01.04.2001
Das Jahrhundert der Utopie “Kindheit”
Essay von Michael Wetzel
Michael Wetzel beschreibt, wie sich seit der Aufklärung in Gesellschaft und Literatur die Sicht auf die Kindheit entwickelt, verklärt und bis in dieses Jahrhundert verändert hat.
“Ich hatte eine schöne Kindheit.” Mit diesem Satz scheint alles gesagt, und doch bleibt ein Rätsel. Dieses Rätsel heißt Kindheit, ein Begriff, bei dem jeder weiß, was gemeint ist, aber bei dem doch offen bleibt, was er genau bedeutet. Was Kindheit sei, was sie genau auszeichnet, wann sie endet, das hat jede Epoche der Geschichte anders bestimmt. Schon immer hat der Mensch für seine Kinder gesorgt. Dass er diese Dimension aber eigens reflektiert und gar ethisch und ästhetisch aufwertet, ist relativ neu. Es setzt ein verändertes Bewusstsein für die Kindheit als wertvolles und zu schützendes Gut voraus. Insofern spricht der Traum von der Kindlichkeit des Kindes weniger die Sprache des Kindes selbst als die der Utopie: als immer wieder neu erdachte und zum Ausdruck gebrachte Schöpfung der Phantasie von Erwachsenen.Vor genau hundert Jahren übergab die schwedische Pädagogin Ellen Key ihr Hauptwerk Das Jahrhundert des Kindes der Öffentlichkeit. An der Schwelle des anbrechenden Jahrhunderts formulierte sie ein noch heute bewegendes Plädoyer für den Glauben an die Zukunft der Menschheit in den Kindern. Ausgehend von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit, dass ”wir physisch und psychisch noch immer im Werden begriffen sind”, erklärte Ellen Key das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert des Kindes, um die kommende Generation an ihr Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Zukunft zu erinnern.
Erst 1959 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Erklärung der “Rechte des Kindes”, aber gerade solche legislativen Lösungen der Probleme verschleiern die Tatsache, dass für die eigentlich Betroffenen das “Jahrhundert des Kindes” weltweit Armut und Elend, Ausbeutung und Unterdrückung, Krieg und Verfolgung und Überwachung brachte. Der uns an der Schwelle des 21. Jahrhunderts mögliche Rückblick fällt eher ernüchternd aus: Auch wenn das Bewusstsein für die so wertvolle Ressource “Kindheit” zweifellos gewachsen ist, wurde deren schamloser Ausbeutung in jeder Hinsicht kein Einhalt geboten.
Von der Kindheit reden aber nur die, die nicht mehr Kinder sind, nämlich die Erwachsenen, denen nur die Erinnerung bleibt, eine Erinnerung, die in den neugeborenen Kindern, den eigenen oder den anderen, wiederkehrt. In der Frage nach der Kindheit spricht sich eines der fundamentalen Probleme der Menschheit aus, das Problem des Daseins als “Zeitlichkeit”, als unhintergehbare und unaufhebbare Verschränkung von Werden und Vergehen. Was bleibt, ist nur der Traum, aber welcher?
Das Ideal der Unreife
Die Kindheit ist für die einen ein traumhafter Zustand, für die anderen aber kann sie zum Alptraum werden, zum Trauma eines schutzlosen Ausgeliefertseins an eine Welt ohne Gnade und Verständnis. Kein Wunder also, dass der amerikanische Psychohistoriker Lloyd deMause die von ihm 1974 veranlasste Untersuchung zur “psychogenetischen Geschichte der Kindheit” mit den Worten beginnt:
“Die Geschichte der Kindheit ist ein Albtraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell misshandelt wurden.”
An Aktualität hat dieses Thema auch im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht verloren. Je weiter wir in der Geschichte der Kindheit voranschreiten, desto mehr häufen sich die Skandale der Ausbeutung dieses unschuldigen Potenzials der Menschheit, steigert sich die Missachtung des angeblich angeborenen Pflegeimpulses gegenüber dem hilflos ausgelieferten, gerade erst in Entwicklung befindlichen Leben. Und in dieser Hinsicht sollte man sich nicht nur auf die Extremfälle zum Beispiel des kindlichen Missbrauches konzentrieren, so symptomatisch das Anwachsen solcher Delikte auch ist. Gefährlicher ist gerade für unsere Zeit der schleichende, eher versteckte Missbrauch, der mit dem “Ideal der Kindheit” getrieben wird und der jenen Traum zum Albtraum werden lässt.
