01.09.2003

Der Fall Möllemann oder Niemals geht man so ganz!

Analyse von Stefan Grüll

Stefan Grüll über das Phänomen Jürgen W. Möllemann, den Flyer und den Abgang eines freien Demokraten.

Es stimmt: Ich habe Jürgen W. Möllemann viel zu verdanken. Mit positiven, allerdings auch mit negativen Vorzeichen. In den nüchternen Kategorien des politischen Betriebes wäre eine ausgeglichene Bilanz zu saldieren. Durch ihn im Mai 2000 mit sensationellen 9,8 Prozent in den Landtag eingezogen. Mit ihm als stellvertretender Fraktionsvorsitzender aufgestiegen. Wegen ihm derzeit von der zweiten in die vorletzte Reihe des Parlaments zurückgetreten. Dennoch habe ich das in jahrelanger vertrauensvoller Zusammenarbeit entstandene Fundament als stärker empfunden als das politisch Trennende. Ich bin daher keineswegs nur unter dem Eindruck seines Todes dankbar, dass es uns schon im Januar 2003 gelungen war, die mehrmonatige Sprachlosigkeit seit der Bundestagswahl zu überwinden.

Jürgen W. Möllemann wird mir in Erinnerung bleiben als ein Mensch voller Humor und Liebe zu seiner Familie, als ein Politiker voller Ideen und Tatendrang. Willensstark und ungeduldig. Nicht selten brach die Wand, wenn er mit dem Kopf hindurch wollte. Zuweilen zu spät Rat suchend, zu selten Rat annehmend. Zu oft wohl war das in den Brunnen gefallene Kind doch noch gerettet worden. Stets einhundertprozentige Loyalität einfordernd, die Partei nicht selten überfordernd. Getäuscht von wenigen „Berlinern“, enttäuscht von einigen „Düsseldorfern“, auf deren politischen Rückhalt er zuletzt vergeblich baute. Nicht ihm war der Boden untern den Füßen weggezogen worden, er alleine hatte sich mit dem Flyer ins politische Aus manövriert. Bis zuletzt blieb er gleichwohl seiner FDP in geradezu irrationaler Zuneigung verbunden.

Sein Tod muss jenseits persönlicher Trauer nachdenklich machen. Der Trennungsprozess im Herbst letzten Jahres war schwer, aber im Interesse politischer Glaubwürdigkeit unvermeidlich. Wer hätte mir/uns beim nächsten Alleingang noch Distanz und Kritik abgenommen, wenn man nach Karsli, Friedmann und Flyer geschwiegen hätte? Dennoch sind angesichts der dramatischen Finalität seines Abgangs selbstkritische Fragen zu stellen. War jede rhetorische Kapriole in der innerparteilichen Auseinandersetzung mit Jürgen Möllemann notwendig? Unbestritten: Wer hart austeilt, muss einstecken können. Aber müssen nicht gerade diese ritualisierten Formen politischen Streits auch jenseits des Komplexes Möllemann überprüft werden?

Der wenige Tage vor der Bundestagswahl verteilte, ohne Abstimmung mit den Gremien produzierte und unter Verstoß gegen das Parteiengesetz finanzierte Flyer machte die politische Trennung von Möllemann notwendig. Nicht, wie es JWM immer wieder versuchte darzustellen, seine Kritik an Israel bedeutete das Ende des gemeinsamen Weges. Seine aus meiner Sicht einseitige Haltung im Nahost-Konflikt war seit Jahrzehnten bekannt. Die Kränkungen und Verletzungen, denen er mit Karsli beginnend die Partei aussetzte, waren der Scheidungsgrund. Der Weg zur 18 – gefeiert von vielen, die sich durch heutige Ämter und Würden gar nicht mehr gerne daran erinnern – war seit Karsli von Schlagzeilen begleitet, die die Parteimitglieder schmerzten und die Seele der FDP verletzten. Dies durch den Flyer wiederzubeleben war unverzeihlich. Ob es uns geschadet hat oder nicht, war, ist und bleibt für die FDP unerheblich. Als Partei, die den Prinzipien der Weltoffenheit, der Toleranz und des Minderheitenschutzes verpflichtet ist, kann es keinen Wahlkampf auf Kosten von Minderheiten geben. Weder der israelische Ministerpräsident Ariel Sharon noch Michel Friedmann sind unsere politischen Wettbewerber im Kampf um parlamentarische Mandate. Ihre Fahndungsfoto-gleiche Abbildung in dem Flyer hätte es nie geben dürfen. Die Partei hat dies mit der gebotenen Deutlichkeit noch vor der Bundestagswahl gesagt. Keiner kann uns vorwerfen, mit Blick auf Wählerstimmen mit dieser zwingenden Klarstellung erst bis nach dem Wahltermin gewartet zu haben. Darauf kann die FDP stolz sein. Der Hinweis auf andere Parteien, die in vergleichbaren Situationen im Interesse der Wahlchancen zunächst „klugerweise“ nur die Faust in der Tasche geballt hätten, spricht gegen diese Parteien, ganz sicher nicht gegen die FDP.

