01.04.2001

Das ”Gefühl” haben, Bomben werfen zu müssen

Essay von Dieter S. Lutz

Ein jetzt veröffentlichter Bericht der NATO enthüllt das Ausmaß der Ignoranz und Manipulation der kriegsführenden westlichen Allianz. Wer trägt die Verantwortung am Tod der unschuldigen Opfer des NATO-Bombardements, fragt Dieter S. Lutz.

Völlig unbemerkt von den Medien hat die Parlamentarische Versammlung der NATO vor wenigen Tagen einen ”Generalbericht”[1] verabschiedet, der eine breite gesellschaftliche Diskussion, wenn nicht sogar einen öffentlichen Aufschrei verdient hätte. In diesem Bericht mit dem Titel ”Die Folgen des Kosovo-Konfliktes und seine Auswirkungen auf Konfliktprävention und Krisenmanagement” wird erstmals das Versagen der westlichen Politiker im Kosovo-Konflikt auch offiziell eingestanden. Auf Seite 19 des Berichtes wird unter den Ziffern 83 und 84 mit Blick auf die ”Befreiungsorganisation” UCK der Kosovo-Albaner unverblümt zugegeben:
Die NATO-Staaten waren an ”Stabilität in der Region interessiert”. Die UCK aber strebte im Kosovo ”eine Verschärfung der Notlage an, um die Bevölkerung zum Aufstand für die Unabhängigkeit zu bewegen. So nutzte die UCK das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause, um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren. Die serbischen Repressionen ließen unter dem Einfluss der KVM in der Zeit von Oktober bis Dezember 1998 nach. Dagegen fehlte es an effektiven Maßnahmen zur Eindämmung der UCK, die weiterhin in den USA und Westeuropa – insbesondere Deutschland und der Schweiz – Spenden sammeln, Rekruten werben und Waffen über die albanische Grenze schmuggeln konnte. So nahmen die Angriffe der UCK auf serbische Sicherheitskräfte und Zivilisten ab Dezember 1998 stark zu. Der Konflikt eskalierte neuerlich, um eine humanitäre Krise zu erzeugen, welche die NATO zur Intervention bewegen würde.”


Mit anderen Worten: Nach dem aktuellen Generalbericht der Parlamentarier-Versammlung der NATO und entgegen der offiziellen NATO-Darstellungen, insbesondere vor dem Krieg, waren also nicht die Serben, sondern die UCK verantwortlich für die Konflikteskalation und die Erzeugung einer humanitären Krise im Kosovo.


Eine späte, zu späte Einsicht! Kritiker, die sie bereits vor und während des Kosovo-Krieges artikulierten, wurden als Verschwörungstheoretiker und Serbenfreunde diffamiert. Den, soweit bekannt geworden, einzigen deutschen Soldaten mit aufrechtem Gang, Brigadegeneral Loquai, hat sie nach Intervention des Bundesverteidigungsministeriums den Job bei der OSZE in Wien gekostet – im übrigen gegen den erklärten Willen der OSZE. Und was eigentlich ist mit all den unschuldigen Menschen, die als sogenannte Kollateralschäden ihr Leben verloren haben?

“Wer von uns hätte sich je auszumalen gewagt, dass deutsche Demokraten dazu beitragen, Menschenleben zu vernichten, ohne die Fakten und Daten wirklich zu kennen.”

Nimmt man das späte Geständnis der Parlamentarischen Versammlung der NATO ernst, wer trägt dann die Verantwortung, die ganz persönliche Schuld für den Tod des alten Nachtwächters in der von der NATO bombardierten Tabakfabrik, ferner für den Tod des bulgarischen Kleinhändlers im Omnibus, des Montenegriners und des Angehörigen der ungarischen Minderheit zu Fuß, der Mutter mit den beiden kleinen Mädchen im Auto auf der Brücke, des flüchtenden Albaners auf dem Traktor, des serbischen Deserteurs auf dem Fahrrad, der Krebskranken im stromabhängigen Krankenhaus, der Journalistin in der chinesischen Botschaft und all der anderen mehr ... ?

