01.09.2003

Das Subjekt: Ein Trauerfall?

Essay von Hanko Uphoff

Die Kraft der Vernunft wird heute von verschiedenen Seiten in Zweifel gezogen. Doch eine in Anerkenntnis ihrer Grenzen redliche Vernunft gibt dem Menschen immer noch die geeignetsten Mittel zur Lösung praktischer Probleme an die Hand.

Lebt der Mensch je schon in der Welt, die er verdient? Ober ist der Mensch Urheber der Welt nach seiner Vorstellung? Unterliegen technische Umwälzungen der Verantwortung des Menschen als deren Betreiber? Oder waren Innovationen in Informations- und Biotechnologie durch den zuvor bestehenden Wissensstand derart nahe gelegt, dass der Mensch als Anhängsel der Sachlogik nur das objektiv Mögliche verwirklichte? Wird eine vermeintliche Ohnmacht des Einzelnen gegenüber gesamtgesellschaftlichen Prozessen zu Recht zum Prinzip erhoben oder nicht?

Fragen dieser Art berühren die nicht abgeschlossene philosophische Diskussion um den Tod des Subjekts. Das vom Geist der Aufklärung geprägte Denken der rationalistisch-idealistischen Subjektphilosophie verwies den vernünftigen Menschen auf die Verantwortung für die Gestaltung seiner Welt. So galt für den von diesem Denken geprägten Immanuel Kant (1724-1804), dass das „Ich denke“ alle seine Vorstellungen begleiten können müsse. Das Subjekt, d.h. der vernünftige Mensch, stellte sich so ins Zentrum der Welt. Dieses Denken legitimierte den Glauben an einen durch Verstandestätigkeit prinzipiell begünstigten Fortschritt sowie die Möglichkeit, überkommene Vorstellungen bezüglich gesellschaftlicher Organisationsformen zu überwinden. Tatsächlich vollzogen sich in diesem Geist erhebliche naturwissenschaftliche und technische Fortschritte sowie weit reichende Demokratisierungsprozesse – nicht nur in Europa.

Unter dem Eindruck zweier Weltkriege und des Faschismus kamen im europäischen Denken des 20. Jahrhunderts jedoch Zweifel an der Macht der Vernunft auf, die sich in verschiedenen theoretischen Konzeptionen niederschlugen. Verfahrensrationalität sowie die Sachlichkeit und Rollendistanz eines Bruders Eichmann eigneten sich ebenso zum Betrieb von Konzentrationslagern. Diese Erfahrung führte zu Zweifeln an der mit dem Vernunftsubjekt assoziierten Erfolgsgarantie zweckrationalen Vorgehens. Unter der Macht dieses Eindrucks stehend, kam das Vernunftsubjekt als letzter Bezugspunkt philosophischer Systeme nicht mehr in Betracht. Wenn also verschiedene Theoretiker die Rolle des Subjekts herunterspielen und in den Hintergrund stellen, sind positive Intentionen zuzugestehen. Die Konzepte, die den Menschen in seiner Mächtigkeit legitimierten, schienen ja die Katastrophen begünstigt zu haben. Diese Überlegungen sind berechtigt, und die Vernunft macht tatsächlich nicht den ganzen Menschen aus. Jedoch hat der Mensch in ihr einen ihm wesenseigenen Zugang zur Welt, und die Theorien, die das Subjekt aus der Rechnung herauskürzen, tragen dazu bei, die Bezugnahme auf das für die Bewältigung praktischer, technischer und theoretischer Problemlagen geeignetste menschliche Mittel, die Vernunft, zu diskreditieren. Ist es denn sicher, dass für das Vernunftsubjekt der Philosophie kein Platz in der Welt ist? Ich sage: Eine redliche Vernunft kann sich zwar nicht mehr verabsolutieren, doch kann sie ihren Geltungsanspruch weiterhin mit gutem Gewissen behaupten. Beleuchten wir einige Aspekte der Diskussion.

Einer der bekanntesten deutschen Subjektbeseitiger war der Soziologe Niklas Luhmann. Das naturwissenschaftliche Axiom, subjektive Faktoren seien in der Analyse grundsätzlich zu vernachlässigen, wurde von ihm unkritisch auf den Bereich der Sozialwissenschaften übertragen, und entsprechend hat seine Theorie „keine Verwendung für den Subjektbegriff“. Die Menschen – von Luhmann als psychische Systeme bezeichnet – erscheinen nur noch als Anhängsel sozialer Systeme. Die Gesellschaft erzeugt somit den Menschen, und der Mensch wird als unfähig zu wesentlicher Einflussnahme betrachtet. Der Verzicht auf subjektive Faktoren ist jedoch nur bei bestimmten Formen naturwissenschaftlicher Vorgehensweisen gerechtfertigt. Entsprechend wird Subjektivität bereits im Bereich biologischer Verhaltensforschung nicht geleugnet. Dass im Verhalten von Menschenaffen subjektive Faktoren wirken, ist offensichtlich. Hier wird das Leben selbst in seinen Erscheinungen untersucht. Und auch wir Menschen leben. Luhmanns Übertragung des ohnehin nur eingeschränkt geltenden naturwissenschaftlichen Axioms auf die soziale Welt ist daher nicht zu rechtfertigen. Luhmann macht den Tod des Subjekts nicht plausibel.