“Während man früher das Kind aus der Sicht des Erwachsenen als Vorstufe der Menschwerdung gesehen hat, wird heute der Erwachsene vom Standpunkt des Kindes aus bewertet – als Verfallsform, als Degeneration.”
Auch die von der Werbung, der Mode und den Massenmedien propagierten Erfüllungen des Kindheitstraums werden zum Albtraum, weil sie im Kind nicht mehr das Potenzial eines Werdens artikulieren, sondern ein Ideal der Unreife feiern, in dem die Manipulation des Keimhaften über die Wertschätzung des bereits Entwickelten gestellt wird. Letztlich lässt sich eine Umkehrung der Perspektive eines Traums von der Kindheit diagnostizieren: Während man früher das Kind aus der Sicht des Erwachsenen als Vorstufe der Menschwerdung gesehen hat, wird heute der Erwachsene vom Standpunkt des Kindes aus bewertet – letztlich als Verfallsform, als Degeneration. “Europa tritt in ein Stadium der Kindlichkeit ein”, hatte der spanische Philosoph Ortega y Gasset schon Anfang des 20. Jahrhunderts geweissagt, und der holländische Kulturhistoriker Huizinga, bekannt durch seine Entdeckung des “homo ludens”, des spielenden Menschen im Gegensatz zum arbeitenden, spricht von einem kollektiven “Puerilismus”.
“Wollte man zynisch sein, so könnte man vermuten, dass das 20. Jahrhundert die Botschaft vom “Jahrhundert des Kindes” missverstanden hat und ihr im Sinne eines universellen Infantilismus gefolgt ist. Vor allem der amerikanische Sportkult hat mit seiner Fetischisierung des jungen, jugendlich frischen Körpers das ästhetische Empfinden verschoben. Beim Tennis blühen die Kind-Idole, die “Racket-Lolitas”, deren Erfolgsrezept wie bei anderen Sportarten einfach lautet: “Ein bisschen kindlich, ein bisschen lasziv”. Das Verschwinden der Kindheit zeigt sich als ein Zum-Verschwinden-Bringen der Differenz zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt.
“Das Verschwinden der Kindheit zeigt sich als ein Zum-Verschwinden-Bringen der Differenz zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt.”
Geburt der Pädagogik
Zunächst ist festzustellen, dass ein Bewusstsein für das Leiden der Kindheit auch die Kehrseite des ideologischen Engagements darstellt, das z.B. in Ellen Keys Proklamation eines “Jahrhunderts des Kindes” überhaupt erst den anderen Schauplatz eröffnet. Die positive Besetzung dieses Traums – als Utopie von einer besseren Menschheit durch Erziehung – beginnt aber mit der Neuzeit. Der französische Historiker Philippe Ariès hat es als “Entdeckung der Kindheit” im 17. Jahrhundert beschrieben und die These aufgestellt, dass die mittelalterliche Gesellschaft “vom Kind und mehr noch vom Heranwachsenden nur schwache Vorstellungen hatte”:“Die Dauer der Kindheit war auf das zarteste Kindesalter beschränkt, d. h. auf die Periode, wo das kleine Wesen nicht ohne fremde Hilfe auskommen kann; das Kind wurde also, kaum dass es sich physisch zurechtfinden konnte, übergangslos zu den Erwachsenen gezählt, es teilte ihre Arbeit und ihre Spiele. Vom sehr kleinen Kind wurde es sofort zum jungen Menschen, ohne die Etappen der Jugend zu durchlaufen.”