Wirklich der Dämon in Belgrad, wie uns die westlichen Demokraten glauben machten? Oder doch die demokratisch legitimierten Abgeordneten, Staatssekretäre, Minister, die einen Luftkrieg beschlossen, ohne dass die meisten von ihnen auch nur eine Ahnung von der alles zerstörenden Wucht tausender von Einsatzraten hatten und denen selbst Bezeichnungen wie ”cruise missiles” oder ”Kassetten-Bomben” bis vor kurzem völlig fremd waren? Wer von uns hätte sich je vorstellen können, dass Demokratien – konkret: unsere Politiker und Politikerinnen – einen Krieg aus Gründen einer ”humanitären Katastrophe” führen, im Vorfeld der militärischen Aktivitäten aber keineswegs Vorsorge für eben die Opfer der humanitären Katastrophe treffen, im Gegenteil medizinische Versorgung, Lebensmittel, Wasseraufbereitung, Zelte etc. mit oder ohne Absicht einfach vergessen? Und vor allem: Wer von uns hätte sich je auszumalen gewagt, dass deutsche Demokraten dazu beitragen, Menschenleben zu vernichten, ohne die Fakten und Daten wirklich zu kennen – und dafür noch Applaus bekommen von Journalisten, Philosophen, Dichtern, Juristen, Friedensforschern?


Nach deutschem Verfassungsrecht ist die Entscheidung für Krieg ohne Kenntnis der Daten und Fakten verfassungswidrig. Artikel 26 Absatz 2 Grundgesetz verlangt im Gegenteil – als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg – absolute und zweifelsfreie Gewissheit. Die Entscheidung der NATO, einschließlich Deutschlands, Jugoslawien zu bombardieren, basierte aber gerade nicht auf zweifelsfreier Gewissheit, sondern auf einem unbestimmten ”Gefühl”, wie die Parlamentarierversammlung heute zugibt: ”Mit dem bis heute nicht restlos aufgeklärten angeblichen Massaker von Racak entstand das Gefühl eines Handlungsbedarfs, das nach dem Scheitern der Rambouillet-Verhandlungen zu den von der UCK herbeigesehnten NATO-Luftangriffen führte.” (Hervorheb. – DSL)

“Nach deutschem Verfassungsrecht ist die Entscheidung für Krieg ohne Kenntnis der Daten und Fakten verfassungswidrig.”

Aber schlimmer noch: Waren die Daten und Fakten – vor Kriegsbeginn – wirklich unbekannt? War der Kosovo-Krieg schon allein deshalb unvermeidbar, weil die Lageberichte der Ämter und Dienste gegenteilige Schlussfolgerungen – und wenn man so will: gegenteilige Gefühle – von vornherein nicht zuließen?

Klammern wir einmal die vielen ”dirty secrets” wie das erwähnte ”Massaker” von Racak oder das angebliche Massaker von Rugovo oder das angebliche KZ in der Fußballarena von Pristina oder den selbstgezeichneten sogenannten Hufeisenplan und vieles Vergleichbare einfach aus. Lassen wir also all die bewussten Manipulationen der Öffentlichkeit zur Erzeugung von ”Gefühlen” beiseite, an denen nicht nur NATO-Strategen, sondern auch und gerade deutsche Politiker beteiligt waren. Was sagen die vertraulichen – der Öffentlichkeit nicht bekannten – Lage-Analysen der Dienste vor Kriegsbeginn? Entsprechen oder widersprechen sie dem Bild des Kosovo-Konfliktes und seiner Eskalation, das die Parlamentarierversammlung heute, zwei Jahre später, so unverblümt zeichnet?


Folgt man einer Lageanalyse des Auswärtigen Amtes vom 19. März 1999, so wird klar, dass die politischen Entscheidungsträger bereits vor dem Krieg Bescheid gewusst haben (müssen). In der internen Vorlage, die wenige Tage vor Beginn des NATO-Bombardements am 24. März gefertigt und an den Außenminister ebenso wie an das Bundesverteidigungsministerium weitergereicht worden war, verdeutlichen die Autoren expressis verbis, dass der Waffenstillstand nicht allein von den Serben, sondern ”von beiden Seiten nicht mehr eingehalten” werde. Als Ziel der Operationen der jugoslawischen Streitkräfte (VJ) wird ferner auch nicht Völkermord und Vertreibung angegeben. Ziel sei vielmehr, ”durch gezielte Geländebereinigung sämtliche Rückzugsmöglichkeiten für die UCK zu beseitigen”. Die Zivilbevölkerung werde in der Regel sogar ”vor einem drohenden Angriff durch die VJ gewarnt.” Allerdings werde ”die Evakuierung der Zivilbevölkerung vereinzelt durch lokale UCK-Kommandeure unterbunden”. Nach Abzug der serbischen Sicherheitskräfte kehre die Bevölkerung meist in die Ortschaften zurück. Eine Massenflucht in die Wälder sei nicht zu beobachten. Und dann heißt es: ”Von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo sind alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen. Etwa 90 vormals von Serben bewohnte Dörfer sind inzwischen verlassen. Von den einst 14.000 serbisch-stämmigen Kroaten leben nur noch 7000 im Kosovo. Anders als im Herbst/Frühwinter 1998 droht derzeit keine Versorgungskatastrophe.”[2]


