01.07.2000

Der Cyborg als reale Zukunftsvision

Analyse von Frank Prengel

Künstliche Organe werden immer perfekter und bald auch besser als ihre natürlichen Konterfeis. Auch Teile des Gehirns werden in absehbarer Zeit nachbaubar sein.

Spätestens seit Ian Wilmut in seinem schottischen Laboratorium ein Schaf namens Dolly zum wohl bekanntesten seiner Art machte durch die Art und Weise, auf die es seine Existenz in dieser Welt begann – nämlich als Resultat eines Klonierungs-Experiments –, ist die Gentechnik in aller Munde und Gegenstand heftiger Diskussionen. In einer eigenartigen Allianz schließen sich nun die unterschiedlichsten Lager zu einer Art Biokonservatismus zusammen, um die Menschheit vor den Gefahren des Neuen und dem Verlust ihrer ”menschlichen Natur” zu bewahren. Das Prädikat ”natürlich” wird dabei zum entscheidenden Kriterium für alles erhoben, was gut ist – egal, ob es um Ernährung, Heilmethoden oder Empfängnis geht. Dabei wird gern übersehen, dass erstens selbstverständlich nicht alles Natürliche auch gut ist (Küchenschaben, Krebszellen, Schnupfenviren…) und zweitens der Mensch von jeher immer neue Technologien zur Verbesserung seines Körpers benutzt hat. Letzteres hat durch den ungeheuren Wissenszuwachs der vergangenen Jahre eine neue Dimension erreicht. Der Mensch ist in seinem Streben gegen Krankheit, Altern und Tod angetreten, sich selbst umzugestalten. Nicht nur die von Lee M. Silver[1] erwähnten biologischen Grundlagen werden in Frage gestellt – weitere Technologien stehen bereit, das Bild des Menschen für immer zu ändern. Doch werden diese Veränderungen wirklich so schrecklich sein, wie unzählige Horrorszenarien zu diesem Thema weismachen wollen? Wohin wird sich die Gattung Mensch entwickeln? Und was hat der Einzelne davon?

Ersatzteile

Wenn der Körper in bestimmten Funktionen versagt, wurde schon seit Menschengedenken versucht, künstlich Ersatz zu schaffen. Inwieweit dies von Erfolg gekrönt und gesellschaftlich akzeptiert war, hing vom Stand der Technik ab.
Generell lassen sich hier zwei Trends erkennen: Anfänglich oft vehemente Ablehnung wich regelmäßig Akzeptanz und massenhafter Nutzung, sobald eine größere Anzahl erfolgreicher Anwendungen die positiven Auswirkungen auf die individuelle Lebensqualität verdeutlichte. Und anfänglich unvollkommene, umständliche und oft nebenwirkungsreiche Konstruktionen orientierten sich immer mehr an der Natur und wanderten immer mehr ins Körperinnere. Als Beispiele hierfür seien Krücken vs. künstliche Hüftgelenke, externe vs. voll implantierbare Kunstherzen sowie Brillen und Kontaktlinsen vs. künstliche Netzhaut genannt. Die Fortschritte im Tissue Engineering und der Stammzellforschung werden uns in den nächsten Jahrzehnten bei etlichen Organen und Geweben eine Regeneration auf Grundlage von nachgezüchtetem ”Originalmaterial” ermöglichen – sozusagen ”naturidentische” Prothesen.
Doch es ist nicht gesagt, dass in allen Fällen und in alle Zukunft der naturgetreue Ersatz die bevorzugte Option sein wird. So wird zum Beispiel auch an nicht-biologischen Muskeln (aus Polymeren oder Kohlenstoff-Nanoröhrchen) gearbeitet, die durch Nervenimpulse gesteuert werden können und einmal Gliedmaßen oder Teile davon ersetzen sollen [2].
Eine besondere Herausforderung ist die Entwicklung künstlicher Sinnesorgane. Doch auch hier tut sich vieles. Implantierte Hörhilfen sind bereits zehntausendfach im Einsatz. Für schwere Gehörschäden mit nicht mehr intaktem Hörnerv werden derzeit neuartige Neuroprothesen erprobt, die ihre Signale über Elektroden unmittelbar in Nervenzellen des Hirnstamms senden.Noch größer ist die Herausforderung im Bereich der Sehprothesen. Künstliche Netzhäute aus CCD-Chips sollen beispielsweise einmal die Funktion der Retina übernehmen und durch das Auge einfallende Lichteindrücke an den Sehnerv weitergeben. Muss dagegen das komplette Auge ersetzt werden, so kann eine Kombination aus Kamera, Computer und in das Gehirn implantierten Elektroden dessen Funktion übernehmen. Dies wurde kürzlich eindrucksvoll von William Dobelle vom Presbyterian Medical Center demonstriert, dessen Patient ”Jerry” dank eines solchen (noch primitiven) ”künstlichen Auges” wieder Umrisse erkennen und sich orientieren kann [3].Prinzipiell steht die Integration von Elektronik und Nervengewebe – die Basistechnologie für den aus der science fiction bekannten Cyborg – allerdings noch am Anfang.

