01.11.2003

Das Geschlecht der Kinder ist egal

Interview mit Edgar Dahl

Erstaunlich wenige Menschen in Deutschland haben ein Interesse an der Sex Selection, befand eine Giessener Forschergruppe um den Bioethiker Edgar Dahl.

Seit alters her haben die Menschen nach Mitteln und Wegen gesucht, um das Geschlecht ihrer Kinder beeinflussen zu können. So hat der griechische Philosoph Aristoteles beispielsweise vorgeschlagen, dass Paare, die einen Sohn bekommen wollen, während des kühlen und trockenen Nordwindes, und Paare, die ein Mädchen bekommen wollen, während des warmen und feuchten Südwindes miteinander schlafen sollten. Der uralte Traum, das Geschlecht unserer Kinder vorherbestimmen zu können, ist inzwischen wahr geworden. Dank einer neuen Technologie können es sich Paare jetzt tatsächlich aussuchen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen. Um sich den Wunsch nach einem Kind ihrer Wahl zu erfüllen, müssen sie lediglich in eine Klinik für Fortpflanzungsmedizin gehen und die für die Befruchtung vorgesehenen Samenzellen filtern lassen. Wer eine Tochter möchte, lässt sich mit den Spermien befruchten, die ein X-Chromosom enthalten, und wer einen Sohn möchte, mit den Spermien, die ein Y-Chromosom enthalten. Die Kosten dieses Verfahrens, das bislang nur in den USA zugelassen ist, belaufen sich auf umgerechnet etwa 2000 Euro.
In Deutschland sind Politiker, Philosophen und Sozialwissenschaftler besorgt, dass die neue Technologie zu einer drastischen Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen und in Zukunft weitaus mehr Jungen als Mädchen geboren werden könnten. Um herauszufinden, ob diese Befürchtung begründet ist, hat eine von dem Bioethiker Dr. Edgar Dahl geleitete Arbeitsgruppe des Klinikums der Justus-Liebig-Universität in Gießen eine repräsentative Bevölkerungsumfrage durchgeführt.
„Damit es zu einem Ungleichgewicht des Geschlechterverhältnisses kommen kann“, erklären die Forscher, „müssen mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muss es eine statistisch signifikante Präferenz für Kinder eines ganz bestimmten Geschlechts geben, und zweitens muss ein entsprechend hohes Interesse an der Nutzung der Technologie zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl bestehen.“
Um zu prüfen, ob diese beiden Bedingungen tatsächlich erfüllt sind, haben sie 1094 Männer und Frauen im Alter von 18 bis 45 Jahren befragt. Wie sich zeigte, haben die Deutschen keine Vorliebe für Kinder eines bestimmten Geschlechts. Auf die Frage „Wenn Sie es sich aussuchen könnten, hätten Sie dann lieber ausschließlich Jungen, ausschließlich Mädchen, mehr Jungen als Mädchen, mehr Mädchen als Jungen, genauso viele Jungen wie Mädchen oder wäre Ihnen das Geschlecht Ihrer Kinder gleich?“, antworteten 30 Prozent, dass sie gerne genauso viele Jungen wie Mädchen hätten. 58 Prozent der Befragten wäre das Geschlecht ihrer Kinder vollkommen egal. Vier Prozent hätten gerne mehr Jungen als Mädchen, drei Prozent mehr Mädchen als Jungen, ein Prozent ausschließlich Mädchen und ein Prozent ausschließlich Jungen.
Befragt, ob sie bereit wären, in ein Zentrum für Reproduktionsmedizin zu gehen und 2000 Euro für eine Geschlechtswahl zu bezahlen, antworteten sechs Prozent, dass sie sich das vorstellen könnten. 92 Prozent der Befragten sagten jedoch, dass dies für sie auf keinen Fall in Frage käme. Um herauszufinden, ob es lediglich die mit der Technologie verbundenen Kosten und Mühen sind, die sie von der Nutzung der Geschlechtswahl abhalten, wurden die 92 Prozent, die mit „nein“ geantwortet hatten, anschließend gefragt, ob sie von der neuen Technologie Gebrauch machen würden, wenn sie in jeder ärztlichen Praxis durchgeführt werden könnte und von der Krankenkasse bezahlt werden würde. Für 94 Prozent der Befragten wäre eine Geschlechtswahl auch unter diesen Umständen ausgeschlossen.
Selbst wenn es ein Medikament zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl gäbe und Paare vor dem Geschlechtsverkehr lediglich eine „rosa Pille“ einnehmen müssten, um ein Mädchen zu bekommen, oder eine „blaue Pille“ für einen Jungen, würden nur acht Prozent davon Gebrauch machen wollen.
Wie die Gießener Arbeitsgruppe versichert, decken sich ihre Ergebnisse mit den Erfahrungen so genannter „Gender Clinics“. Weltweit gibt es derzeit etwa 80 Kliniken, die Paaren eine vorgeburtliche Geschlechtswahl anbieten. Allein in Großbritannien gibt es drei solcher Kliniken – in London, Birmingham und Glasgow. Offenbar ist das jedoch alles andere als ein florierendes Geschäft. Zusammengenommen behandeln diese drei Zentren jedes Jahr nur etwa 150 Paare. Ihre Klientel ist dabei nahezu ausnahmslos auf Paare beschränkt, die schon mehrere Kinder haben: „Mehr als 95 Prozent ihrer Patienten sind Paare, die bereits zwei oder drei Kinder desselben Geschlechts haben und sich sehnlichst ein Kind des jeweils anderen Geschlechts wünschen. Sie wählen Jungen, wenn sie bereits mehrere Mädchen haben, und Mädchen, wenn sie bereits mehrere Jungen haben.“
Auf der Grundlage ihrer repräsentativen Bevölkerungsumfrage und den Erfahrungen der Gender Clinics schließen die Gießener Forscher, dass ein freier Zugang zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl – zumindest in einem Land wie Deutschland – kaum zu einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen würde. Das Gießener Team um Edgar Dahl beabsichtigt, ähnliche Umfragen zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl in Frankreich, Spanien, Italien, Indien und den USA durchzuführen.



