01.03.2002

Das multi-ethnische Experiment im Kosovo

Analyse von Jon Holbrook

Der Westen redet sein "Werk" im Kosovo schön, sagt Jon Holbrook. Auch von außen organisierte Wahlen ändern nichts daran, dass die Aussichten düster sind.

Als die Bevölkerung des Kosovo am 17. November 2001 zum ersten Mal, seit die serbischen Truppen 1999 aus der Region vertrieben worden waren, ihr Parlament wählen durften, lobte NATO-Generalsekretär Lord Robertson dieses Ereignis übereilt als „einen bemerkenswerten Schritt in Richtung Normalität, der allen Gruppen im Kosovo die Chance bietet, eine wahrhaft demokratische, multiethnische und prosperierende Gesellschaft zu entwickeln.“ Aber war dies tatsächlich so?

Wenn man einige Fakten herausgreift, kann man die Wahlen tatsächlich in ein gutes Licht rücken: 46 Prozent der Serben gingen an die Wahlurnen, während sie die letzten Kommunalwahlen vor einem Jahr noch fast geschlossen boykottierten. Es gab keine Berichte über bedeutsame Unregelmäßigkeiten oder Einschüchterungsversuche am Wahltag. Und – aus Sicht der internationalen Gemeinschaft am erfreulichsten: Die moderate Demokratische Liga Kosovo (LDK) gewann mit 46 Prozent mehr Stimmen als der Anführer der ehemaligen Kosovo Befreiungsarmee (UCK) Hashim Thaci. Er erhielt nur 26 Prozent. Doch solche Statistiken reichen nicht als glaubhafter Beleg für die Behauptung, es habe sich um freie und demokratische Wahlen gehandelt.

Das 120 Mitglieder zählende Kosovo-Parlament ist verantwortlich für Gesundheit, Soziales, Bildung und Sport. Das neue Grundsatzdokument für die provisorische Selbstbestimmung des Kosovo macht allerdings die Verantwortlichkeiten des Parlaments zum Gegenstand der weitreichenden Kompetenzen des UN-Sondergesandten Hans Haekkerup. Ihm steht es zu, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen, den Haushalt zu bestimmen, die Polizei und Justiz zu kontrollieren sowie die auswärtigen Angelegenheiten zu managen. 

Die Regierungsgewalt im Kosovo verbleibt bei der internationalen Gemeinschaft, und das Kosovo-Parlament hat soviel Rechte wie ein deutscher Gemeinderat.

Robertson sprach auch davon, dass die Wahlen die Grundlage zur Begründung einer „prosperierenden Gesellschaft“ bildeten. Es gibt zwar – oberflächlich betrachtet – Hinweise für eine wirtschaftliche Erholung, etwa einen bescheidenen Bauboom, im Zuge dessen ein Teil der Gebäude und der Infrastruktur, die während der NATO-Bombardierung zerstört worden waren, wieder aufgebaut wurden. Doch wie der BBC-Korrespondent Paul Anderson kürzlich ausführte, ist dieser Boom nur ein scheinbarer, der im wesentlichen auf zwei Geldquellen beruht.

Die erste Quelle sind die Gelder, die von albanischen Flüchtlingen im Ausland, insbesondere in den USA, in Deutschland und in der Schweiz, in ihre Heimat transferiert werden und die sich für das Jahr 2000 auf stattliche 750 Millionen Dollar summierten. Die zweite Quelle sind die Milliarden von Dollar, die durch die internationale Gemeinschaft in Form von Hilfsleistungen ins Land fließen sowie die Umsätze, die durch die persönlichen Bedürfnisse der Tausenden von Militärs, dem zivilem Verwaltungspersonal und den Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen generiert werden. Trotz dieser Geldzuflüsse bleibt der Kosovo eine der ärmsten Regionen Europas mit einer kränkelnden ökonomischen Struktur, die sich aus eigenen Kräften nicht erholen kann. Die Wirtschaft bräche gänzlich zusammen, wenn eine der derzeitigen Geldquellen wegfiele.

Entgegen den Behauptungen von Robertson offenbaren die Wahlen nicht den Ausblick auf Wohlstand, sondern den Mangel an Ideen zur Stimulierung der Wirtschaft. Auf die Frage, was er gegen die enorm hohe Arbeitslosenquote von mehr als 50 Prozent tun wolle, antwortete der LDK-Führer Ibrahim Rugova, der an die heilende Kraft von Kristallen glaubt, dass die Menschen im Kosovo Gebirgshunde exportieren, mehr Marmelade herstellen und mehr für die Erhaltung des Wasserbüffels tun könnten.

Selbst bei sehr oberflächlicher Betrachtung leuchtet auch nicht ein, weshalb die Wahlen den Weg zu einer multiethnischen Gesellschaft ebnen sollten. Alle Parteien, die an den Wahlen teilnahmen, repräsentierten einzelne Ethnien, und alle konzentrierten sich im Wahlkampf auf ein Thema, welches auf die Abspaltung des Kosovo von Serbien hinausläuft: Allen ging es um den konstitutionellen Status des Kosovo. Die Serben wollen Teil Jugoslawiens bleiben, während die Albaner ihre Unabhängigkeit verlangen. Die Verbindung der Kosovo-Serben mit Jugoslawien ist aus leicht ersichtlichen Gründen so eng, dass ein Wahlboykott diesmal nur dadurch vermieden werden konnte, dass der serbische Präsident Kostunica nach massivem Druck aus dem Ausland dazu aufrief, zu den Urnen zu gehen.

