01.03.1999

“Den Balkan kann man ohne Ivo Andric nicht begreifen”

Interview mit Emir Kusturica

Der Filmemacher Emir Kusturica im Gespräch mit Zarko Radakovic anläßlich der Deutschlandpremiere von "Schwarze Katze, weißer Kater".


Novo: Herr Kusturica, neulich hat der Schriftsteller Peter Handke über Ihren Film “Schwarze Katze, weißer Kater” gesagt, er habe einen sehr schönen Film gesehen, “endlich einen schönen Film unter so vielen pseudoernsten, manierierten Filmen”. Wie sehen Sie Ihren Film heute, nachdem seine Rezeption schon in Gang gekommen ist?

Emir Kusturica: Handke hat das insofern richtig gesagt, als mein Wunsch mit seiner Reaktion identisch ist. Ich hatte das Bedürfnis, einen Film zu machen, der therapeutisch wirken und nicht etwas beschwören sollte, was verloren gegangen ist. Auf keinen Fall wollte ich mit diesem Film die Hoffnungen der Menschen auf ein billiges und stupides Niveau reduzieren, wie es der Hollywoodfilm oft tut. Mich hat die Schönheit alternativer und parallel existierender Welten interessiert. Die Zigeuner in meinem Film überleben wie Insekten, nach dem Prinzip der Selektion aufgrund von Farb- und Formschönheit der Flügel. Ich möchte, daß die Menschen in meinen Filmen ohne Waffen, ohne mittelalterliche Festungen und ohne den ganzen Apparat des Zerstörerischen überleben. Es geht um einen fast naiven Blick auf die Welt, wie zwischen einer schwarzen Katze und einem weißen Kater. Bestimmt wirkt die emotionale Dimension des Films manchmal kitschig. Ich wollte aber, daß dieser Kitsch die Lebenslust der Welt an der Peripherie spürbar macht. Auf keinen Fall ist er manieristisch gemeint.


Woher stammt ihr Interesse an Sinti und Roma?

Ich habe immer nach den ethnischen Fundamenten meiner schöpferischen Arbeit gesucht. Die moderne Welt wird durch die elektronischen Medien immer inhumaner. Ich wollte mich davon distanzieren. Ich habe mich deshalb in die Zigeunerwelt versetzt, in der ich Menschlichkeit und Verbindlichkeit fand.


Sie haben auch in Amerika gearbeitet, an der Quelle des modernen Genrefilms. Ist der Film “Schwarze Katze, weißer Kater” ein Anti-Genrefilm?

Genre kann Betrug sein. Wir sind von Lügen umgeben. Mein Film “Underground” beschäftigt sich mit dem Problem des allgemeinen Betrugs. Gerade die Kosovokrise zeigt, daß Geschichte trügerisch sein kann. Die historische Wahrheit ist nicht zu erkennen. Mein Werk ist kein Genrefilm nach dem Diktat des amerikanischen Films. Das Genre ist älter als der amerikanische Film. Ich möchte nicht, daß mein Film nur die Dummheit der Menschen bestätigt. Ein guter Genrefilm muß die Fähigkeit für das vielseitige Erleben der Welt schärfen. Sonst hört das Genre auf. Dummheit kann nicht mehr Genre heißen. Manchmal denke ich, daß das Kino sich sehr negativ entwickelt. Mein Film “Schwarze Katze, weißer Kater” ist insofern ein Anti-Genrefilm, als er die Seele des Menschen erwärmen will. Einige amerikanische zeitgenössische Genrefilme wirken eisig. Übrigens erschöpft sich der amerikanische Film nicht in dem, was aus Hollywood kommt. In Amerika gibt es einen Zwischenraum, in dem man produktiv sein kann. Ich sehe mich selbst in diesem Zwischenraum.


Was erwarten Sie von der deutschen Rezeption Ihres neuen Films?

Ich denke, der Film wird dem deutschen Publikum und der Kritik gut gefallen. Mein Film bietet Wärme an. Auch in Deutschland spürt man den allgemeinen Wärmemangel. Obwohl die deutsche Kritik streng ist, erwarte ich positive Reaktionen.


Sind Kritiker heute manchmal nicht allzu moralisierend? Ein zeitgenössischer Kritiker wirkt dann als “ethischer Cleaner”, der kein Gefühl für das kunstspezifische Spielerische zeigt.