„Der Einwand der ‚Unnatürlichkeit‘ sollte verbannt werden“
Edgar Dahl, Leiter der Gießener Arbeitsgruppe, unterhielt sich mit Thomas Deichmann über Bedeutung und Hintergründe der Untersuchung zur „Sex Selection“.

NovoArgumente: Wie ist es zu dieser Studie gekommen?

Edgar Dahl: Unsere Studie ist Teil eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Bioethik-Projekts mit dem Titel „ReproGenEthics: Reproduktionsmedizin in einer pluralistischen Gesellschaft“. In diesem Projekt geht es darum, wie der Staat mit den neuen reproduktionsmedizinischen und humangenetischen Technologien umgehen sollte. Etwas konkreter formuliert geht es um die Frage: Inwieweit ist ein liberaler Staat moralisch befugt, die reproduktive Freiheit seiner Bürger mit den Mitteln der Strafgesetzgebung einzuschränken?

„Ob etwas natürlich oder unnatürlich ist, sagt nichts, aber auch rein gar nichts darüber aus, ob es moralisch richtig oder falsch ist. Ein Herz zu verpflanzen, um das Leben eines Menschen zu retten, ist sicher unnatürlich. Doch wer wollte behaupten, dass es deshalb falsch sei?“

Was sind die ethischen Implikationen der Umfrageergebnisse?

Streng genommen sagen unsere Umfrageergebnisse nichts darüber aus, ob die vorgeburtliche Geschlechtswahl nun gesetzlich zugelassen oder verboten werden sollte. Sie entkräften lediglich den häufig vorgebrachten Einwand, dass eine Zulassung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl zu einer dramatischen Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen würde. Eine mögliche Störung des natürlichen Gleichgewichts der Geschlechter ist jedoch nur einer von vielen Einwänden gegenüber der vorgeburtlichen Geschlechtswahl.

Welche anderen Einwände gibt es?

Wie bei allen neuen reproduktionsmedizinischen Technologien lautet der häufigste Einwand gegen die vorgeburtliche Geschlechtswahl, dass sie „unnatürlich“ sei. Die Tatsache, dass das Geschlecht seiner Kinder zu wählen, nicht „natürlich“ ist, ist jedoch ethisch vollkommen irrelevant. Ob etwas natürlich oder unnatürlich ist, sagt nichts, aber auch rein gar nichts darüber aus, ob es moralisch richtig oder falsch ist. Ein Herz zu verpflanzen, um das Leben eines Menschen zu retten, ist sicher unnatürlich. Doch wer wollte behaupten, dass es deshalb falsch sei? Ich wünschte mir, dass der Einwand der „Unnatürlichkeit“ endlich aus jeder Diskussion um die Reproduktionsmedizin verbannt würde.