Verbesserungen

Die Anstrengungen der Prothetik haben zunächst das Ziel, ein Organ so gut wie möglich zu ersetzen. Bei der Wahl der dabei eingesetzten Technologien hat man aber Spielraum und damit die Möglichkeit, dem Ersatzorgan zusätzliche Eigenschaften mitzugeben, die biologisch nicht realisiert worden sind und die somit eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit darstellen. Beispielsweise könnte eine Kamera, die als künstliches Auge dient, einen größeren Spektralbereich erfassen als den mit dem biologischen Auge sichtbaren (Infrarot, UV). Außerdem könnten bequem Informationen, die aus externen Geräten (z.B. tragbaren Computern, sogenannte ”wearables”) stammen, eingeblendet werden. Hörgeräte ließen sich an Ultra- oder Infraschallsensoren koppeln oder mit automatischen Übersetzungsgeräten verbinden. ‘‘Sinnesprothesen bieten also die Chance, unsere Sinne zu verstärken, zu erweitern und Intelligenzleistungen zu integrieren” (oder sollte man besser sagen: auszulagern?). Schreitet die Kopplung zwischen Elektronik und Gehirn weiter voran, so wird auch die Ansteuerung externer Geräte durch Nervenimpulse denkbar. Dadurch rückte der direkte Zugriff auf technologische Informationsspeicher in den Bereich des Möglichen – externe ”Gedächtnisspeicher” und das Wegfallen der Notwendigkeit, Wissen mühsam und unvollkommen auswendig zu lernen, könnten die Folge sein.
Die Entwicklung kann letztlich dazu führen, dass in manchen Bereichen die künstlichen Organe den natürlichen (biologischen) überlegen sein werden. Es ist abzusehen, dass dann Transplantationen nicht mehr allein aus medizinischen Gründen (nach Unfall, Krankheit etc.) durchgeführt werden, sondern weil die Menschen durch künstliche Organe ihre Leistungsfähigkeit (und damit ihr Leben) verbessern wollen.

“Der Cyborg wird in absehbarer Zeit Teil der menschlichen Gesellschaft werden”

Gehirn-Backup

Wenn wir von der Reproduzierbarkeit von Organen reden, ist es natürlich reizvoll, auch jenes Organ mit in Betracht zu ziehen, das uns wie kein anderes vom Tier unterscheidet: Das menschliche Gehirn. Lange Zeit hindurch hielt man dieses höchstorganisierte uns bekannte Stück Materie, das den Sitz unseres Bewusstseins bildet, für grundsätzlich unergründlich und damit für niemals imitier- oder gar nachbaubar. Doch zunehmend müssen wir uns auch an diesen Gedanken gewöhnen. Kognitionswissenschaften und Forschung über neuronale Netze bringen nach und nach Licht in seine Funktionsweise und zeichnen ein Bild des Gehirns als hochkomplexe, aber dennoch deterministische Datenverarbeitungsmaschine.
Haben wir erst einmal die grundlegende Funktionsweise des Gehirns verstanden, so können wir theoretisch irgendwann eine Kopie (der Struktur) des Gehirns aus nicht-biologischem oder auch biologischem Material erzeugen – und schließlich die Prozesse des menschlichen Gehirns in dieser Kopie ablaufen lassen: das Gehirn eines realen Menschen würde somit in einem externen System emuliert. Ein Gedankenexperiment, von dem etwa der Computer-Pionier Ray Kurzweil behauptet, dass es weit schneller Wirklichkeit werden könnte, als man dies gemeinhin zu glauben wagt. Kurzweil prognostiziert auf Basis einer Extrapolation der bisherigen Zunahme der Rechengeschwindigkeit die Möglichkeit von ”brain scans”, d.h. das Auslesen der in einem Gehirn vorhandenen Informationen und Verknüpfungen und die Übertragung dieser auf ein künstliches neuronales Netz ausreichender Komplexität (sogenanntes ”uploading”) [4].. Noch ist völlig unklar, wie ein solches Ablesen konkret erfolgen könnte. Einen Ansatz könnte eine molekulare Nanotechnologie bieten: Milliarden winziger Nanosonden könnten den Scan der Gehirnstruktur quasi ”vor Ort” auf Zellebene vornehmen, worauf dann auf geeigneter ”Hardware” eine Kopie des Bewusstseins erstellt würde.
Einmal auf dieser Stufe angelangt, wird man die künstlichen Gehirne weiterentwickeln können, so dass deren Leistungsfähigkeit bald die des menschlichen Gehirns übertreffen dürfte. Damit wäre der Weg frei zu einer Intelligenzverstärkung, wie sie auf der Basis des biologischen Gehirns niemals erreichbar ist.

Quo vadis, homo sapiens?

Der Mensch beginnt heute damit, seine Evolution in die eigenen Hände zu nehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass er sich freiwillig gegen robuste Gesundheit, ewige Jugend und eine potentiell unbegrenzte Lebensspanne entscheiden wird. Denn ebenso wie Menschen immer bemüht waren, materielle und soziale Restriktionen zu überwinden, werden sie auch biologische Zwänge nicht auf Dauer akzeptieren. Ohne Zweifel sind damit gewaltige soziale Umwälzungen und Probleme verbunden. Um diese erfolgreich zu meistern, braucht es nicht Zukunftsangst und Risikoscheu, die in staatliche oder religiöse Vorschriften, Patentrezepte und Verbote münden, sondern informierte Diskussion aufgeklärter Individuen in einer offenen und liberalen Gesellschaft.

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