Erhärtet wurde diese Lageanalyse des Auswärtigen Amtes vom 19. März 1999 durch den vertraulichen Lage-Bericht der Nachrichtenoffiziere des Verteidigungsministeriums vom ”23. März, 15.00 Uhr”. In diesem Bericht, erstellt einen halben Tag vor Kriegsbeginn, heißt es ausdrücklich: ”Das Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen Kräfte gegen die UCK im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden.” Zu einer groß angelegten Operation gegen die UCK im gesamten Kosovo seien die serbisch-jugoslawischen Kräfte nicht fähig. Und dann formulieren die Nachrichtenoffiziere schon damals eine Aussage, die sich heute auch im Generalbericht der NATO-Parlamentarier findet: ”Die UCK ihrerseits wird wahrscheinlich weiter versuchen, durch die bekannten Hit-And-Run-Aktionen die serbisch-jugoslawischen Kräfte zu massiven Reaktionen zu provozieren in der Hoffnung, dass diese in ihren Ergebnissen hinsichtlich Zerstörungen und Flüchtlingen ein Ausmaß annehmen, das sofortige Luftschläge der NATO heraufbeschwört.”[3]


Wer diese Berichte das erste Mal liest, ist zweifelsohne äußerst erstaunt. Zum Beispiel über die Information, dass die Albaner von den serbischen Streitkräften vorab gewarnt wurden und dann auch wieder in die Dörfer zurückkehren konnten. Diese Information passt so gar nicht in das Bild des seinerzeit Gehörten. Man ist ferner überrascht darüber, dass von Flucht, Vertreibung und Zerstörung im Kosovo alle dort lebenden Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen gewesen sein sollen – sind wir doch stets davon ausgegangen, die Leidtragenden und Opfer seien die Albaner, und zwar ausschließlich die Albaner. Mit großer Bestürzung liest man auch, dass ”lokale UCK-Kommandeure die Evakuierung der Zivilbevölkerung unterbunden” haben. Der nächste Gedanke ist: Warum wurde der Öffentlichkeit dies alles bislang vorenthalten? Und schließlich fällt auf, dass das soeben Gelesene doch wohl eher die Lagebeschreibung eines Bürgerkrieges oder eines bürgerkriegsähnlichen Geschehens ist – mit all den einhergehenden Grausamkeiten und Verbrechen –, nicht aber ein Bericht, der es rechtfertigte, von Völkermord, Auschwitz, Konzentrationslagern, ethnischer Säuberung und systematischer Vertreibung zu sprechen.


Unser Bild vom Kosovo-Konflikt ist vor allem durch die jugoslawische Unterdrückungspolitik seit 1989, die Manipulationen des Westens vor und während des NATO-Krieges und durch die Verbrechen an den Kosovo-Albanern nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe im März 1999 geprägt. Durch die Manipulationen der öffentlichen Meinung vor und während des NATO-Bombardements erscheint uns die Entwicklung als eine kontinuierliche Abfolge einseitig von der jugoslawischen Seite ausgehender Gewalt und verbrecherischer Handlungen, die geradezu zwangsläufig zum Eingreifen der NATO führen mussten, um noch Schlimmeres zu verhindern[4]. Dieses Bild stimmt nicht in jedem Fall. Immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Zeiten, in denen Friedenschancen bestanden und nicht genutzt wurden. Dies gilt insbesondere für den Herbst 1998.Mit diesen Überlegungen sollen, ja dürfen die Verbrechen der Serben an den Kosovo-Albanern in der Zeit vor dem Holbrooke-Milosevic-Abkommen, also bis zum Oktober 1998, und nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe, also nach dem 24. März 1999, keinesfalls verharmlost oder entschuldigt werden. Im Gegenteil! Gewaltverbrechen sollten zwingend strafrechtlich verfolgt werden, sei es im Rahmen nationalstaatlicher Verfahren, sei es von einem internationalen Gerichtshof.