Einige Kritiker sagen, das Geschlecht seiner Kinder zu wählen, heiße „Gott spielen“. Was sagen Sie dazu?

Ebenso wie der Einwand, dass die Geschlechtswahl unnatürlich sei, so ist auch der Einwand, dass wir „Gott spielen“, eher eine intuitive als eine rationale Reaktion, die offenbar die Schwäche der Argumente durch die Stärke der Rhetorik zu kaschieren sucht. Früher sind beispielsweise die Impfung und das Chloroform mit der Behauptung abgelehnt worden, dass Krankheiten und Schmerzen „der Sünde Sold“ seien und der Mensch kein Recht habe, der „göttlichen Vorsehung“ zuwiderzuhandeln. Dies hat uns jedoch nie daran gehindert, nach immer neuen Mitteln und Wegen zu suchen, um Schmerzen zu lindern und Krankheiten zu heilen. Weit wichtiger noch ist, dass die Behauptung, dass die vorgeburtliche Geschlechtswahl im Widerspruch zu „Gottes Schöpfungsplan“ stehe, ein explizit religiöser Einwand ist. Da wir in einer säkularen Gesellschaft leben, die auf einer strikten Trennung von Staat und Kirche beruht, ist niemand befugt, die staatliche Gesetzgebung zu missbrauchen, um anderen seine religiösen Überzeugungen aufzuzwingen.


Offenbar stören sich aber nicht nur Christen an der vorgeburtlichen Geschlechtswahl. Unlängst hat eine prominente Feministin behauptet, dass das die „sexistische Erbsünde schlechthin“ sei.

Wie so oft schießen radikale Feministinnen hier mal wieder weit über das Ziel hinaus. Sie meinen, dass jedes Paar, das das Geschlecht seines Kindes wählt, damit automatisch auch ein Urteil über den Wert eines menschlichen Wesens fällt. Davon kann jedoch überhaupt keine Rede sein. Wie die Erfahrungen aus den britischen und amerikanischen Gender Clinics zeigen, sind die meisten Paare, die von der vorgeburtlichen Geschlechtswahl Gebrauch machen, allein von dem Wunsch motiviert, ein Kind jeden Geschlechts zu haben. Falls sie bereits Töchter haben, wollen sie einen Sohn, falls sie Söhne haben, wollen sie eine Tochter. Wenn dieser Wunsch, Kinder beiderlei Geschlechts zu haben, überhaupt auf irgendeiner Überzeugung beruht, dann auf der durchaus zu verteidigenden Annahme, dass ein Mädchen großzuziehen anders ist als einen Jungen großzuziehen, sicher aber nicht auf der Ansicht, dass ein Geschlecht dem anderen „überlegen“ sei.

Birgt die Überzeugung, dass es einen Unterschied macht, einen Jungen oder ein Mädchen großzuziehen, nicht auch die Gefahr, dass Eltern zu hohe Erwartungen an ihre Kinder stellen? Was ist, wenn sich der Junge nicht wie ein Junge und das Mädchen nicht wie ein Mädchen verhält? Möglicherweise müssen einige Kinder, die durch die vorgeburtliche Geschlechtswahl gezeugt werden, schwer dafür büßen.

Mit diesem Problem haben wir auch ohne die vorgeburtliche Geschlechtswahl zu kämpfen. Viele Paare erwarten, dass sich ihre Kinder, je nach Geschlecht, wie ein „richtiger Junge“ oder ein „richtiges Mädchen“ verhalten. Ich sehe nicht, dass dieses Problem erst durch die vorgeburtliche Geschlechtswahl in die Welt kommen wird.

„Wenn die Wahl des Geschlechts moralisch zulässig, die Wahl der Intelligenz dagegen moralisch unzulässig sein sollte, können wir erstere erlauben und letztere verbieten. Eine Funktion unserer Gesetzgebung besteht genau darin, solche Grenzen zu ziehen.“

Aber durch die vorgeburtliche Geschlechtswahl könnte es erheblich vergrößert werden.