Dieser Abwesenheit des Kindes im Bewusstsein der Vormoderne stellt Ariès ästhetische Zeugnisse des Barocks gegenüber, die einen “Geschmack am Pittoresken und der Liebenswürdigkeit dieses kleinen Wesens”, einen “Sinn für das Niedliche der Kindheit” bezeugen und einen Prozess einleiten, der dann in der Entdeckung einer über die physische hinausgehenden psychischen Unreife des Kindes gipfelt. Die Seele des Kindes ist es, was nun die ganze Aufmerksamkeit des Kinder- und Jugendschutzes in Anspruch nimmt. Zugrunde liegt die Idee, dass der Mensch nicht schon fertig geboren wird, sondern sich entwickelt und zwar je nach Umwelteinflüssen zum Guten oder zum Schlechten. Dabei geht es nicht nur um die Bewahrung vor schädigenden Überforderungen, sondern auch um Form- und Bildbarkeit. Es ist der Beginn jenes Zeitalters der Aufklärung, die Geburtsstunde der Pädagogen. Gerade aber weil die kindliche Seele der Führung durch die Irrungen und Wirrungen von Kindheit und Jugend bedarf, kann sie sich anpassen, kompensiert das Kind seine “Instinktarmut” durch das, was den Menschen zum animal rationale macht, nämlich seine Lernfähigkeit.
Die Schule als Mittel der Erziehung ist also der primäre Ort, an dem sich die Entdeckung der Kindheit vollzieht. Aber es geht nicht nur darum, die Kinder zur Raison zu bringen, sondern auch darum, ein neues affektives Verhältnis aufzubauen. Dies wird die Aufgabe der sich gleichzeitig neu formierenden bürgerlichen Kleinfamilie sein, die sich nun über die Funktion von Ehe und Arbeit hinaus als Liebesgemeinschaft versteht. Zärtlichkeit ist das neue Motto, in dem sich die Eltern ihren Kindern zuwenden sollen. Welche Verstrickungen daraus auch entstehen können, haben bürgerliche Trauerspiele wie Lessings Emilia Galotti oder Schillers Kabale und Liebe vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von Vater und Tochter gezeigt. Die nun geforderte Nähe zu den Kindern, die gefühlsmäßige Intensität und Intimität des familiären Umgangs lässt im Schatten der elterlichen Liebe auch erotische Empfindungen aufkeimen. In den Kinderzimmern der gerade erst etablierten bürgerlichen Innenwelt beginnt sich die schwüle Atmosphäre des Inzestes auszubreiten.
Höhepunkt dieser Tendenz ist das romantische Liebes- bzw. Familienideal, in dem der pädagogische Eros mit der Vorstellung von der Kindheit als poetischer Daseinsform in einer Weise zusammenkommt, die unüberhörbar auch Ellen Keys Rede vom Jahrhundert des Kindes prägt.In diesem Sinne verhilft die Entdeckung der Kindheit vor allem zwei Berufszweigen zum Durchbruch: den Pädagogen und den Dichtern. Während die einen Körper und Geist der bildsamen Zöglinge zu ihrem Experimentierfeld machten, war es den anderen vorbehalten, den Traum von der Kindheit in allen fiktionalen Konsequenzen auszuspinnen. Das Ergebnis war im 18. Jahrhundert gar die Erfindung einer neuen literarischen Gattung, nämlich des Bildungsromans, in dem der Schauplatz der psychischen und physischen Entwicklung des Menschen seine poetische Reflexion erfuhr. Ihnen stand eine Praxis gegenüber, die sich nicht nur in Form theoretischer Entwürfe eines Erziehungsmodells erschöpfte, sondern sich seit der Aufklärung auch in konkreten pädagogischen Institutionen etablierte. Die Bibel der neuen Pädagogik wurde Rousseaus Emile oder Über die Erziehung, der für alle Kinder dasselbe Recht auf Erziehung und Bildung postulierte:
“Wir werden schwach geboren und brauchen die Stärke. Wir haben nichts und brauchen Hilfe; wir wissen nichts und brauchen Vernunft. Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns Erziehung.”
Mit diesen Worten fasste Rousseau sein Anliegen zusammen, das nichts weniger intendierte als die Rettung einer der Entfremdung und Entartung geweihten Welt. Hier setzte sich die Einsicht in eine Eigengesetzlichkeit der kindlichen Entwicklung durch, die es bei der Erziehung gewissermaßen als Recht auf die Kindheit zu respektieren gilt.Spätestens hier kam für Rousseau, den Pädagogen, die poetische Phantasie ins Spiel, die sich am Knospenhaften eines Schauspiels des Frühlings mehr entzündet als am Herbst einer Vollendung des reifen Alters. In der Kindheit lockt nicht ein Fertiges, Vollendetes, sondern ein Versprechen von Entwickelbarkeit.