In meinem Fall spielte Kritik immer eine wichtige Rolle. Ich war immer ein Liebling der Kritik und der Jurys von Cannes, Venedig, Berlin. In der Filmästhetik schlagen meine Filme eine Brücke zwischen Tradition und Moderne. Ich denke aber, daß der Zuschauer bei diesem, wie bei meinen zukünftigen Filmen - unter der Bedingung, daß ich keinen schlechten Film drehe -, auch ohne Kritik gleich erkennen wird, daß es sich nicht um ein Werk der TV-Ästhetik handelt, was neunzig Prozent aller Filme heute sind. Kritik ist sehr wichtig, um dem Publikum Kriterien zu vermitteln. Der Kritiker hat es aber selbst nicht leicht, da heute TV-Ästhetik sowohl in der Filmproduktion als auch in der Rezeption herrscht. Für die Filmkunst sind es heute ungünstige Zeiten. Ich möchte als Vermittler zwischen Altem und Neuem fungieren. Ich kämpfe um das Überleben dessen, was die Filmklassiker gemacht haben. Meine Stoffe, die sich auf den Balkan beschränken, sollen lustig und tragisch, vital und impulsiv wirken.


Ihre Filme wurden von einem Teil der Kritik negativ beurteilt.

Ich war einmal sehr niedergeschlagen. Das war nach dem Film “Underground”. Ich konnte nicht fassen, daß man diesen Film, der sich gegen jegliche Propaganda richtete, als propagandistisch bezeichnete. Ich fühlte mich im Kreuzfeuer einiger Kritiker, die damals alles in meinem Film moralisierend bewertet haben. Ich verstehe, daß es auch für die Kritik nicht leicht ist, alles zu durchdringen, weil wir in schwierigen Zeiten leben. Unser Leben ist fast virtuell. Man weiß nicht mehr genau, was Realität und was Fiktion ist.


Wie vermeidet es ein Künstler, mit seiner Arbeit auf negative Reaktionen zu reagieren, im Film selbst böse zu werden?

Wenn man sich seiner Arbeit konsequent widmet, dann kommen Ablenkungen nicht in Frage. Ein Künstler, der sich selber treu ist, kann nicht so leicht Provokationen erliegen und plötzlich nach dem Register des Bösen suchen. Ich denke, daß ich weit entfernt von diesen alltäglichen hysterischen politischen Spielereien bin. Für mich sind Werte tiefer in der menschlichen Natur verankert, in der Erziehung, in der eigenen Geschichte - in der Kindheit, die eine Quelle dessen ist, was sich später entwickeln wird. Ich bin kein böser Mensch. Ich bin auch kein Handwerker, der seine Kunst dem Teufel verkauft.


Sie leben im Ausland. Wie bewahren Sie Ihre Identität?

Ich glaube immer meinen Gefühlen. Ich kann sie auch kontrollieren. Ich stehe aber immer hinter meinen Emotionen. Ich denke manchmal, daß man heute in einer Welt des Verlustes von Gefühlen lebt. Emotionen werden durch Aggressivität und Neurosen ersetzt. Mein künstlerisches Programm ist es, mit Gefühlen zu arbeiten.


Haben Sie je gedacht, daß Sie solch eine gewalttätige Entwicklung auf dem Balkan erleben könnten?

Nein! Nie habe ich eine solche blutige Entwicklung erwartet! Dazu ist es gekommen, so denke ich jetzt, weil alle Prozesse auf dem Balkan begonnen, aber nicht beendet wurden. Sie wurden immer wieder abgewürgt und unterbunden. Selbst die Existenz als Nation konnte zeitlich und räumlich nie vollständig ausgelebt werden. Diese plötzlich unterbrochenen Prozesse wurden dann unvermittelt und gewalttätig fortgesetzt. Viele vergessen heute allzu leicht die Fehler des alten Regimes. Die heutigen Verbrechen stammen direkt aus den Zeiten des Titoismus. Ich hatte nie eine Ahnung von dem Betrug, der während der Zeit Titos so raffiniert ausgeführt wurde.


Gibt es für Sie eine Leitfigur in der Geschichte des Balkans, mit der Sie sich verwandt fühlen?

Ja, der Schriftsteller Ivo Andric. Obwohl wir ganz unterschiedlich sind - während Andric ein epischer Chronist ist, bin ich ein lyrischer Erzähler -, sind wir doch sehr verwandt. Ich versuche, die Ereignisse auf dem Balkan aus dem Opus dieses großen Schriftstellers zu verstehen. Den Balkan kann man heute ohne Andric nicht begreifen. Andric ist jemand, der die Geschichte und den philosophischen Kontext des Balkans nicht in ein Trugbild verzerrt. Er war ein weiser Mensch, dazu südslawisch international: ein Kroate, der in Bosnien aufwuchs und in Belgrad lebte. Nur mit einer solchen internationalen Identität kann man heute die Realitäten auf dem Balkan verstehen. Man braucht einen wandernden Blickpunkt. Man muß selber eine Parallaxe sein, um die Welt auf dem Balkan wirklich wahrzunehmen.


Vielen Dank für das Gespräch

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