Das glaube ich nicht. Ein Paar, das eine vorgeburtliche Geschlechtswahl durchführen lässt, um eine Tochter zu bekommen, darf ein Mädchen, nicht aber eine Julia Roberts erwarten, und ein Paar, dass einen Sohn will, einen Jungen, nicht aber einen Richard Gere. Ich habe genügend Vertrauen in den gesunden Menschenverstand der Leute, um davon auszugehen, dass sie das wissen. Wer dieses Vertrauen in den gesunden Menschenverstand nicht teilt, kann diesen Punkt ja gern zum Gegenstand eines vorherigen Beratungsgesprächs machen.

„Worin bestünde das Problem, wenn alljährlich etwa fünf Paare verblendet genug wären, ihr sauer verdientes Geld dafür auszugeben, dass ihr Baby nur ja mit grünen Augen statt mit blauen Augen auf die Welt kommt? Ich sehe nicht, dass das den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören würde.“

Wenn die Sex Selection gestattet würde, müssten wir es dann konsequenterweise nicht auch erlauben, dass sich Eltern ebenfalls andere körperliche Merkmale, Körpergröße, Augenfarbe oder auch die Intelligenz aussuchen? Die Zulassung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl könnte die Vorstufe zu Designer Babys sein.

Dieser Einwand erfordert mehrere Bemerkungen. Erstens müssen wir im Auge behalten, dass derartige „Dammbruch“-Behauptungen kein Argument gegen die Geschlechtswahl als solche darstellen, sondern lediglich gegen ihre vermeintlichen Konsequenzen. Zweitens unterstellen sie, dass die befürchteten Konsequenzen geradezu zwangsläufig eintreten würden und wir keine Chance hätten, sie abzuwenden. Und drittens gehen sie davon aus, dass die viel beschworenen Konsequenzen – vor denen wir uns nach dem Motto „Wehret den Anfängen!“ schützen sollen – moralisch verheerend oder sozial desaströs wären. Doch davon kann meines Erachtens überhaupt keine Rede sein. Zum ersten Punkt muss ich, denke ich, nichts weiter sagen. Zum zweiten Punkt: Wenn die Wahl des Geschlechts moralisch zulässig, die Wahl der Intelligenz dagegen moralisch unzulässig sein sollte, können wir erstere erlauben und letztere verbieten. Solche Grenzziehungen sind alles andere als ungewöhnlich. Eine Funktion unserer Gesetzgebung besteht genau darin, solche Grenzen zu ziehen, ihre Achtung zu gewährleisten und ihre Übertretung zu ahnden. Und zum dritten Punkt: Auf der Grundlage unserer Umfrage und den Erfahrungen der Gender Clinics kann man davon ausgehen, dass in Deutschland jedes Jahr vielleicht etwa 50 Paare von der vorgeburtlichen Geschlechtswahl Gebrauch machen würden. Wie wir aus anderen Repräsentativbefragungen wissen, ist das Interesse an der Wahl des Geschlechts etwa zehn Mal so groß wie das an der Wahl der Augenfarbe. Jetzt frage ich Sie: Worin bestünde das Problem, wenn alljährlich etwa fünf Paare verblendet genug wären, ihr sauer verdientes Geld dafür auszugeben, dass ihr Baby nur ja mit grünen Augen statt mit blauen Augen auf die Welt kommt? Ich sehe nicht, dass das den Untergang des Abendlandes heraufbeschwören würde.


Das ist aber in Ländern wie Indien, China oder Korea bekanntlich ganz anders. Aus Indien hört man, dort würden weibliche Föten abgetrieben und Mädchen nach der Geburt vernachlässigt, ausgesetzt oder gar getötet. Einige Wissenschaftler treten daher für eine weltweite Ächtung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl ein.

Ich halte das für vollkommen abwegig. Wir können die Menschen unseres Landes nicht für das Verhalten der Menschen in anderen Ländern bestrafen. Jede Gesellschaft muss für sich selbst entscheiden, wie sie mit den neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin umgehen will. In Indien besteht in der Tat das Problem, dass Jungen häufig gegenüber Mädchen bevorzugt werden. Das hat sowohl religiöse als auch ökonomische Gründe. Nach hinduistischem Glauben kann ein Mann nur dann in den Himmel der Seligen gelangen, wenn er einen Sohn hinterlässt, der die Totenopfer vollzieht und den Kult der Ahnengeister fortsetzt. Wer es versäumt, einen Sohn zu zeugen, dem zürnen die Ahnen und der muss nach dem Tod als ruheloser Geist auf der Erde herumirren oder gar in die Hölle hinabsteigen. Noch entscheidender ist jedoch die Tradition der Mitgift. Die indische Sitte schreibt vor, dass die Eltern der Braut Geld an die Familie des Bräutigams zu zahlen haben. Um ihre Tochter zu verheiraten, müssen die Inder daher tief in die Tasche greifen. Die Mitgiftzahlungen reichen von 25.000 bis zu 500.000 Rupien. Dies entspricht durchschnittlich etwa drei Jahresgehältern. Eine oder gar mehrere Töchter unter die Haube zu bringen, kann für Inder also den finanziellen Ruin bedeuten. Und genau diese Situation, mit Söhnen reich, mit Töchtern aber arm zu werden, hat dafür gesorgt, dass sich Inderinnen zu einer Abtreibung weiblicher Feten entschließen. Die Kliniken, die Geschlechtsbestimmungen anbieten, locken ihre Kundschaft daher bezeichnenderweise auch mit dem Slogan „Investiere 500 Rupies jetzt, spare 50.000 Rupien später“.

