01.01.2006

Der forsche Konservatismus

Kommentar von Russell Jacoby

Der forsche Konservatismus. Von Russell Jacoby

I
Nichts ist für die Ewigkeit. Wir hatten das lange 19. und das kurze 20. Jahrhundert. Was wird uns das 21. Jahrhundert bringen? Wir wissen es nicht. Aber die alten Probleme und Fragen sind nicht verschwunden, sind nicht gelöst oder beantwortet. „Nun ist es offensichtlich, dass die Form der Regierung die beste ist, in der jedermann, wer immer er sei, am besten handeln und am glücklichsten leben kann“, schrieb vor beinahe 2500 Jahren Aristoteles in seiner Politik. Es ist offensichtlich, dass wir das nicht erreicht haben. In diesem Sinn ist die Politik quicklebendig – Politik als Suche nach der besten Gesellschafts- und Regierungsform.


Diese Suche wird von der Geschichte bestimmt und von dem, „was möglich ist“. Aber wie interpretiert man „das Mögliche“? Möglich/unmöglich sind rhetorische und historische Begriffe. Dem großen Anarchisten Bakunin wird folgendes Zitat zugeschrieben: „Ich werde so lange eine unmögliche Person bleiben, wie diejenigen, die jetzt möglich sind, möglich bleiben.“ Das ist nachvollziehbar. „Das Mögliche“ ist das, von dem man glaubt oder denkt, es sei möglich. Und eben dies verändert sich; es ist historisch. In seinem neuen Buch The End of Poverty behauptet Jeffrey Sachs, die Armut ließe sich abschaffen. Seine Vorstellungen mögen ganz unzutreffend sein, aber darum geht es hier nicht. Sachs glaubt, dass es möglich ist, und zwar schon bald. Wiederum trifft hier „das Mögliche“ auf die Wucht der Geschichte. Wir halten heute sehr wenig für möglich. Vielleicht haben wir das Denken und unsere Vorstellungskraft aufgegeben.


Mein Buch The End of Utopia handelt von den 50er-Jahren, einer sehr aufschlussreichen Zeit. Im Rückblick haben Historiker und andere erklärt, warum die aufmüpfigen 60er-Jahre ihre Wurzeln in diesem Jahrzehnt hatten. Viel wichtiger jedoch ist es zu verstehen, dass zu der Zeit praktisch niemand etwas von der beginnenden Veränderung bemerkte. Was möglich und unmöglich war, veränderte sich innerhalb nur weniger Jahre. Fast über Nacht schlitterten wir von den allgemein (zumindest oberflächlich) als konformistisch und lähmend wahrgenommenen 50er-Jahren in die engagierten, politischen 60er-Jahre. Warum? Wie?


Daniel Bells Klassiker End of Ideology, in dem überzeugend dargelegt wird, die großen politischen Ideologien hätten sich erschöpft, erschien just in dem Moment, als die großen Ideen und Hoffnungen auferstanden. Wir können aus der Geschichte lernen, wie rasch sich manche Dinge ändern, und das, was gestern noch unmöglich schien, heute schon möglich sein kann.


Ideen formen die Politik; sie diktieren sie nicht. Einer der Schwachpunkte der Linken war und ist, dass sie die Rolle von Ideen nie richtig verstanden hat. Konservative sind da viel weiter. Um dieses Thema kreist mein Buch The Last Intellectuals. Im konservativen Denken werden Intellektuelle, beziehungsweise die Vorstellung des unabhängigen Intellektuellen, ernst genommen. Konservative haben mit einigem Erfolg in unterschiedlichen konservativen Think-Tanks Intellektuelle beim Forschen und Schreiben unterstützt und so öffentliche Debatten stark beeinflusst. Entsprechende linke oder liberale Think-Tanks gibt es fast nicht, und wenn, sind sie eng und meist sehr praktisch auf bestimmte Politikfelder ausgerichtet. Ein linker Multimillionär wird im Allgemeinen ein unmittelbar praktisches Projekt unterstützen, zum Beispiel Leseprogramme für Kinder aus armen Verhältnissen oder Repetitorien für gescheiterte Studierende. Diese Ausrichtung ist jedoch möglicherweise kurzsichtig. Ein weit verbreitetes konservatives Buch von Richard M. Weaver heißt Ideas have Consequences. Das müssen wir erst noch lernen.