Wenn und solange aber die internationale Staatengemeinschaft, internationale Organisationen oder einzelne Staaten aus den unterschiedlichsten Gründen bereit sind, mit vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsbrechern Verträge und Vereinbarungen zu schließen – das Dayton-Abkommen oder das Hoolbroke-Milosevic-Abkommen sind ebenso Beispiele hierfür wie die entsprechenden Vereinbarungen mit Saddam Hussein –, so sind danach alle Vertragspartner gleichermaßen verpflichtet, die Vereinbarungen auch einzuhalten. Welchen Sinn sollten solche Verträge sonst machen? Die einseitige Parteinahme zu Lasten eines Vertragspartners bzw. dessen Bevölkerung unter Verweis auf das Geschehen aus der Zeit davor ist nach Abschluss der Vereinbarung jedenfalls nicht mehr möglich – weder politisch noch rechtlich und schon gar nicht moralisch. Die Parteinahme zu Gunsten einer Seite wider besseres Wissen und in der Folge der Krieg zu Lasten immer auch Unschuldiger sind aber nicht nur unzulässig. Im Gegenteil: Erwartet und verlangt werden muss sogar, dass die mögliche Garantiemacht – in diesem Fall die NATO – bei entsprechender Vertragsverletzung der bisherigen ”Opfer” zu Gunsten des vormaligen Rechtsbrechers interveniert. Die NATO aber hat sich im Kosovo-Konflikt sehenden Auges zum Instrument der UCK gemacht, zumindest aber machen lassen. Aus der Perspektive der Charta der Vereinten Nationen ein Völkerrechtsbruch auf der Basis des vermeintlichen Rechts des Stärkeren zu Lasten der Stärke des Rechts mit unabsehbaren Folgen für die künftige Entwicklung der internationalen Ordnung. Aus der Sicht des Grundgesetzes ein verfassungswidriger Angriffskrieg mit verheerenden Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit von Politik. Aus der Sicht der nach Macht und Unabhängigkeit strebenden UCK allerdings eine strategische Meisterleistung, wenn auch unter Inkaufnahme zahlloser unschuldiger Opfer.

Nochmals: Wer trägt die ganz persönliche Schuld für den Tod der Opfer, die die NATO-Politiker als Kollateralschaden ihrer Entscheidungen und Handlungen entmenschlicht haben?

Zu den zivilisatorischen Errungenschaften gehört es, Krieg nur noch als ultima ratio, als extremen Ausnahmefall zu akzeptieren. Entscheidungen über Krieg und Frieden verlangen deshalb zweifelsfreie Gewissheit. Angriff und Verteidigung dürfen nicht zu Siegerdefinitionen verkommen. Sind Zweifel da, kann und darf die Entscheidung keinesfalls für Krieg lauten.

Es reicht deshalb keineswegs aus, wenn heute die NATO-Parlamentarier in Ziffer 91 ihres Generalberichtes selbstkritisch bekennen: ”Die Staatengemeinschaft darf sich ihr Handeln nicht von einer extremistischen Minderheit aufzwingen lassen.” Die Lehre aus dem rechtswidrigen Kosovo-Krieg der NATO muss viel weiter gehen, grundsätzlicher und zugleich konzeptioneller sein. Bundespräsident Rau hat sie in einer seiner Reden wie folgt gezogen: ”Für mich lautet die wichtigste Lehre: Wir müssen durch vorbeugende Politik die falsche Alternative zu vermeiden suchen, dass wir Schuld auf uns laden durch Wegschauen oder dass wir Schuld auf uns laden durch den Einsatz militärischer Mittel, der auch völlig Unschuldige trifft.”[5]

“Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem sich die Politik zu bewähren hat, sondern der Frieden.”

Krieg und Frieden sind deshalb für Rau ebenso wenig natürliche Alternativen, wie Krieg nicht wirklich eine normale Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Vornehmste Aufgabe von Politik ist es vielmehr, Krieg zu verhüten, nicht ihn zu führen. Situationen, die als Alternativen nur die Übel zulassen, Schuld auf sich zu laden oder Unschuldige durch den Einsatz militärischer Mittel zu töten, darf es deshalb nicht geben. Treten sie ein, hat die Politik versagt. Nicht der Krieg ist also der Ernstfall, in dem sich die Politik zu bewähren hat, sondern der Frieden. Mit dieser Überlegung stellt sich Bundespräsident Johannes Rau nachdrücklich in die Tradition seines Amtsvorgängers Gustav Heinemann.[6] Nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, gerade und vor allem die deutschen Außen- und Verteidigungspolitiker sollten dem Bundespräsidenten ohne Wenn und Aber folgen.

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