Was befürchten Ihre Kollegen, die Sex Selection ablehnen?

Aufgrund der religiös und ökonomisch bedingten Bevorzugung von Jungen, befürchtet man, dass eine Zulassung der vorgeburtlichen Geschlechtswahl in Indien zu einer dramatischen Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen werde. Ob diese Befürchtung wirklich begründet ist, weiss ich nicht zu beurteilen. Meines Erachtens gibt es durchaus Grund zur Skepsis. Im Mai 1999 hat mit der Malpani Infertility Clinic in Bombay die erste Praxis zur Geschlechtswahl ihre Tore geöffnet. Angesichts der Behauptung, dass die Inder vom Traum nach einem Stammhalter geradezu besessen seien, sollte man erwarten, dass es einen Ansturm auf die Malpani Klinik gegeben hätte. Davon kann jedoch keine Rede sein. Jedes Jahr machen durchschnittlich nur etwa 18 Paare von der Geschlechtswahl Gebrauch. Zugegeben, die überraschend geringe Zahl von Patienten mag auch auf die hohen Kosten einer solchen Behandlung zurückzuführen sein. Möglicherweise würde die Zahl an Interessenten weit größer sein, wenn man ihnen eine einfachere und billigere Methode zur Geschlechtswahl anbieten würde. Aber selbst wenn die vorgeburtliche Geschlechtswahl zu einer Verschiebung des Geschlechterverhältnisses in Indien führen sollte, kann das keine Rechtfertigung dafür sein, sie deutschen Paaren vorzuenthalten.

Wenn es nach dem Willen der FDP und der Grünen ginge, würde das gegenwärtige Embryonenschutzgesetz spätestens in der nächsten Legislaturperiode durch ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz abgelöst werden. Begrüßen Sie die Schaffung eines solchen neuen Gesetzes?

Das hängt davon ab, wie es aussehen soll. Es ist kein Geheimnis, dass die Grünen eine ganz andere Vorstellung von der Gestaltung des Fortpflanzungsmedizingesetzes haben als die FDP. Wenn sich die Grünen durchsetzen könnten, würde das neue Gesetz noch restriktiver werden als das gegenwärtige. Wenn sich die FDP hingegen durchsetzte, würde das neue Gesetz sicher etwas liberaler.

Im Zuge der Novellierung ist zu erwarten, dass auch der § 3 des derzeitigen Embryonenschutzgesetzes neu diskutiert wird. Er verbietet die vorgeburtliche Geschlechtswahl und droht Ärzten bei Zuwiderhandlung mit einem Jahr Gefängnis. Sollte dieser Paragraph gestrichen werden?

Ja, aber ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Obgleich ich optimistisch bin, dass uns eine allmähliche Liberalisierung der reproduktionsmedizinischen Praxis bevorsteht, bin ich doch pessimistisch hinsichtlich der Geschlechtswahl. Ich denke, dass wir mit der vorgeburtlichen Geschlechtswahl erleben werden, was wir derzeit mit dem reproduktiven Klonen erleben. So wie man gegenwärtig das reproduktive Klonen zugunsten des therapeutischen Klonens opfert, so wird man wahrscheinlich auch die vorgeburtliche Geschlechtswahl zugunsten der Präimplantationsdiagnostik opfern.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, dass das reproduktive Klonen „geopfert“ werde?

