17.07.2009

Das Geschacher geht weiter

Kommentar von Kai Rogusch

Der demokratische Geist ist aus der Flasche. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Lissabonner Vertrag lässt er sich nun nicht mehr einfangen. Doch auch die antidemokratischen Ungeister lassen sich nun deutlicher vernehmen. Manche sind offen chauvinistisch.

Der demokratische Geist ist aus der Flasche. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Lissabonner Vertrag lässt er sich nun nicht mehr einfangen. Doch auch die antidemokratischen Ungeister lassen sich nun deutlicher vernehmen. Manche sind offen chauvinistisch.

Zwar mögen die Motive der CSU, die parlamentarischen Mitwirkungsrechte hin zu einem imperativen Mandat der Bundesregierung in der Europapolitik auszubauen, teils wahltaktisch und „populistisch“ und teils vom Bestreben geprägt sein. Denn gerade mit der Länderkammer, die ja auch nicht über jeden demokratischen Zweifel erhaben ist, wird ein eher vordemokratisches Relikt gestärkt, das Legitimitätsanforderungen bezüglich möglichst direkter Rechenschaftspflichtigkeit nicht recht erfüllt. Überdies werden auch die CSU-Vorschläge einerseits wenig an der grundsätzlich undemokratischen Grundstatik der Europäischen Union ändern, weil der Charakter der EU als Prozess eines intransparenten Geschachers nationaler Regierungen samt Gesetzesinitiativmonopol der Europäischen Kommission erhalten bleibt. Der CSU-Vorschlag ist auch deshalb so radikal-demokratisch nicht, weil er konzediert, dass bei „überragend wichtigen Gründen der Integrations- und Außenpolitik“ eine Abweichung der Bundesregierung von Bundestagsvoten weiterhin möglich bleiben soll.

Außerdem: Eine weiterhin übermächtige Große Koalition sowohl in Politik als auch in der journalistischen Publizistik umschifft mit einem unsäglichen Populismusvorwurf die Frage der fehlenden demokratischen Legitimation der europäischen Politik. Indem man das angebliche Erfordernis europäischer „Handlungsfähigkeit“ beschwört, will man die EU weiterhin zu einem Organisationsselbstzweck verkommen lassen. Statt vom Menschen her zu denken, geht es darum, die Gliederungen des Staates in einer etwas pragmatischeren Neuausrichtung besser zu funktionalisieren. Dabei fällt auf, dass gerade die Protagonisten einer fortschreitenden Supranationalisierung des europäischen Integrationsprozesses den grundlegenden Charakter der EU, der in einem organisierten „Geschacher“ nationaler Regierungsinteressen besteht, als einen naturgegebenen Ausgangspunkt der Debatte hinstellen. Jedenfalls hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, ja mehr noch die überaus autistisch aufreizende Kommentierung des Richterspruchs, den abgehobenen Charakter des europäischen Einigungsprozesses in besonders virulenter Form zutage treten lassen. Damit ist zugleich aber auch eine nicht mehr aus der Welt zu schaffende Saat des Zweifels an der Legitimität der EU gestreut worden. Eines ist gut: Die „Unruhe“ ist da, Bewusstsein für europäische Belange dringt in den nationalen Raum und wird in der etablierten nationalen Öffentlichkeit virulenter.

Die entscheidende Frage an die „Europa-Befürworter“ lautet: Was ist denn so „europafeindlich“, wenn deutsche Parlamentarier, die ja von allen Staatsorganen dem Volk die meiste Rechenschaft schulden, verlangen, bei der Konzipierung europäischer Gesetze möglichst stark eingebunden zu werden und möglichst viel entscheiden zu können? Das Gegenteil ist vielmehr richtig: Je bedeutsamer die Stellung national legitimierter Parlamentarier im europäischen Gesetzgebungsprozess, desto höher ist die Chance, Bewusstsein für europäische Belange in den nationalen Rahmen eindringen zu lassen. Denn dann sind nationale Parlamentarier und die gezwungen, gesamteuropäische Belange bei der Erörterung verschiedenster Regelungsgegenstände zu berücksichtigen. Damit macht sich auch für den Fall, dass rein nationale Regelungsgegenstände im ganzen Parlament, also bitte nicht in abgeschotteten Europaausschüssen, verbindlich diskutiert werden müssen, europapolitisches Bewusstsein breit. Dreist und unverschämt erscheint hingegen das Ansinnen von CDU, SPD, auch FDP und Grünen sowie wichtigen Teilen der Publizistik, Forderungen nach möglichst weiter parlamentarischer Mitsprache in einem bestimmten Segment der europäischen Gesetzgebung als Ausfluss eines engstirnigen, populistischen Provinzialismus zu diffamieren.

Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: EU-Politiker weigern sich, die Bundesregierung in ihrer Europapolitik, die verbindliche (und oft einschneidende) Gesetze für EU-Bürger produziert, an parlamentarische Stellungnahmen zu binden. Man bemerkt schon die Vehemenz, mit der sich Europapolitiker parlamentarische Störungen verbitten. Sie verbitten sich, dass Regierungen sich auf dem Feld der europäischen Gesetzgebung Vorschriften von den Parlamenten machen lassen müssen. Sie verbitten sich die Bindung der Regierung an das Parlament. „Wo kommen wir denn hin“, fragen sie, wenn die Parlamente ihr Ziel einer möglichst störungsfreien Gesetzgebung auf EU-Ebene vereiteln? Das sei doch „Unfug“, meint etwa Markus Ferber, Chef der CSU-Europagruppe im kürzlich schwach legitiminierten EU-Parlament. Doch auch das Bundesverfassungsgericht bekommt sein Fett weg: Es sei „überholtem Denken“ verhaftet, denn es halte nationalstaatliche Kategorien aus dem 19. Jahrhundert aufrecht, meinte beispielsweise der CDU-Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Jürgen Rüttgers.

Dabei hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil eigentlich nur dem unabweisbaren Umstand eines gravierenden Legitimitätsproblems der Europäischen Union Rechnung getragen, den nicht zu berücksichtigen seiner Selbstaufgabe und der Preisgabe eines konstitutiven Kernbestand demokratischer Rechtsstaatlichkeit gleichgekommen wäre. Und gleichzeitig hatten die höchsten deutschen Richter auch einen möglichen Ausweg aus der verfahrenen Lage der europäischen Politik gewiesen: nämlich, dass es eine EU-weite politische Öffentlichkeit auf supranationaler Ebene eben noch nicht gibt (oder höchstens eine, die auf politische, administrative und ökonomische Eliten beschränkt ist), dass EU-Institutionen immer mehr an Legitimität einbüßen, was bei den letzten Wahlen zum EU-Parlament deutlich sichtbar war, und dass überdies auch im bislang etablierten Rahmen politischer Öffentlichkeit, dem Nationalstaat, europäische Themen kaum eine Rolle spielen.

Aus diesem Grunde wirken Vorstellungen wie die von Jürgen Rüttgers, aber auch von einem weiteren Kritiker des Bundesverfassungsgerichtes, dem ehemaligen Bundesaußenminister Josef Fischer, so dermaßen abgehoben. Hier wird eine angeblich schon vorhandene „Euro-Identität“ beschworen. Man müsse im Konzert der Weltmächte Effektivität und Durchschlagskraft entwickeln, um globale Menschheitsfragen angehen zu können. Dabei wird teils unter der Hand und teils auch ausdrücklich zugegeben, dass die Realität etwa im Ministerrat wie auch im Europäischen Rat, in dem die europäischen Regierungen über die EU-Politik verhandeln, die eines intransparenten Geschachers ist. Aber genau dieser Umstand wird als naturgegebener Ausgangspunkt herangezogen für die Forderung, die eigene Regierung doch gefälligst keiner zu weitgehenden parlamentarischen Störung bei der wirksamen Durchsetzung deutscher Interessen auszusetzen. Deutschland sei doch nicht so ein unbedeutsamer Zwergstaat wie Österreich oder Finnland, wo die Parlamente in der EU-Politik allein deswegen so starke Mitwirkungsrechte hätten, weil diese beiden Länder ohnehin nur wenig zu melden hätten, heißt es chauvinistisch.

Hört man sich diese irgendwie widersprüchlichen und neunmalklugen Kommentare an, traut man seinen Ohren nicht: Glaubt man denn wirklich, dass man sensible Kernbereiche der Staatlichkeit diesem auf EU-Ebene etablierten Regelungsmechanismus überantworten soll, der nachweislich einen legitimatorischen Tiefststand in der europäischen Bevölkerung erreicht hat? Soll man europäische Bürger denn tatsächlich den legislativen Ergebnissen einer EU-Politik aussetzen, deren Charakter der des Geschachers ist?

Der diffuse EU-Globalismus europäischer Politik weist möglicherweise, im Zusammenspiel mit dem Bestreben des Lissabonner Vertrages, verstärkt Mehrheitsentscheidungen auf EU-Ebene zu etablieren, auf eine tiefe Furcht in etablierten Kreisen von Politik und Medien hin. Es ist die Angst, mangels überzeugender Strategie keine tatsächliche Einigung im politischen Prozess Europas finden zu können. Das ist der Grund, weshalb der europäische Prozess des Auf- und Ausbaus von EU-Institutionen mittlerweile einen derartig selbstzweckhaften Charakter angenommen hat und sich verselbstständigt. Gerade das supranationale Element europäischer Politik von nationalstaatlichen, parlamentarisch vermittelten demokratischen Öffentlichkeiten fernzuhalten, zeugt von Autismus und Abschottung bedeutender Teile der politischen Klasse. Der sichtbare Impuls einer verstärkten, an erleichterten Mehrheitsentscheidungen orientierten Supranationalisierung ist nicht die Frucht einer europäischen Einigung, sondern entspringt im Gegenteil dem ratlosen Empfinden einer sich in einem zunehmenden zwischenstaatlichen Hickhack ausdrückenden Uneinigkeit, deren einzige Klammer das ängstliche Bedürfnis nach einem diffus-globalistischen Krisenmanagement ist.

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