Die französischen Subjektbeseitiger sind überwiegend dem so genannten Poststrukturalismus zuzurechnen und berufen sich unter anderem auf Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger. Nietzsche hatte dem Unbewussten großen Raum zugestanden und schränkte so die Kraft der Vernunft stark ein. Das Unbewusste – mit dessen Thematisierung er Gedanken Freuds vorwegnahm – wird bei ihm unter den Begriffen Leib und Wille behandelt. Die Vernunft erkennt sich somit von unten her als durch den Leib begrenzt. Interpretationen, die das Vernunftsubjekt vollständig entmachtet sehen wollen, vergessen jedoch, dass die Vernunft nicht nur etwas ist, das der Leib am Kopf hat. Vielmehr bringt die Vernunft ihre Intentionen auch leiblich vermittelt zum Ausdruck, d.h. der Leib ist auch Ausdrucksmittel der Vernunft.

Martin Heidegger relativiert das Vernunftsubjekt durch den Hinweis, dass der Mensch immer schon in einer sprachlich erschlossenen Welt lebt, er aber die Sprache nicht erfunden hat. In diese Richtung argumentierend schreibt der französische Poststrukturalist und Philosoph Michel Foucault: „Wie kann er [der Mensch] das Subjekt einer Sprache sein, die seit Jahrtausenden ohne ihn gebildet worden ist, deren System ihm entgeht, deren Bedeutung in einem fast unüberwindlichen Schlaf in den Wörtern ruht, die er einen Augenblick durch seinen Diskurs aufblitzen lässt und innerhalb deren er von Anfang an sein Sprechen und sein Denken platzieren muss, als täten sie nichts anderes, als für einige Zeit ein Segment auf diesem Raster unzähliger Möglichkeiten zu beleben?“ In ähnlicher Weise erklärt auch Jacques Derrida das Subjekt bzw. Subjektivität zum Anhängsel der Sprache.

Der Eindruck der Machtlosigkeit des Vernunftsubjekts entsteht hier durch die Vorstellung, dass die sprachlichen Bedeutungen in Ewigkeit feststehen. Tatsächlich erhalten sie aber ihren konkreten Sinn in den Sprechhandlungen konkreter Menschen in konkreten Situationen, womit auch die vermeintlich feststehenden Begriffe einem Bedeutungswandel durch die Intentionen des Menschen unterworfen sind. Das bedeutet: Es ist zwar richtig, dass kein Subjekt die Sprache erfunden hat, aber dennoch ist die Sprache für die Vernunft gleichzeitig Mittel des Ausdrucks. Der Tod des Vernunftsubjekts ist somit nicht ableitbar.

Auch dem Marxismus ist sein historisches Subjekt, die Arbeiterklasse, abhanden gekommen. Vom historischen Subjekt könne erst wieder die Rede sein, wenn Möglichkeiten gefunden sind, die inzwischen entstandene Polykontextualität, d.h. den Umstand, dass in hochentwickelten Gesellschaften verschiedene soziale Milieus bestehen, sinnvoll in das eigene Gedankensystem zu integrieren. Das Problem des Marxismus mit dem Subjektbegriff ist gegenüber den vorstehenden Überlegungen anders gelagert. Hier liegt die Vorstellung eines Kollektivs mit gleichen Interessen zugrunde. Dieses ist das Subjekt, das beansprucht, die Welt als sein Objekt nach seinem Willen formen zu können.

Die Versuche, Gesellschaft durch die Annahme von z.B. Milieus zu begreifen, können besagte Polykontextualität und das Phänomen zunehmender horizontaler und vertikaler sozialer Mobilität besser berücksichtigen und setzen das Klassenmodell unter Druck. Die Rede von dem historischen Subjekt des einen historischen Objekts erscheint somit problematisch. Der Marxismus scheint in der besonderen historischen Situation verhaftet zu sein, der er entstammt – der durch die Industrialisierung bedingten sozialen Frage. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten, die inzwischen veränderte soziale Situation mit dem verfügbaren begrifflichen Instrumentarium angemessen anzusprechen. Dass der hier konzipierte Subjektbegriff nur begrenzt erklärungskräftig und richtungsweisend ist, bedeutet jedoch noch nicht den Tod des Subjekts überhaupt.

