01.09.2003

Denkmalschutz für Aberglaube?

Analyse von Joe Kaplinsky

Der Schutz traditionellen Wissens behindert den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt, argumentiert Joe Kaplinsky.

Der patentrechtliche Schutz geistigen Eigentums wird oft als großes Problem für die Dritte Welt betrachtet. Patente westlicher Pharmakonzerne auf Aids-Medikamente werden dafür verantwortlich gemacht, dass diese nicht billig verfügbar sind. Patente im Agrobereich, insbesondere bei gentechnisch verbessertem Saatgut, gelten als Ursache für die schwierige Situation von Bauern in Entwicklungsländern. Globalisierungsgegner haben das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des Geistigen Eigentums“ (TRIPS) als eine der verwerflichsten Regelungen der Welthandelsorganisation (WTO) ausgemacht. Viele argumentieren, man könne die Schieflage beheben, indem man auch auf traditionelles oder „indigenes“ Wissen Patente erteilt. Doch solche Vorschläge können zur Romantisierung ländlicher Armut und Verhinderung wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklung führen. Sie sind daher schädlicher für die Entwicklungsländer als das internationale Patentrechtssystem.

„Die Probleme mit dem Patentrecht bestehen nicht darin, dass man versäumt, traditionelles Wissen zu schützen, sondern darin, dass der Patentschutz es Entwicklungsländern oft unmöglich macht, Zugang zu High-Tech zu erhalten.“

Kritiker äußern oft die Ansicht, traditionelles Wissen werde durch “Biopiraterie” gestohlen, etwa wenn ein westliches Unternehmen die Verwendung von Pflanzen patentieren lässt, die den Einheimischen wohl bekannt sind. Sie führen die Konvention über biologische Vielfalt gegen TRIPS ins Feld. Laut dem Third World Network (TWN) “ist es eines der Hauptziele der Verabschiedung dieser Konvention, der Biopiraterie entgegenzutreten, während es eine der Folgen von TRIPS war, diese zu ermöglichen”.[1]

Die Probleme mit dem Patentrecht bestehen nicht darin, dass man versäumt, traditionelles Wissen zu schützen, sondern darin, dass der Patentschutz es Entwicklungsländern oft unmöglich macht, Zugang zu High-Tech zu erhalten.

Die britische Regierung hat kürzlich einen Bericht mit dem Titel „Integration von Patentrecht und Entwicklungspolitik“ erstellen lassen, in dem konstatiert wird, dass es heute eine Tendenz gibt, immer mehr Know-how schützen zu lassen. Dies kann dazu führen, dass Technologieentwicklungen in Entwicklungsländern schnell zum Stillstand kommen können, da von vielen Patentinhabern sich überlappender Schutzrechte Lizenzen erteilt werden müssen, wenn auch nur kleine technologische Verbesserungen vorgenommen werden sollen.[2]
Die Intellectual Property Rights Commission stellt fest, dass es einen Interessenkonflikt zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern gibt. Da der Großteil der Patente von westlichen Unternehmen gehalten wird, macht es für Entwicklungsländer keinen Sinn, strengere Schutzbestimmungen einzuführen. Andererseits benötigt eine moderne kapitalistische Wirtschaft genau diesen Schutz geistigen Eigentums. So ist es für jedes Land, das sich entwickeln will, schwierig, die richtige Balance zu finden.

Geistigem Eigentum wird in der Debatte über die „Wissensgesellschaft“ ein sehr hoher Stellenwert beigemessen. Dabei wird oft vergessen, dass, wer ein Patent hat, nur eine Idee besitzt, die umgesetzt werden kann, aber noch kein wirkliches Produkt. Unternehmen, die meinten, ihre Gen-Patente seien Goldminen, merken das allmählich.