Obgleich viele Wissenschaftler sehr genau wissen, dass es eigentlich keinen vernünftigen Grund dafür gibt, das reproduktive Klonen unter Strafe zu stellen, stimmen sie doch einem gesetzlichen Verbot zu, wenn dies helfen sollte, das therapeutische Klonen durchgesetzt zu bekommen. Die Ächtung des reproduktiven Klonens ist in ihren Augen ein angemessener Preis für die Zulassung des therapeutischen Klonens. Da das therapeutische Klonen medizinisch weit bedeutsamer ist als das reproduktive Klonen, scheint das in der Tat ein guter Deal zu sein. Doch das ändert nichts daran, dass es letztlich eben nur ein Deal ist – ein politischer Kompromiss, der unter Gesichtspunkten der intellektuellen Redlichkeit eigentlich verurteilt werden müsste.

Sie glauben, dass der vorgeburtlichen Geschlechtswahl ein ähnliches Schicksal beschieden sein wird?

Ja. Wir werden die Präimplantationsdiagnostik mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur legalisiert bekommen, wenn wir bereit sind, einen streng gestalteten Katalog von Indikationen zu akzeptieren. Eine der Auflagen wird gewiss die sein, dass die PID keinesfalls zu nicht-medizinischen Zwecken wie zum Beispiel zur Geschlechtswahl eingesetzt werden darf. Insofern die Zulassung der PID weit wichtiger ist als die Zulassung der Geschlechtswahl, wird selbstverständlich jeder dieser Bedingung zustimmen, auch wenn er im Grunde seines Herzens fest davon überzeugt sein mag, dass ein strafrechtliches Verbot eigentlich ungerechtfertigt ist.

Meinen Sie, dass es ein konsensfähiges Kriterium gibt, mit dessen Hilfe der Staat entscheiden könnte, welche reproduktionsmedizinischen Technologien gesetzlich zugelassen oder verboten werden sollten?

Ich glaube schon. Doch um dies wenigstens ansatzweise plausibel machen zu können, muss ich etwas weiter ausholen: Westliche Gesellschaften sind pluralistische Gesellschaften. Sie bestehen aus Menschen, die unterschiedliche Weltanschauungen und somit zumeist auch unterschiedliche Moralvorstellungen haben. Dementsprechend wird es in solchen Gesellschaften stets Uneinigkeit darüber geben, was moralisch richtig und moralisch falsch ist. Wenn ein Staat seinen Bürgern eine ganz bestimmte Form der Moral oder Religion aufzudrängen versuchte, wären soziale Konflikte unvermeidlich. Um derartigen Spannungen vorzubeugen, sollte die Politik pluralistischer Gesellschaften vernünftigerweise auf zwei Prinzipien beruhen: auf dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates und dem Prinzip „In dubio pro libertate“. Mit anderen Worten: Jeder Bürger sollte sein Leben so leben können, wie er es für richtig hält, solange er anderen keinen Schaden zufügt. Und der Staat sollte sich in die persönlichen Belange seiner Bürger nur einmischen, um eine Schädigung Dritter zu verhindern.

Damit stehen Sie offenbar in der Tradition des klassischen Liberalismus…

Das stimmt. Das hier angesprochene „Schadensprinzip“ geht auf die Väter des Liberalismus zurück, namentlich auf Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill. Das Schadensprinzip hat fünf wichtige Implikationen. Erstens: Die Beweislast haben stets diejenigen zu tragen, die sich für ein strafrechtliches Verbot einer bestimmten Handlungsweise aussprechen. Es ist an ihnen zu zeigen, dass die zur Debatte stehende Handlung tatsächlich eine Schädigung Dritter beinhaltet. Zweitens: Die Argumente dafür, dass eine Handlungsweise andere schädigt, müssen einsichtig und überzeugend sein. Sie dürfen nicht auf vollkommen spekulativen soziologischen oder psychologischen Annahmen beruhen. Drittens: Handlungsweisen, die ausschließlich dem Handelnden selbst schaden, dürfen nicht unter Strafe gestellt werden. Der Staat soll seine Bürger nicht vor sich selbst, sondern nur vor Übergriffen durch andere schützen. Viertens: Dass eine Handlungsweise anderen schadet, ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung dafür, sie strafrechtlich zu verbieten. Wenn die Kriminalisierung eines Verhaltens mehr Schaden verursacht als verhindert, widerspricht sie dem Sinn des Schadensprinzips und muss aufgehoben werden. Und fünftens: Die bloße Tatsache, dass eine Handlung den moralischen oder religiösen Überzeugungen anderer widerspricht, reicht für ein strafrechtliches Verbot nicht aus. In einer pluralistischen Gesellschaft kann die Aufgabe des Staates nicht in der Durchsetzung einer bestimmten Moral oder Religion bestehen, sondern ausschließlich in der Verhinderung einer Schädigung Dritter.

