben, verstecken sich immer noch in Zaire. Aber für die selbst ernannten Sachwalter des Holocaust sind die Leiden dieser Menschen und das Unrecht, das ihnen geschieht, ohne Belang. Schließlich handelt es sich laut offizieller Wahrnehmung nicht um Flüchtlinge, sondern um "Hutu-Extremisten", die nur darauf warten, weiter zu morden. Dass dies heute als die angemessene Art gilt, der Opfer des nationalsozialistischen Holocaust zu gedenken, ist – man kann es anders nicht sagen – eine Schande.

 

aus: Novo, Nr.27, März/April 1997, S.30f

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