Zudem findet eine Fetischisierung von traditionellem Wissen auf Seiten der Gegner des geltenden Patentrechts statt. So wird etwa behautet, das britische Empire basiere auf den Raubzügen von Wissenschaftlern wie Sir Joseph Banks (1743-1820), der mit Captain Cook einst um die Welt reiste und den Königlichen Botanischen Garten in Kew gründete; oder wie Robert Fortune (1812-80), der verschiedene Sorten Tee aus China und Indien mitbrachte, oder Sir Joseph Dalton Hooker (1817-1911), der den Export von Kautschukbäumen von Brasilien nach Ceylon, Singapur und Malaysia organisierte.

Doch der Wohlstand, den Britannien erlangte, ist nicht einfach Diebesgut: Er ist das Ergebnis einer weltweiten Arbeitsteilung, bei der Millionen von Menschen auf Farmen und Plantagen mobilisiert wurden.

Nicolas Gorjestani, „Chief Knowledge Officer“ für Afrika bei der Weltbank, macht einen ähnlichen Fehler, wenn er über indigenes Wissen redet. Für ihn ist dies „ein Schlüsselelement des sozialen Kapitals der Armen, das ihren wichtigsten Aktivposten für eine unabhängige Existenz darstellt“. Er ist der Meinung, neue Formen des Patentschutzes seien notwendig, da die „normalen Kriterien für das Patentieren eines Verfahrens bei indigenem Wissen nicht existieren“.[3]

„Traditionelles Wissen besteht im Wesentlichen aus dem, was man hierzulande Altweiberweisheiten nennt. In der wirtschaftlichen Praxis ist die übertriebene Wertschätzung traditionellen Wissens eine Hemmschwelle für Entwicklungsländer.“

Doch in Wirklichkeit hat traditionelles Wissen für die Wissenschaft – von der Anthropologie einmal abgesehen – keinen Wert, da es im Wesentlichen aus dem besteht, was man hierzulande Altweiberweisheiten nennt. Für die Wirtschaft hat es noch weniger Bedeutung, denn es taugt nicht als Basis für Entwicklung. In der Praxis ist die übertriebene Wertschätzung traditionellen Wissens daher eine Hemmschwelle für Entwicklungsländer.

Ein Beispiel hierfür ist das „Gesetz der vorherigen informierten Zustimmung“, das in Verträgen wie der Konvention über biologische Vielfalt oder dem internationalen Vertrag über genetische Pflanzenressourcen enthalten ist und verlangt, dass, bevor ein auf einer Pflanze oder anderem genetischen Material aus einem Entwicklungsland beruhendes Produkt kommerzialisiert oder auch nur erforscht werden darf, nicht nur die Zustimmung der Regierung, sondern auch die von allen Eingeborenen, die die Pflanze traditionell nutzen oder in der Gegend leben, eingeholt werden muss.

Des Weiteren wird den traditionellen Nutzern ein Vetorecht eingeräumt. Sie können Entwicklungen stoppen, die als der traditionellen Lebensart abträglich verurteilt werden, oder – etwas positiver – sie können einen Anteil an den Gewinnen, die auf Basis der Entwicklungen gemacht werden, bekommen.

Dies hat mit dem Schutz geistigen Eigentums, wie wir ihn aus Industrieländern kennen, wenig zu tun. Patente beruhen auf einem Geschäft zwischen Erfinder und Allgemeinheit. Mit einem Patent erwirbt man exklusives Nutzungsrecht für eine bestimmte Zeit, und muss im Gegenzug seine Erfindung für die Allgemeinheit offen legen. Die zugrunde liegende Idee ist es, dass das Patentsystem den freien Austausch von Wissen befördert, was langfristig zu mehr Innovation und Fortschritt führt als durch die zeitlich begrenzte Exklusivität behindert wird. In der Praxis sieht das natürlich nicht immer so positiv aus. Doch das Grundprinzip ist gut.

Im Falle der „vorherigen informierten Zustimmung“ ist das Monopol dagegen nicht zeitlich begrenzt, sondern immerwährend. Es geht nicht darum, neue Ideen der ganzen Welt zugänglich zu machen, sondern darum, Traditionen zu bewahren, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Verbreitung von Wissen wird eher behindert als befördert.

