01.11.2004

Das Kriegsverbrechertribunal – a joint criminal enterprise

Analyse

Germinal Civikov analysiert den Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević.

Zwei Jahre und 300 Zeugen lang präsentierten die Ankläger im Prozess gegen den Ex-Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milošević, ihre Beweise. Der Kernsatz der Anklage lautet, Milošević habe eine kriminelle Verschwörung angeführt, die ein Großserbien mit den Mitteln von Krieg und Vertreibung erschaffen wollte. Der strafrechtliche Terminus für diese Verschwörung heißt „joint criminal enterprise“. Auch der Angeklagte sieht eine Verschwörung am Werk, allerdings eine zur Zerschlagung Jugoslawiens. Zu diesem „joint criminal enterprise“ zählt der Angeklagte einige westliche Staaten und das Tribunal selbst.
Als er dann aber Anfang September 2004 endlich dran war, die Beweise zu seiner Verschwörungstheorie vorzuführen, fanden die Richter, er sei nun viel zu krank und nicht mehr imstande, sich selber zu verteidigen. Mit dieser Aufgabe wurden fortan zwei Pflichtverteidiger beauftragt, die die Zeugen des Angeklagten bestimmen und das Wort führen werden. Der Angeklagte hat nunmehr zuzuhören. Vielleicht darf er einmal eine Frage stellen.


Diese Entscheidung der Richter brachte das Verfahren in neue Probleme. Aus Protest weigern sich jetzt die meisten Zeugen der Verteidigung, nach Den Haag zu kommen, und das Verfahren wurde zunächst vertagt. Zwar hat sich dieser Gerichtshof schon manche verfahrensrechtliche Frivolitäten erlaubt, bei dieser Entscheidung handelt es sich aber um die bisher wohl ernsthafteste Verletzung geltender Rechtsnormen. Das Recht, sich im Gericht selbst zu verteidigen, gehört zu den fundamentalen Menschenrechten und ist auch in die Statuten des Tribunals eingegangen. Scheinbar sorgen sich die Richter, die bereits ramponierte Verschwörungstheorie „joint criminal enterprise“ der Anklage werde den Zeugen der Verteidigung nicht standhalten.


Ende Februar hatte sich zunächst sogar auch die Chefanklägerin Carla del Ponte offensichtlich damit abgefunden, keine Beweise für den Völkermordverdacht gegen ihren prominentesten Angeklagten liefern zu können. Ihr Trost sei, dass die anderen Beweise gegen ihn zweifelsohne stark genug seien, damit er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringe, erklärte sie in einem Interview. Eine Woche später stellten die drei „amici curiae“ Steven Kay, Branislav Tapušković und Timothy McCormack den bemerkenswerten Antrag, die wichtigsten Anklagepunkte gegen Milošević wegen Mangels an Beweisen fallen zu lassen. Im einem 95-seitigen Dokument legten diese „Freunde des Gerichts“ (gewiss keine Freunde des Angeklagten) dar, warum sie die Anklage des Völkermordes in Bosnien für unbewiesen erachten. Zur selben Einschätzung gelangten sie hinsichtlich der Deportationen in der Kosovo-Anklage. Ferner sprachen sie dem Tribunal die Kompetenz ab, über die Geschehnisse in Kroatien vor der völkerrechtlichen Anerkennung dieser Republik und im Kosovo vor dem Luftkrieg der Nato Gericht zu halten, da es sich bis zu diesem Zeitpunkt um eine innerstaatliche Auseinandersetzung gehandelt habe, die nicht Gegenstand der Genfer Konventionen sei.
Auch im Hinblick auf den Bosnienkrieg, so weiter, sei noch nicht entschieden, ob er als Bürgerkrieg oder als serbisch-jugoslawische Aggression anzusehen sei. Schließlich führten die amici eine sehr lange Reihe von Zeugen der Anklage an, deren Aussagen nicht überzeugend oder zu widersprüchlich waren und daher nicht als Beweismaterial berücksichtigt werden sollten. Alles in allem handelt es sich um ein für die Anklage verheerendes Gutachten dreier angesehener Juristen, die im Auftrag, den korrekten Prozessverlauf vom ersten Tag an zu überwachen, auch am Kreuzverhör vieler Zeugen beteiligt waren.

