01.09.2000

“Der Arbeitsplatz als Ort der Erfüllung”

Kerstin Wilhelm findet, dass heute Angestellte und Unternehmer zu viel persönliches Glück von der Arbeit erwarten.

“Heute muss ein Amerikaner mit mindestens zweijährigem Studium damit rechnen, in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen.” So beschreibt der amerikanische Soziologe Richard Sennet in seinem lesenswerten Buch Der flexible Mensch die Veränderung von Leben und Arbeit im “neuen Kapitalismus” (S.25). Seine zentrale These: Die Kurzfristigkeit und Geschwindigkeit, die unser heutiges Leben bestimmen, erwartet zu viel Flexibilität vom Menschen und steht im Widerspruch zum menschlichen Charakter. Das Individuum wird dadurch verunsichert und verfällt in einen “Drift”: ein zielloses und gleichgültiges Dahintreiben.
Einmal abgesehen von seinen Schlussfolgerungen: Mit der Auffassung, Veränderungen und neue Konfliktpotenziale in der Arbeitswelt seien in erster Linie auf strukturbedingte Veränderungen im Zuge der Globalisierung und Technologisierung zurückzuführen, steht Sennet nicht allein. Auch andere Kommentatoren sehen darin die Ursache für wachsenden Konkurrenzdruck, mehr Stress am Arbeitsplatz oder auch Überforderung (Stichwort Mobbing). Im Folgenden geht es einmal nicht um diese strukturbedingten Veränderungen der Arbeitswelt. Vielmehr wird aufgezeigt, wie die Gesellschaft Arbeit neu definiert und wie sich hierdurch die gesamten Beziehungen am Arbeitsplatz verändern.

 


Arbeit als vermeintlicher Sinnstifter
Arbeit nahm im Leben der Menschen schon immer einen wichtigen Platz ein. Zum einen ist Arbeit ein notwendiger Bestandteil des Lebens, weil wir durch sie Geld verdienen. Zum anderen ist der Arbeitsplatz der Ort, an dem wir wohl die meiste Zeit unseres Lebens verbringen. Und drittens nimmt Arbeit einen wichtigen Stellenwert im Leben der Menschen ein, weil sie ihn fordert, weil sie soziale Anerkennung bringt und das Selbstwertgefühl steigert.

“Der Ort, an dem Menschen ihr Selbstwertgefühl heute am einfachsten und am effektivsten steigern können, ist der Arbeitsplatz.”