Bei einer strikten Anwendung dieses Schadensprinzips müssten aber auch die Leihmutterschaft, die Eizellspende, die Adoption von Embryonen und eine Vielzahl anderer Reproduktionsverfahren zugelassen werden. Meinen Sie dennoch, es handelt sich um ein konsensfähiges Prinzip?

Das kommt darauf an, was Sie unter „konsensfähig“ verstehen. Wenn Sie – wie ich – unter Konsensfähigkeit verstehen, dass die Anerkennung dieses Prinzips in unser aller Interesse sein muss, dann ja. Das Schadensprinzip ist in unser aller Interesse. Es gibt uns die Freiheit, unser Leben so zu leben, wie wir es für richtig halten, solange wir anderen keinen Schaden zufügen. Und der einzige Preis, den wir für diese Freiheit zu entrichten haben, ist der, dass wir es tolerieren müssen, dass andere ihr Leben in einer Weise leben mögen, die wir für falsch, unsittlich oder gar gottlos halten, ohne deshalb jedes Mal gleich nach der Polizei rufen zu können. Wenn Sie mit „konsensfähig“ dagegen meinen, dass es tatsächlich die Zustimmung unserer Entscheidungsträger findet, dann wahrscheinlich nicht.

Die Bundesregierung hat gerade eine neue „Enquetekommission für Recht und Ethik in der Medizin“ eingesetzt, die auch Vorschläge zur gesetzlichen Regelung der Reproduktionsmedizin erarbeiten soll. Meinen Sie, das Schadensprinzip wird hierbei berücksichtigt?

Nein, in der Enquetekommission gewiss nicht. Sie ist mit Repräsentanten der etablierten Parteien besetzt, die vor allem parteipolitische Interessen vertreten werden. Es gibt aber Kommissionen, die sich bei ihren Gesetzgebungsvorschlägen tatsächlich von dem Schadensprinzip haben leiten lassen. Nehmen Sie etwa das Committee of Inquiry into Human Fertilisation and Embryology in Großbritannien. Diese Kommission, die von Baroness Mary Warnock geleitet wurde, hat ihre Entscheidung, die Leihmutterschaft gesetzlich zuzulassen, eindeutig auf das Schadensprinzip gegründet. In ihrem Bericht „A Question of Life“ schrieb die Kommission, dass die Mehrheit ihrer Mitglieder die Leihmutterschaft aus moralischen Gründen ablehne. Sie fügte dann jedoch – unter explizitem Hinweis auf John Stuart Mill – hinzu, dass diese moralischen Bedenken nicht hinreichen, um ein gesetzliches Verbot der Leihmutterschaft zu rechtfertigen. Ich bin nicht mit allen Entscheidungen des Warnock-Komitees einverstanden, doch ich meine, in diesem Punkt können deutsche Kommissionen viel von angloamerikanischen Gremien lernen. Die Lektion, die uns Amerikaner, Engländer und Australier immer wieder erteilen, lautet, dass es keinen Sinn macht, eine Kommission einzuberufen, die darüber entscheiden soll, ob ein bestimmtes reproduktionsmedizinisches Verfahren moralisch zulässig oder unzulässig ist. Angesichts der Tatsache, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, in der die Menschen unterschiedliche Moralvorstellungen haben, wird sich über diese Frage nie Einigkeit erzielen lassen. Die Frage, die solche Kommissionen prüfen sollten, lautet vielmehr: Würde die Zulassung eines bestimmten reproduktionsmedizinischen oder humangenetischen Verfahrens nachweislich eine Schädigung Dritter beinhalten und somit überhaupt die notwendige Bedingung für eine strafrechtliche Sanktionierung erfüllen?

Ein anderer staatsphilosophischer Ansatz geht davon aus, dass die Gesetze eines demokratischen Staates die Werte ihrer Bevölkerung widerspiegeln sollten. Meinen Sie nicht, dass ein solcher Ansatz weit konsensfähiger wäre als das Schadensprinzip?