„Warum Möllemann nicht erkannt hat, dass eine solche Auseinandersetzung nicht beherrschbar ist und von der FDP aus guten Gründen nicht mitgetragen werden kann, ist mir bis heute ein Rätsel.“

Gleichwohl bleibe ich dabei, was ich seit Frühsommer 2002 wiederholt öffentlich gesagt habe: Jürgen Möllemann war kein Antisemit, und er war auch nicht undemokratisch. Er war ein freier Demokrat im besten Sinne des Wortes. Sein Verhängnis war, die Partei einer in der Substanz unberechtigten Antisemitismusdiskussion auszusetzen und diese Diskussion nicht nur nicht zu beenden, sondern sie zunächst mit seiner gegenüber dem damaligen Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Michel Friedmann, zurückgenommenen Entschuldigung und später mit dem Flyer noch einmal anzuheizen. Warum Möllemann nicht erkannt hat, dass eine solche Auseinandersetzung nicht beherrschbar ist und von der FDP aus guten Gründen nicht mitgetragen werden kann, ist mir bis heute ein Rätsel. Er, der wie kaum ein Zweiter die Partei kannte und dem mit seiner Wahl zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden im Mai 2001 endlich auch über Nordrhein-Westfalen hinaus das verdiente Maß an Anerkennung und lange vorenthaltene Zuneigung zuteil wurde, hatte die unverrückbaren liberalen Grundkoordinaten aus dem Blick seines Handelns verloren. Ein verhängnisvoller Fehler!

Über die Motive für den Flyer ist viel spekuliert worden. Meine Sicht der Dinge wird mir in den eigenen Reihen nicht nur Applaus einbringen. Es stört mich nicht.

Nicht wenige im Umfeld Jürgen Möllemanns, ganz sicher aber auch darüber hinaus, waren zutiefst besorgt darüber, dass die FDP gleichzeitig mit der Jahrhundertflut im Osten Deutschlands ganz offensichtlich als politischer Faktor aus den Zeitungen und den Fernsehsendungen verschwunden war. Die Kanzlerduelle einschließlich der jeweiligen Vor- und Nachberichterstattung verschärften diese Entwicklung. Und auch beim Thema Krieg oder Frieden hatte die FDP, die mit Namen wie insbesondere natürlich Genscher, aber auch Scheel und Kinkel wie keine zweite Partei in Deutschland auf anerkannte außenpolitische Kompetenz hätte verweisen können, keine öffentliche Präsenz. Statt mit dem Guidomobil in die Hochwassergebiete zu fahren, um es dort zu versteigern und den Erlös den Opfern zur Verfügung zu stellen, umfuhren die Berliner Parteistrategen die Gebiete und gingen doch gerade deswegen unter. Der Versuch, sich mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts in die Kanzlerduelle einzuklagen, scheiterte juristisch und politisch.

Für Jürgen Möllemann gab es in dieser Situation zwei Möglichkeiten. Dienst nach Vorschrift, mit der Option, getragen von dem Unmut eines mageren Abschneidens bei der Bundestagswahl später eine Personaldebatte zu entfachen, oder aber eben, wie geschehen, aus der richtigen Analyse noch vor dem Wahltag Konsequenzen zu ziehen, damit die FDP wieder zu einem Faktor auf der politischen Bühne werde. Sich für die zweite Alternative entschieden zu haben, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Im Gegenteil. Das Instrument aber, mit dem er die FDP bundesweit wieder in die Schlagzeilen brachte, bleibt ein aus den bereits dargelegten Gründen nicht zu entschuldigender Fehlgriff.

Es ist gleichwohl weder begründet noch zielführend, Jürgen Möllemann die Alleinschuld an dem enttäuschenden Wahlausgang zu geben. Aus Fehlern zu lernen setzt voraus, Fehler zu erkennen, zu analysieren und Konsequenzen zu ziehen. Angesichts aktueller Umfragewerte wäre diese Tugend mit Blick auf die Wahlen des kommenden Jahres notwendig, wenn die Partei sich nach einer Phase des euphorischen Aufschwungs zwischen 2000 und 2002 nicht im Mammutwahljahr 2004 wieder auf dem dünnen Eis magerer Wahlergebnisse wiederfinden will, in das wir Mitte der 90er-Jahre schon einmal eingebrochen waren. Während der rot-grünen Koalitionskrise in Nordrhein-Westfalen etwa hat die FDP erschreckenderweise an Zustimmung in der Bevölkerung verloren. Nachdenken ist angesagt!

Spätestens wenn sich die Partei in Vorbereitung der Kommunalwahl im September 2004 bzw. der Landtagswahl im Frühjahr 2005 auf die Suche nach den Themen macht, mit denen wir in einer mit der Kampagne 2000 vergleichbaren Unmittelbarkeit die Menschen für die FDP begeistern können, werden wir uns vieler Initiativen und Ideen Jürgen W. Möllemanns erinnern. Zwangsläufig wird die Partei dann sein über dreißigjähriges Wirken für die FDP differenzierter beurteilen und somit ohne Verklärung das politische Lebenswerk Möllemanns nicht nur auf die Ereignisse des Jahres 2002 reduzieren. Die FDP hat sich durch die von Jürgen W. Möllemann initiierte strategische Neuausrichtung in einer Nachhaltigkeit verändert, die über seinen Tod hinaus fortwirkt. In diesem politischen, insbesondere aber sehr persönlichen Gedenken an meinen ehemaligen Mentor kommt mir ein Lied von Trude Herr in den Sinn: Niemals geht man so ganz!

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