Das antiutopische Denken hat seine eigene Geschichte. In Picture Imperfect habe ich mich damit auseinander gesetzt. Das antiutopische Ethos findet sich bereits in den Anfängen der modernen Utopien, bei Thomas More, der sich zu einem fanatischen Antiutopisten entwickelte. Karl Popper, Hannah Arendt, Isiah Berlin: Sie alle haben eine historische Gleichung aufgestellt, in der Nationalsozialismus, Kommunismus und Utopien nur Varianten derselben Sache waren (und sie alle hatten, wie Thomas More, eine mehr oder weniger von Utopien geprägte Biografie).


II
Was heute als politisches Engagement gilt, beeindruckt mich wenig. Diskussionen im Internet und Blogs sind schön und gut, aber welchen Effekt hat das? Andererseits waren mir die „paranoiden linken Visionen“ von den homogenen, hegemonialen Medien immer schon verdächtig. Wiederspruch ist möglich, und es gibt ihn. Eine Repolitisierung oder eine künstliche Polarisierung der Lager kann ich gleichfalls nicht erkennen. Viel an dieser „Politisierung“ halte ich für eine optische Täuschung. Der Rückzug der Linken, ihre Verwirrung und ihr fehlendes Selbstvertrauen machen die Konservativen forscher und fordernder. Man muss sich nur die „politisierte“ Debatte um die Evolutionstheorie anschauen. Hier gibt es nichts zu diskutieren, aber die Konservativen haben mit einigem Erfolg ein Thema daraus gemacht – als ob es irgendwelche Gründe dafür gäbe, „Intelligent Design“ zu unterrichten. Ähnlich verhält es sich mit Terri Schiavo. [1] Eine Angelegenheit, die privat hätte bleiben sollen, wurde von Konservativen in einen politischen Zirkus umfunktioniert. Hierher passt auch die Behauptung, in den USA seien die Universitäten Bastionen der Linken, und dass wir Gesetze bräuchten, die Studenten vor solch schädlichen Einflüssen schützen. Einerseits könnte man all das für Polarisierung und Politisierung halten. Andererseits – und ich glaube, das ist der stimmigere Blickwinkel – kann man darin in erster Linie Beispiele für einen forschen Konservatismus sehen.


III
Der Themenkreis öffentlich/privat eröffnet viele Fragen. Gelegentlich frage ich meine Geschichtsstudenten, welche von zwei (fiktiven) Büchern sie lieber lesen würden: John F. Kennedys Außenpolitik oder Ich hatte Sex mit Jackie Kennedy. Die Wahl fällt ihnen nicht schwer. Persönliche und private Dinge haben eine Unmittelbarkeit, mit der öffentliche Angelegenheiten schwer mithalten können. Die Medien fördern diese Neigung noch, und das Fehlen bedeutender, packender politischer Diskussionen tut ein Übriges. Genau solche Diskussionen brauchen wir aber.


Zu Kennedys Zeiten erfuhr man nichts über sein Sexleben. Bei Clinton war das ganz anders. Ist das ein Fortschritt? Jetzt haben wir einen Präsidenten, dessen Privatleben, wahrscheinlich makellos und langweilig ist. Ist seine Politik deswegen besser? Ich habe den Slogan, „das Private ist politisch“ immer schon für unsinnig gehalten. Das Private ist privat. Natürlich ist das Private insofern politisch, als es sich in einem weiteren sozialen und historischen Zusammenhang abspielt; das ist so offensichtlich wie trivial. Aber wieso soll das Privatleben wichtig sein für ein politisches Programm, für eine Wahlentscheidung? Wenn ein Politiker seine Frau, Freundin oder seine Kinder schlägt, ziehen wir bestimmte Schlüsse. Das Problem daran ist, das wir so alles hollywoodisieren: Lifestyle, Tratsch und Insiderinformationen verdrängen die tatsächlichen Themen und Entscheidungen.

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