Nein, weil dieser Ansatz unterstellt, dass unsere Gesellschaft auf gemeinsamen Werten beruht. Davon kann aber keine Rede sein. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Und eine pluralistische Gesellschaft ist – per definitionem – eine Gesellschaft, in der die Menschen unterschiedliche Werte haben. Ich denke, der gegenwärtige Streit um die Frage, ob muslimische Lehrerinnen an einer staatlichen Schule ein Kopftuch tragen dürfen, hat dies noch einmal gut verdeutlicht. Wichtiger noch ist, dass ein solcher Ansatz in aller Regel darauf hinausläuft, dass Fragen, die die Grundrechte von Menschen berühren – sei es nun das Recht auf Religionsfreiheit oder das Recht auf Reproduktionsfreiheit – , auf dem Wege eines Mehrheitsbeschlusses entschieden werden und man der Mehrheit gestattet, der Minderheit ihre Werte aufzuzwingen. Nehmen wir ein Beispiel: Neben der Umfrage zum Interesse an der vorgeburtlichen Geschlechtswahl haben wir auch eine Umfrage zu den Einstellungen zur vorgeburtlichen Geschlechtswahl durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass etwa 30 Prozent der Bevölkerung wollen, dass jede Form von Geschlechtswahl – ob nun zu medizinischen oder zu nicht-medizinischen Zwecken – verboten werden sollte. Rund 60 Prozent sprachen sich dafür aus, dass sie zwar zu medizinischen, nicht aber zu nicht-medizinischen Zwecken zugelassen werden sollte. Und lediglich eine Minderheit von zehn Prozent war der Ansicht, dass sie sowohl zu medizinischen als auch zu nicht-medizinischen Zwecken verfügbar sein sollte. Dass 30 Prozent, also fast ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung, jede Form der Geschlechtswahl gesetzlich verboten sehen möchte, ist ein Skandal für sich, doch was ich…

Was finden Sie daran skandalös?

Es sollte zu denken geben, wenn sich ein Drittel der Menschen unseres Landes anmaßt, Paare, die Träger einer geschlechtsgebundenen Erkrankung sind, dazu zu verdammen, entweder kinderlos zu bleiben oder aber ein Kind mit Hämophilie, einer Muskeldystrophie oder gar dem Lesch-Nyhan-Syndrom großzuziehen, bei dem die Kinder unter einer schweren geistigen Behinderung und stets wiederkehrenden Anfällen von Selbstverstümmelung leiden, bis sie im Teenageralter sterben. Was ich aber noch anfügen wollte: Angesichts unserer Umfrageergebnisse könnte man sagen, dass das gegenwärtige Embryonenschutzgesetz, das die vorgeburtliche Geschlechtswahl unter Androhung von Strafe verbietet, sehr wohl die Werte unserer Bevölkerung widerspiegelt. Schließlich will eine Mehrheit von 60 Prozent, dass die Geschlechtswahl nur zu medizinischen, nicht aber zu nicht-medizinischen Zwecken zugelassen wird, genau wie es das Embryonenschutzgesetz auch vorsieht. Wer dem Grundsatz „Unsere Gesetze müssen unsere Werte widerspiegeln“ anhängt, wird sich durch unsere Umfrage also bestätigt sehen und sagen, dass es diesbezüglich keinerlei Bedarf zur Änderung des Embryonenschutzgesetzes gibt. Er vergisst dabei aber vollkommen, dass er damit der Mehrheit – trotz Ermangelung guter Argumente – die Lizenz erteilen würde, einer Minderheit ihre Werte aufzuzwingen.

Viele Menschen würden jetzt sagen: Das ist nun mal Demokratie.

Dann haben sie keine Ahnung davon, was Demokratie bedeutet. Ich weiss nicht mehr, wer es war – Edmund Burke oder Thomas Jefferson? –, der gesagt hat „Wenn wir die Mehrheit darüber entscheiden ließen, wer wen heiraten darf, hätten wir zwar Demokratie, aber keine Freiheit.“ Wir leben nicht in einem demokratischen Staat, in dem es der jeweiligen Mehrheit vorbehalten bleibt, einer Minderheit ihre Rechte ganz nach Belieben abzusprechen. Wir leben vielmehr in einem freiheitlichen Rechtsstaat, der unsere Grundrechte – einschließlich unseres Rechts auf Fortpflanzung – sowohl vor dem Despotismus der Regierung als auch vor der Tyrannei der Mehrheit bewahren soll.


Vielen Dank für das Gespräch.

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