„In jedem normalen Gericht wäre es eine strafbare Handlung. In diesem Prozess ist aber bisher nicht zu erkennen, ob Zeugen der Anklage wegen Falschaussagen unter Eid mit Konsequenzen rechnen müssen.“

Am 16. Juni, zum Auftakt der zweiten Hälfte des Prozesses, in der nun der Angeklagte seine Verteidigung führen darf, haben die drei Richter Punkt für Punkt den Antrag der amici verworfen und den Anklägern einen ungetrübten Erfolg bescheinigt. In ihrer „Decision On Motion For Judgement Of Acquittal“ lassen sie wissen, dass die Mannschaft von Frau del Ponte ausreichende Beweise zur Aufrechterhaltung aller wichtigen Anklagepunkte geliefert habe. Dabei lief die Beweisführung im Einzelfall folgendermaßen ab: In der Anklage zu Kosovo haben mehrere albanische Zeugen behauptet, bis zum Luftkrieg der Nato nie von einer Kosovo-Befreiungsarmee UCK gehört zu haben. Andere wiederum sagten im Zeugenstand aus, die UCK sei erst als Reaktion auf die serbische Aggression entstanden und lediglich mit Jagdgewehren bewaffnet gewesen. Dann trat als Zeuge Šukri Buja auf, UCK-Kommandant in der Region von Račak. Freimütig berichtete er von schweren Kämpfen mit der serbischen Polizei um dieses Dorf und auch von den schweren Waffen, die die UCK eingesetzt habe, einschließlich großkalibriger Maschinengewehre und Minenwerfer. Der UCK sei Buja übrigens schon 1996 beigetreten. Der Angeklagte war sehr zufrieden mit dieser unerwarteten Bestätigung seiner Behauptungen von der UCK. Mehrere westliche Politiker und hohe Offiziere, die als Zeugen der Anklage auftraten, hatten ihm nämlich in aller Schärfe vorgeworfen, mit schweren Waffen gegen kaum bewaffnete Rebellen vorgegangen zu sein, was an sich schon ein Kriegsverbrechen sei.
Mit Verweis auf den Zeugen Buja entschieden die Richter, es habe sich bei der UCK sehr wohl um eine militärisch voll ausgebildete und gut bewaffnete Truppe gehandelt, was den Begriff Kriegshandlungen und damit auch die Zuständigkeit des Gerichts rechtfertige. Das bedeutet nicht weniger als das Eingeständnis, dass die anderen Zeugen falsche Aussagen gemacht hatten. In jedem normalen Gericht stellt dies eine strafbare Handlung dar, in diesem Prozess ist aber bisher nicht zu erkennen, ob Zeugen der Anklage wegen Falschaussagen unter Eid mit Konsequenzen rechnen müssen.

„Die Art, wie dieser Gerichtshof sich selbst die Verfahrensregeln diktiert, um sie dann immer wieder den Bedürfnissen entsprechend zu ändern, ist atemberaubend.“

Dem Antrag der amici, die Anklage des Völkermordes gegen Milošević wegen Mangels an Beweisen schon jetzt fallen zu lassen, folgten die Richter hingegen nicht. Die präsentierten Beweise hätten „bar jeden Zweifels“ belegt, dass sich der Angeklagte des Völkermordes an den bosnischen Muslimen zu verantworten habe. Einer der drei Richter, der Südkoreaner O-gon Kwon, äußerte jedoch Vorbehalte, was die „genozidale Intention“ des Angeklagten betrifft. Kwon wurde aber in dieser Frage überstimmt, und zwar vom schottischen Richter Lord Iain Bonomy, Nachfolger des am 1. Juli verstorbenen britischen Richters Richard May. Bonomy muss ein sehr begnadeter Leser sein, denn um als Richter auftreten zu dürfen, müsste er eigentlich erst 35.000-seitige Gerichtsprotokolle und 600.000 Seiten anderer Dokumente gründlich durchgearbeitet haben, ein Pensum, dass in zwei Monaten kaum zu absolvieren ist. Dennoch überstimmte er bereits zwei Monate nach seiner Ernennung am 16. Juni als „vollwertiger Richter“ seinen südkoreanischen Kollegen in einer wichtigen Entscheidung.