Im Patentsystem wird ein vorübergehender privater Vorteil gegen Nutzen für die Allgemeinheit getauscht. Wenn man Eingeborenen ein Veto zur Behinderung der Nutzung biologischer Ressourcen einräumt, wird Wissen als Eigentum einer Gruppe reklamiert, und die Menschen werden zudem an ihre traditionelle Rolle gebunden.

„Die Zielsetzung des Patentsystems ist es, den freien Austausch von Wissen zu befördern, was langfristig zu mehr Innovation und Fortschritt führt als durch die zeitlich begrenzte Exklusivität behindert wird. In der Praxis sieht das natürlich nicht immer so positiv aus. Doch das Grundprinzip ist gut.“

Der Schutz traditionellen Wissens behindert so den wissenschaftlichen und damit auch den ökonomischen Fortschritt, sowohl in den Entwicklungs- als auch in den Industrieländern. Zudem schürt die Überhöhung traditionellen Wissens das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und den Motiven der Wissenschaftler.

So arbeitete zum Beispiel Dr. Ricardo Callejas, Professor an der Universität von Antiochia in Kolumbien, an der Klassifizierung der 2000 Arten in der Familie des schwarzen Pfeffers – ein Forschungsprojekt, von dem man annehmen könnte, dass es von jenen, die sich für biologische Vielfalt einsetzen, unterstützt würde. Doch Callejas und seine Studenten wurden als “Biopiraten” beschuldigt, und ihre Forschung wurde eingeschränkt. „Wenn man eine Erlaubnis haben möchte“, berichtete er der New York Times, „muss man Angaben über sämtliche Orte machen, die man besuchen möchte, und Einverständniserklärungen von allen dort lebenden Gemeinden vorlegen. Ansonsten kann man wieder nach Hause gehen und im Discovery Channel das aufregende Programm über Dinosaurier in Argentinien schauen.“[4]

So werden wissenschaftliche Arbeiten verzögert oder verhindert und die Forscher demoralisiert. „Ich habe mittlerweile schon Probleme, gute Bekannte davon zu überzeugen, dass Neugier und der Wunsch, mehr über eine bestimmte Gruppe von Organismen zu erfahren, die Motive meiner Arbeit und meiner Begeisterung sind,“ sagt Callejas.

Alles in allem sind die Vorstöße zum Schutz traditionellen Wissens ein Desaster für die Entwicklung. Wohin so etwas führt, kann man an Projekten wie der Tanga Aids Working Group (TAWG) in Tansania sehen, die durch lokale Netzwerke Unterstützung für Menschen mit Aids anbietet. Das Projekt wurde als Musterbeispiel von der Weltbank, Oxfam und USAID finanziert, weil es „traditionelle Heiler“ und moderne Medizin integriert. Statt moderner Aids-Medikamente werden Patienten mit „traditionellen“ Heilpflanzen behandelt.

Hintergrund dieser Kampagne ist natürlich, dass moderne Aids-Medikamente zu teuer sind. Doch statt dieses Problem anzugehen, wird Geld dafür ausgegeben, dass traditionelle Heiler gleichberechtigt neben ausgebildete Ärzte gestellt werden. Ein Artikel über die TAWG kommt zu dem Schluss, dass vielleicht moderne Medikamente ohnehin nichts wert sind: „Teuere neue Therapien verlieren übrigens mit der Zeit ihre Wirkung. Daher ist es heute genauso sinnvoll, Patienten mit traditionellen Mitteln zu behandeln, wie es dies vor Tausenden von Jahren war.“[5]

Das Problem ist, dass Aids-Medikamente zu teuer sind. Hingegen nutzlose Kräuter, die von verzweifelten Menschen mangels Alternativen genommen werden, als die Lösung zu präsentieren, ist eine sehr betrübliche Folgerung für eine Kampagne, die eigentlich das Beste für Afrika fordern sollte.

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