Es wurde umrissen, durch welche theoretischen Argumente das Vernunftsubjekt unter Rechtfertigungsdruck geraten ist. Der Tod des Subjekts ergibt sich dennoch nicht zwingend. Doch, wenn es lebt: wo? Die Begrenzung des Geltungsbereichs des rationalistischen Subjektbegriffs nach oben durch die Sprache und nach unten durch den Leib muss berücksichtigt werden. Und doch soll Raum für die Vernunft bleiben. Gehen wir davon aus, es gebe verschiedene Wirklichkeitsbereiche, denen jeweils besondere Einstellungen zugrunde liegen. Gehen wir weiter davon aus, es gebe eine Kernwirklichkeit: die Alltagswelt. Im Alltag stehen Menschen unter Handlungsdruck. Um Entscheidungen zu treffen, hat man nicht ewig Zeit. Man handelt nach bestem Wissen und Gewissen, aber es kann sich im Nachhinein herausstellen, dass das Vorgehen falsch war. Es können Widersprüche auftauchen. Es können sich Fragen nach dem Sinn stellen, die auf die Schnelle nicht zu beantworten sind. Es kann der Eindruck entstehen, es gebe Dinge, die sprachlich nicht erfassbar sind. Das sind Grenzen, an denen aus der Kernwirklichkeit des Alltags andere Wirklichkeitsbereiche – wie beispielsweise Wissenschaft, Religion und Kunst – „herauswachsen“. In diesem Zusammenhang ist der Wirklichkeitsbereich Wissenschaft von besonderem Interesse. Ihm liegt die so genannte theoretische Einstellung zugrunde.

In der theoretischen Einstellung werden widerspruchsfreie und kohärente Wissenssysteme als Ergebnis angestrebt. Widerspruchsfreiheit und Kohärenz sind die Prämissen, die angenommen werden müssen, wenn wissenschaftlicher Betrieb einen Sinn haben soll. Hier kann das Vernunftsubjekt verortet werden, das von verschiedenen Seiten so sehr in Zweifel gezogen wurde. In der Anerkenntnis, dass sie als Perspektive unter Perspektiven ihren Gesichtspunkten folgt, hat die so verortete Vernunft jedoch dazugelernt. Sie weiß, dass sie eine mögliche menschliche Einstellung ist, die Bestimmtes leisten kann. Sie weiß, dass sie sich nicht verabsolutieren kann, d.h. sie weiß um ihre Grenzen. Sie weiß, dass nicht alles, was sie erklärt, selbst wesentlich Vernunft ist (z.B. Kunst). Aber das hindert sie nicht, die Welt unter Vernunftgesichtspunkten zu betrachten und dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Noch indem die Vernunft ihre eigene Begrenztheit und Bedingtheit erfasst, erkennt sie das zu gültiger Welterkenntnis fähige Subjekt prinzipiell an, denn rationale Argumentation wird als gültiges Mittel der Darstellung der Ergebnisse akzeptiert. Somit lässt sich sagen, die Subjektbeseitiger denken sich selbst in der Darstellung ihrer Theorie nicht mit. Bei aller rational-intellektualistischen Geistestätigkeit ist das Vernunftsubjekt implizit vorausgesetzt.

Die Vernunft leistet in theoretischer Einstellung potenziell die systematische Erkenntnis aller anderen Wirklichkeitsbereiche, und sie ist in der Behauptung ihres Geltungsanspruchs nach wie vor legitimiert. Sie schafft potenziell Klarheit. Obwohl sie nicht alles leistet und ist, kann sie doch genau dieses leisten. Die Rede vom Tod des Subjekts ist dahingehend absurd, als das von den Regeln der Vernunft angeleitete Subjekt sich diesen Regeln folgend selbst vorschnell aus der eigenen Rechnung herauskürzen will. Bezüglich der eingangs gestellten Fragen, ja bezüglich wirtschaftlicher, sozialer und politischer Fragen überhaupt, bedeutet das: im Sinne eines Grundsatzes müssen wir uns ihnen gegenüber als Subjekt verstehen, wenn die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Problemen überhaupt einen Sinn haben soll.

Reflektiert die These vom Tod des Subjekts bis zu einem gewissen Grad Verunsicherungen durch Ereignisse wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg, den Zusammenbruch des Ostblocks und mit letzterem einhergehend die Aufweichung alter Positionen von links und rechts, so ist die These doch theoretisch nicht plausibel zu machen. Das heißt, das Subjekt ist nicht tot. Und es wird gebraucht. Zur Lösung drängender und aktueller sozialer Probleme wie Arbeitslosigkeit und Altersversorgung ist ein selbstbewusstes Denken Voraussetzung, das sich auch bezüglich ausgefallenerer Konzepte nicht von vornherein auf mangelnde politische Durchsetzbarkeit beruft. Auch heute wird die Überwindung eventuell überkommener Vorstellungen ohne vernünftige Subjekte nicht gelingen.

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