Die Art, wie dieser Gerichtshof sich selbst die Verfahrensregeln diktiert, um sie dann immer wieder den Bedürfnissen entsprechend zu ändern, ist atemberaubend. Bemerkenswert ist auch, wie die Anklage des Völkermordes aufrechterhalten wurde, obwohl es den Anklägern nicht gelang, die üblichen strafrechtlichen Beweise vorzuführen: keine Zeugenaussage aus erster Hand und kein Beweisstück, die den Angeklagten in irgendein Verhältnis zum Massenmord in Srebrenica bringen. Das Argument der Richter lautet dennoch, es sei „bar jeden Zweifels“ bewiesen, dass der Angeklagte ein verbrecherisches Unternehmen („joint criminal enterprise“) zur Schaffung von Großserbien angeführt habe. Im Zuge dieses Planes hätten aber bosnische Serben, die der Angeklagte unter seiner Kontrolle hatte, einen Völkermord an den bosnischen Muslimen verübt.
Als Beweis für die Existenz dieser verbrecherischen Verschwörung gibt es bisher lediglich die Geständnisse einiger in Zusammenhang mit Srebrenica mittlerweile verurteilter Angeklagter. Im Verfahren „plea guilty“, einem Deal mit dem Ankläger zur Erlangung einer milderen Strafe, haben sie im Wortlaut der Anklage gestanden, einem „joint criminal enterprise“ angehört zu haben. Mag sein, dass der Angeklagte dieses Verbrechen nicht angeordnet habe, dass man ihm keine „genozidale Intention“ nachweisen könne und dass er von diesem Verbrechen nichts gewusst habe. Um selbst des Völkermordes angeklagt zu werden, reiche jedoch der Beweis, dass er sich in einem „joint criminal enterprise“ mit Menschen befand, die den Völkermord in Srebrenica zu verantworten haben. Dieser Beweis wurde schnell geliefert: Einige Zeugen im Milosevic-Prozess haben behauptet, der Angeklagte habe in Ex-Jugoslawien alles und alle unter seiner Kontrolle gehabt. Solche Konstrukte nennt man in Den Haag einen Beweis „beyond reasonable doubt“ für die Anklage wegen Völkermordes.


Die Erklärung der Sezessionskriege im untergegangenen Jugoslawien als das Werk einer großserbischen Verschwörung wurde erst jahrelang in den Medien erprobt, bevor sie als „joint criminal enterprise“ in den Anklageschriften des Tribunals Eingang fand. Wir haben es hier mit dem klassischen Beispiel von Verschwörungstheorien zu tun. Sie erklärt schlagartig die komplexesten Zusammenhänge und ist von einer Evidenz, die sich gleichsam selbst immer neue Beweise generiert. Glaubt man daran, so häufen sich die Beweise, glaubt man nicht daran, zählt man bald selbst zu den Verschwörern. Im Banne dieser Verschwörungstheorie zur Erschaffung von Großserbien stehen offensichtlich auch die Richter. Der Angeklagte habe den Plan für ein Großserbien gepredigt und gefördert, stellten sie fest. Dabei beriefen sie sich auf die Zeugen Peter Galbright, britischer Botschafter in Kroatien, Milan Babic, als großserbischer Nationalist ein notorischer politischer Feind des Angeklagten und Musterzeuge der Anklage in mehreren anderen Verfahren, und Renauld de la Brosse, ein französischer Medienexperte.
Im Auftrag der Anklage hatte de la Brosse ein Gutachten über die nationalistische Propaganda von Milošević vorgelegt. Im Kreuzverhör stellte sich jedoch heraus, dass er kein Wort Serbokroatisch sprach und auf Quellen angewiesen war, die ihm vorab selektiert und übersetzt worden waren. Dass allerdings mehrere andere wichtige Zeugen, wie etwa der EU-Vermittler David Owen, Milošević als einen Jugo-Kommunisten sui generis charakterisierten, dem nationalistische Denkbilder emotionell wie ideologisch fremd seien, haben die Richter hingegen gar nicht wahrgenommen. Denn ohne einen Milošević als großserbischen Protagonisten gäbe es auch kein „joint criminal enterprise“ zur Erschaffung von Großserbien. Dann bliebe aber auch von der Gesamtanklage gegen Milošević nur das, was auch im Antrag der amici curiae von ihr übrig blieb.


Mit ihrer Zustimmung zum „joint criminal enterprise“ haben die Richter im Prozess gegen Slobodan Milošević klar signalisiert, wohin die Reise im neu betretenen Land der internationalen Strafjustiz führt. Es handelt sich um ein äußerst handliches Instrument, wenn es um den Schuldspruch gegen einen unliebsamen Politiker geht, dem strafrechtlich nicht beizukommen ist, weil keine konkreten und strafrechtlich relevanten Beweise für konkrete Verbrechen existieren. Mit diesem Instrument in der Hand braucht ein Gerichtshof gar nicht erst zuzugeben, dass er einen politischen Prozess führt, den es in unserer Rechtsstaatlichkeit eigentlich gar nicht geben darf.
Richtern ausgeliefert, die dieses Instrument hantieren, könnte sich Milošević nur noch die Richter herbeiwünschen, die 1933 am Leipziger Reichsgericht den Reichstagsbrandprozess gegen einen gewissen Georgi Dimitrov führten. Als nicht bewiesen werden konnte, dass dieser kommunistische Verschwörer der Brandstifter war, haben sie ihn freigesprochen. Von einem „joint criminal enterprise“ wussten sie noch nichts.

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