An all dem hat sich nichts verändert. Neu ist nur, dass Arbeit für viele – und vor allem für viel mehr Menschen – einen größeren Stellenwert einnimmt als früher. Und das nicht, weil wir durch Überstunden und Wochenendarbeit heute mitunter wieder mehr Zeit auf der Arbeit verbringen. Sondern weil die öffentliche Sphäre der Arbeit im Zuge des Zerfalls gesellschaftlicher und politischer Institutionen wie Familie, Gewerkschaften, Kirche und politischen Parteien eine wesentlich prominentere Stellung für den Einzelnen eingenommen hat. Energien, die früher in die Gewerkschaft, Politik oder Kirche geflossen wären, konzentrieren sich heute auf den einzigen scheinbar noch funktionierenden und greifbaren Bereich des öffentlichen Lebens: die Arbeit. Oder anders gesagt: Der Ort, an dem Menschen ihr Selbstwertgefühl heute am einfachsten und am effektivsten steigern können, ist der Arbeitsplatz. Alle anderen Bereiche haben ihre Wertigkeit vor dem Hintergrund des wachsenden Vakuums an zukunftsweisenden und überzeugenden Perspektiven schrittweise eingebüßt. Kein Wunder also, dass die meisten Menschen heute gerne Verantwortung im Berufsleben tragen und freiwillig bereit sind, einen langen und harten Arbeitstag zu akzeptieren. Der renommierte Managementberater, Reinhard K. Sprenger, erklärte dazu in seinem Bestseller Mythos Motivation: “Trotz einer zunehmenden Freizeitorientierung des Lebens findet die vielfach befürchtete Leistungsverweigerung im Berufsleben offenbar nicht statt. Ganz im Gegenteil: Das Bedürfnis, in der Arbeit etwas zu leisten, was Sinn und Spaß macht, ist größer denn je.” (S.31). Die Konsequenz dieser allgemeinen Aufwertung von Arbeit: Wünsche und Sehnsüchte werden in einem breiteren Maßstab als je zuvor auf die Arbeit projiziert. Von einem notwendigen Mittel zum Zweck und einem Ort, an dem Leistung mit Geld belohnt wird, verwandelt sich der Arbeitsplatz zunehmend in einen Ort, an dem sich der Einzelne selbst verwirklichen will, sowohl beruflich als auch privat. Auch die emotionalen Erwartungen an die Arbeit sind dadurch gestiegen. Umfragen belegen beispielsweise, dass Angestellte verstärkt ihr gesamtes Persönlichkeitspotenzial in ihren Beruf einbringen und als ganze Person angenommen, ernst genommen, einbezogen und anerkannt werden möchten (ebd. S.30).Selbst Zufriedenheit und Glück werden zusehends von Unternehmen erwartet. Und diese richten sich danach: “Immer mehr Unternehmen erkennen, dass glückliche Mitarbeiter eine elementare Grundlage für den Markterfolg sind und handeln dementsprechend. Das soll nicht heißen, dass ohne Swimmingpool, Sauna, Massage, Fünf-Gänge-Menüs und ständigen Zuspruch bald keiner mehr einen Finger krumm macht. Es gilt, wie so oft im Leben, den goldenen Mittelweg zu finden, der beide Seiten zufriedenstellt.”(www.infoquellemanagement/Mitarbeitermotivation).

” Die Erwartungen an die Arbeit sind in den letzten Jahren auch gestiegen, weil von Unternehmen Visionen gefordert werden.”

Bei vielen amerikanischen Unternehmen, so z.B. bei Sun Mircosystems, wurde dieser goldene Mittelweg offensichtlich bereits gefunden. Um die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu steigern, eröffnen die Firmen u.a. eigene Wäschereien, Turnhallen und Sportkliniken, stellen Bürostühle mit eingebauter Massageeinrichtung zur Verfügung und engagieren eigens für die Firma einen Zahnarzt (vgl. Handelsblatt, 30.6.2000).
Aber die Erwartungen an die Arbeit sind in den letzten Jahren auch gestiegen, weil von Unternehmen Visionen gefordert werden. Es scheint, als suchten die Menschen Visionen, die ihnen im Bereich der Politik abhanden gekommen sind, nun bei den Unternehmen. “Der Wunsch nach einem Leben, das für Beruf und Freizeit dieselben Wertorientierungen verbindlich werden lässt, wird für immer mehr (v.a. junge) Menschen zur handlungsleitenden Zielidee. Die Mitarbeiter lassen ihre Einstellungen nicht mehr vor den Toren des Unternehmens”, schreibt Sprenger hierzu (S.38).

 

Das Unternehmen als Visionär und Wertevermittler


Die Neudefinition von Arbeit wird jedoch nicht nur durch Erwartungshaltungen seitens der Angestellten vorangetrieben. Wie an der selbst auferlegten Verantwortung von Unternehmen für das Glück von Mitarbeitern sichtbar wird, leisten Unternehmensführungen dazu einen gewichtigen Beitrag. Um glaubwürdig zu bleiben und neue und effektive Anknüpfungspunkte bei Mitarbeitern zu finden, haben sie sich angepasst. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, sich verstärkt ethische Ziele und Visionen auf die Fahnen zu schreiben, die über den traditionellen Begriff von Arbeit und Wirtschaft hinausgehen. In den Unternehmensphilosophien nehmen solche Ziele häufig bereits den wichtigsten Stellenwert ein.
Was in den USA und in England längst unter dem Begriff “Corporate Responsibility” gehandelt wird und von Meinungsbildern unterdessen als ein notwendiger Bestandteil der Unternehmenspolitik betrachtet wird, setzt sich auch in Deutschland immer mehr durch. Der Chemieriese BASF beispielsweise sieht es als eines seiner zentralen Aufgaben an, Werte zu schaffen:

“Wir leisten durch unsere wirtschaftlichen Aktivitäten sowie durch die gezielte Förderung von humanitären, sozialen und kulturellen Anliegen einen positiven Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung. Wir wollen Werte schaffen, die allen zugute kommen: unseren Kunden, unseren Aktionären, uns als BASF mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Ländern, in denen wir tätig sind.” (www.BASF.de)
Aber Unternehmen wollen heute nicht nur Werte schaffen und Visionen liefern. Sie übernehmen sogar Verantwortung für die Regelung von zwischenmenschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz und passen sich an die gestiegenen emotionalen Erwartungen an das Arbeitsumfeld an. Ford Deutschland hat vor kurzem zur Beilegung von Konflikten eigens eine Abteilung “Führung und Verhalten” eröffnet. “Manche rufen nur an, weil sie sich nicht wohl fühlen. Andere werden gemobbt oder haben massiven Streit mit dem Vorgesetzten”, so der Verantwortliche für die neue Abteilung. Wie stark sich Unternehmen mit der neuen Rolle als Mediator identifizieren, zeigt die Bemerkung eines Kollegen, der es bedauert, dass die Akzeptanz dieser Abteilung derzeit noch mäßig sei. Nur wenige Mitarbeiter wollten den Eindruck erwecken, Konflikte nicht in Eigenregie lösen zu können (FTD, 23.6.2000).
Neben dem Betriebspsychologen treten in großen Unternehmen auch immer häufiger Beauftragte in Sachen sexuelle Diskriminierung und Mobbing am Arbeitsplatz in Erscheinung. Auch werden hierzu verbindliche Richtlinien unterzeichnet. Bei Bayer heißt es beispielsweise:Sexuelle Belästigung ist verboten. Jeder Mitarbeiter hat ein Recht darauf, gegen Belästigungen geschützt zu werden. Es ist nicht entscheidend, ob der belästigende Mitarbeiter oder die belästigende Mitarbeiterin sein bzw. ihr eigenes Verhalten für üblich oder akzeptabel hält oder ob der oder die Betroffene eine Ausweichmöglichkeit hat.” (www.Bayer.de)
Seit 1997 gibt es auch den ersten weltweit einheitlichen und extern zertifizierbaren Standard für soziale Verantwortung, genannt “Social accountability 8000”. Nach diesem können Elemente sozialer Verantwortung bei Unternehmen geprüft werden – dazu gehören u.a. Kinderarbeit, Arbeit unter Zwang, Gesundheit und Sicherheit, Gemeinsame Vertretung, Diskriminierung, Disziplinierung, Arbeitszeiten sowie Vergütung und Managementaufgaben (FTD, 17.5.2000).


Erwartung und Enttäuschung
Das Dilemma mit dem derzeit sich manifestierenden Verständnis von Arbeit ist, dass die Tätigkeit im Betrieb zunehmend mit arbeitsfremden Begriffen überlagert wird und die Unternehmensleitungen diesen Trend beschleunigen. Das eigentlich Kreative und der ursprüngliche Sinn und Zweck von Arbeit – das Arbeiten um der Leistung, des materiellen Erfolgs und des Wachstums willen – gerät dabei in den Hintergrund.
Hinzu kommt, dass zwangsläufig enttäuscht wird, wer an den Arbeitsplatz und das Arbeitsumfeld zu hohe Erwartungen steckt. Schließlich sind Unternehmen keine Visionäre von morgen. Diese Rolle müsste die Politik einnehmen oder andere Vorbilder und Institutionen in der Gesellschaft. Und auch das Ziel der Selbstverwirklichung, verknüpft mit hohen emotionalen Erwartungen an die Beziehungen am Arbeitsplatz, ist zwangsläufig problematisch. Denn trotz gegenteiliger Behauptungen sind die Beziehungen am Arbeitsplatz heute immer seltener von Freundschaft und Teamgeist geprägt.