“In der Kindheit lockt nicht ein Fertiges, Vollendetes, sondern ein Versprechen von Entwickelbarkeit.”
Die Besetzung der Kindheit
Die Dichter stellten sich der doppelten Aufgabe: zum einen nämlich dem Leid der Kinder in einer ungerechten sozialen Wirklichkeit Ausdruck zu geben und zum anderen die ästhetische Idealität der neu entdeckten Kindheit zu preisen. Die Schönheit des Werdens wird auch hier über die des Seins gestellt, das Blühende der entwickelten Reife vorgezogen. Die poetische Feier des Frühlingserwachens hatte schon früher begonnen, beherrschte bereits das Schönheitsideal der kindlichen Zartheit und Naivität in den Romanen des frühen 18. Jahrhunderts. Neu ist aber die Entdeckung der kindlichen Entwicklung als literarischer Gegenstand. Im Entwicklungsroman beginnt die biographische oder autobiographische Erzählung nicht erst bei der Reife, sondern in der frühen Kindheit und verleiht erstmals den unterdrückten und missachteten Kindern eine Stimme. Karl Philipp Moritz’ “psychologischer Roman Anton Reiser” von 1785 ist ein bewegendes Zeugnis für solch eine Kindheit, von der es heißt:
“Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm, und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes. Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wusste nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide hassten, und ihm doch einer so nahe wie der andere war.”Diesem so leidvollen Blick aus der Perspektive des Kindes steht im Bildungsroman der umgekehrte Blick der Erwachsenen auf die Kinder als Naturwesen voller Kraft des Werdens und Hoffnung gegenüber. “Sie sind”, schreibt Schiller, “was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen.” Das Kind rührt durch seine naive, d. h. natürlich unschuldige Attitüde, durch die es eine verlorene Fülle des Vergangenen aber als Zukunft, als utopisches Versprechen einer “grenzenlosen Bestimmbarkeit” symbolisiert:
“In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt.”Mit diesem Credo ist die ästhetische Besetzung der Kindheit für die Goethezeit festgeschrieben. Sie vereinigt zugleich Klassik und Romantik, die nur in der Bewertung des Ziels divergieren. Während etwa Goethe in seinem paradigmatischen Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre den Helden zur zentralen Einsicht führt, dass die Ideale der Kindheit und Jugend nur im symbolischen Sinne den Weg der Reife als Umgestaltung, als Metamorphose begleiten, heißt für die Figuren von Novalis, Tieck, Brentano und Hoffmann Romantisieren immer auch, den Rückweg ins Reich der Kindheit als mütterliches “Zuhause” zu finden. Die Romantiker kennen diesen anderen Schauplatz, der immer zugleich neben dem erwachsenen und wachen Bewusstsein existiert, als Reich der Märchen, des Traums, der Feen und Geister.
Für Goethes Wilhelm Meister beginnt der Ernst des Lebens mit dem Abschied von den Kindfiguren, die zwar mit großer poetischer Intensität gezeichnet werden, aber keinen Platz auf dieser Erde der nüchternen Wirklichkeit haben. Das berühmteste “Opfer” im Roman ist das zwölfjährige Mädchen Mignon. Es wird als ungestümes, die Treppe herunterspringendes und auf Bäume kletterndes Knabenmädchen, als Prototyp des Wildfangs beschrieben. Es taucht als sozial ausgegrenzte “Natur” in der Außenseiterposition einer zigeunerhaft fahrenden Gesellschaft auf, und alle Versuche, es durch Erziehung in die Sitten der Gesellschaft einzugliedern, scheitern. Ihr früher Tod lässt sie jedoch Kind bleiben und als solches zum ästhetischen Idol für die anderen werden.Der Bildungsroman lebte in der Feder Gottfried Kellers und Adalbert Stifters fort, doch die harte Realität markierte immer deutlicher das Ende der Kindheit oder gar – wie in den drastischen Schilderungen von Charles Dickens – die Unmöglichkeit einer Kindheit in der Verelendung des Proletariats durch die industrielle Revolution. Der Traum von der Kindheit aber blieb, und er erhielt vor diesem sozialen Hintergrund eine laute Fürsprecherin in Ellen Key, die zumindest für das 20. Jahrhundert die Hoffnung wieder erweckte: die Hoffnung auf ein Jahrhundert des Kindes.