Die internationale Gemeinschaft zeigte sich sehr besorgt über die kompromisslose Haltung der Kosovo-Albaner. „Wir bestehen darauf, dass die Unabhängigkeit des Kosovo so bald wie möglich anerkannt wird“, sagte der „moderate“ Ibrahim Rugova. Flora Brvina, Repräsentantin der Partei Thacis, welche aus der UCK hervorging, konstatierte, dass die internationale Gemeinschaft die Unabhängigkeit des Kosovo nicht herstellen müsse: „Wir werden die Unabhängigkeit selber vollziehen.“

Seitdem sich die NATO im Kosovo befindet, scheint sich die Spaltung des Landes in ethnische Teilgruppen verfestigt zu haben. Nachdem Jugoslawien im Juni 1999 gegenüber dem NATO-Militär kapitulierte, flüchteten rund 20.000 Serben aus der Provinz. Zur Zeit beträgt der Anteil von Serben an der Gesamtbevölkerung von über zwei Millionen Menschen nur noch etwa 80.000. Diejenigen, die geblieben sind, leben in Enklaven oder in geteilten Städten wie Mitrovica und werden rund um die Uhr durch internationale Friedenstruppen bewacht. Sie haben Probleme, zu reisen oder ihre Sprache in der Öffentlichkeit zu sprechen – aus Angst davor, bald zu den 2.000 Serben zu gehören, die seit Juni 1999 als „vermisst“ gelten.

Ein Beobachter der OSZE, der sich in der Zeit von März bis Juli 2000 im Kosovo aufhielt, berichtete, dass „die Menschenrechtssituation in der Region ernstlich schlecht ist, vielleicht schlechter als zu jeder Zeit vor der Bombardierung“. Er schrieb über seine Arbeit in dem Dorf Bogosevac, in der Nähe von Prizren:

„...ein kleiner, aber sehr schöner Dorfweiler, der nur von acht alten serbischen Frauen und einem alten Mann bewohnt wird. Sie sind Plünderern ausgesetzt, die plötzlich im Dorf auftauchen, mitnehmen, was sie wollen und die Bewohner verprügeln oder töten. Die deutsche Armee konnte nicht permanent präsent sein, und so versucht die OSZE mindestens einmal täglich den Ort aufzusuchen. Was auch immer passieren wird, dieses Dorf wird es in einigen Jahren nicht mehr geben – seine Bewohner werden entweder sterben oder nach Serbien umsiedeln. Wenn sie fort sind, wird wahrscheinlich die Kirche gesprengt, und neue Bewohner werden einziehen – Menschen, die so tun werden, als hätten hier nie Serben gelebt.“

Im Juni 2001 entsandte die UN 15 Botschafter, die den Fortschritt im Kosovo einschätzen sollten – zwei Jahre, nachdem die NATO die Kontrolle über das Land übernommen hatte. Laut BBC-Korrespondentin Jackie Rowland, die die UN-Sondergesandten begleitete, galt es ihnen als sicher, dass es „eine weitere Welle ethnischer Säuberungen in der Provinz geben werde“. Rowland bemerkte auch, dass ihre internationalen Freunde im Kosovo die Träume von einem multi-ethnischen Kosovo durch die Vorstellung eines in der Realität „mono-ethnischen, intoleranten Staates im Aufbau“ ersetzt hätten. Als die Botschafter das Kosovo wieder verließen, mußte Rowland, „bitter lächeln, als sie mit optimistischen Stellungnahmen aufwarteten“, die fernab der Realität lagen: „Einzig der russische Botschafter wagte zu sagen, dass der Kosovo einem internationalen Kaiser ohne Kleider ähnelte.“

Die größte Lüge über die Lage im Kosovo ist die Behauptung, die Wahlen vom 17. November stellten ein Schritt in Richtung Normalität, Demokratie, Prosperität und Multiethnizität dar. In Wirklichkeit wurden die Wahlen genutzt, um eine Gesellschaft schönzureden, die noch brutaler, gespaltener und extremer ist als je zuvor. Wie die UN-Sondergesandten, so scheint auch NATO-Generalsekretär Lord Robertson dieser Wahrheit nicht ins Gesicht schauen zu wollen, der gleiche George Robertson übrigens, der 1999 als britischer Verteidigungsminister die 78 Tage andauernden NATO-Bombardements unterstütze. Dieser Krieg schuf die Voraussetzungen dafür, dass die internationale Gemeinschaft im Kosovo die Zügel in die Hand nehmen konnte. Vielleicht fällt es ihm heute deshalb so schwer zu erkennen, dass dem „internationalen Kaiser“ die Kleider fehlen.

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