“Unternehmer sind keine Visionäre von morgen”

.Der Verlust an gemeinsamen Wertvorstellungen und Zielen bewirkt stattdessen eine zunehmende Individuierung des Menschen, auch am Arbeitsplatz. Es gibt weniger Anknüpfungspunkte zu anderen Menschen, die über die unmittelbaren, privaten Vorlieben und die so genannte “Chemie” hinausgehen. Und so verfolgen letztlich alle zusammen, jedoch jeder für sich selbst, letztlich ein Ziel: Die eigene Karriere zu entwickeln und den Lebenslauf ausgestalten. Unrealistisch sind auch zu hohe Erwartungen an das Verhältnis zum Vorgesetzten. Zwar möchte jeder einen Chef, der Mitarbeiter respektiert und fördert. Letztlich wird er sich aber an den Erfordernissen des Unternehmens orientieren müssen, und dies geschieht oft auch zu Ungunsten der Angestellten. Wer also zu hohe Erwartungen an die persönliche Glücksfindung bei der Arbeit steckt, wird daher schnell enttäuscht.
Zweifelsohne ist dieser Umstand ein Grund dafür, dass die Mitarbeiterunzufriedenheit in Firmen, trotz aller Bemühungen der Managementseite, heute so ausgeprägt ist. Die Versuche der Arbeitgeber, diesem Trend entgegenzuwirken, sind letztlich kontraproduktiv, weil sie die Spirale der Erwartungshaltung nach oben schrauben. Die Entfremdung vom eigentlichen Sinn und Zweck der Arbeit nimmt dadurch rapide zu.
Der Mangement-Berater Fredmund Malik erläutert in seinem Buch Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit  zum Thema Mitarbeiterzufriedenheit, Unternehmen seien nicht nur schlicht überfordert, wenn sie Menschen zufrieden und glücklich machen wollten, sie könnten es auch gar nicht. Denn jede Organisation sei “für einen spezifischen Zweck etabliert worden” und sie sei auch nur “auf diesen Zweck hin gestaltet und ausgerichtet”:

“Wer zu hohe Erwartungen an die persönliche Glücksfindung bei der Arbeit steckt, wird schnell enttäuscht”

“Der Zweck eines Industrieunternehmens mag es sein, Autos herzustellen oder Zahnpasta, Bekleidung, Bankdienstleistungen oder Versicherungen zu offerieren… Über den besonderen Zweck hinaus, für den sie etabliert wurden, sind die Organisationen der Gesellschaft bemerkenswert unfähig.” (S.29)Firmen, die tolle Autos produzieren, seien noch lange nicht in der Lage, in anderen Bereichen ebenso zu glänzen. Vielmehr seien sie “auf ihren Gebieten eben deshalb gut, weil sie nichts anderes tun”.Sicherlich stehen wir heute erst am Anfang der Neudefinition der Arbeit. Entsprechende Entwicklungen in den USA und in Großbritannien deuten darauf hin. Doch vielleicht fällt hierzulande dem einen oder anderen Beobachter früher auf, welch gravierendes Problem sich hier anbahnt. Wenn Unternehmen erst einmal mit kurzfristigen Zielen wie ISO-Zertifizierungen, der Formulierung öffentlichkeitswirksamer Unternehmensphilosophien, interner Konfliktschlichtung und emotionaler Betreuung der Mitarbeiter mehr beschäftigt sind als mit der effektiven und langfristigen Planung der Produktion und zugehöriger Investitionen, kann es eng werden um den “Standort Deutschland”.

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