28.01.2014

Das Fiasko europäischer „Nachbarschaftspolitik“

Analyse von Sabine Reul

Die EU-Nachbarschaftspolitik gegenüber der Ukraine hat die größte internationale Krise auf dem europäischen Kontinent seit dem Jugoslawienkrieg ausgelöst. Die EU sollte endlich das Moralisieren lassen und auf vernunftbasierten Interessensausgleich setzen.

Wenn zwei oder mehr Parteien sich streiten, sollte man Abstand halten und wohlwollende Neutralität wahren. Diesem im Alltagsleben wie in der Diplomatie bewährten Grundsatz ist die Europäische Union in der Ukraine nicht gefolgt. Der Grund: die EU verfolgt im Rahmen ihrer sogenannten Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) gegenüber einigen Ländern im Machtbereich Russlands – Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und Ukraine – einen Kurs, in dem sich wirtschafts- und sicherheitspolitische Interessen, Demokratieexport und der Wunsch, in die russische Einflusssphäre einzudringen, vermengen. Und sie hat damit, etwas salopp gesagt, im Fall der Ukraine ihre Hand überspielt.

In der EU-Führung hat man mehrere Faktoren offenbar falsch eingeschätzt: die tiefe historische Spaltung der Ukraine zwischen dem mehrheitlich pro-russischen industrie- und bevölkerungsreichen Osten und Süden des Landes und dem überwiegend pro-europäischen, ländlichen Westen; die dramatische wirtschaftliche Notlage nach der nun immerhin schon acht Jahre währenden Umsetzung des europäischen „Aktionsplans“ (AP) für die Ukraine im Rahmen der ENP; die Tatsache, dass das Bestreben der Ukraine, sowohl mit Russland als mit Europa gute Beziehungen zu unterhalten, nicht nur vernünftig ist, sondern zumindest bislang auch die einzige Möglichkeit, das von tiefen Spannungen geprägte Land zu stabilisieren; und schließlich, dass Russland kaum geneigt sein wird, seinen Einfluss in Ländern, die nicht nur zur ehemaligen Sowjetunion, sondern auch teils zum Territorium, teils zum Einflussbereich des historischen Russland gehören, ohne weiteres aufzugeben.

„Selbst Bismarck bemerkte zur Diplomatie: ‚Die Pflicht des Diplomaten besteht in wechselseitigen und unaufhörlichen Konzessionen.‘“

Letzteres mag einem gefallen oder nicht, es ist ein Interesse Russlands, dessen Legitimität vernünftigerweise nicht geringer einzustufen ist als das offenbar drängende Bestreben der EU, Moskau dieses Interesse streitig zu machen. Es ist auf jeden Fall ein weltpolitischer Faktor, den eine rationale Außenpolitik in ihre Überlegungen einbeziehen sollte. Selbst Bismarck, nicht gerade als einer der friedfertigsten Staatslenker bekannt, bemerkte zur Diplomatie: „Die Pflicht des Diplomaten besteht in wechselseitigen und unaufhörlichen Konzessionen.“

Auf dem Gipfel von Vilnius im vergangenen November schlugen die Unterhändler der EU das Ersuchen Kiews und Moskaus um dreiseitige Verhandlungen über die Beziehungen zur Ukraine aus. EU-Kommissionspräsident Barroso erklärte, „irgendeine Beteiligung Dritter” an einem bilateral zwischen der EU und einem anderen Staat verhandelten Abkommen als inakzeptabel [1]. Stattdessen legte man dem ukrainischen Präsidenten nahe, das EU-Assoziierungsabkommen unter Erfüllung aller politischen EU-Kriterien und ohne weitere wirtschaftliche Unterstützung zu unterzeichnen. Daraufhin bot Russland der Ukraine bilateral Wirtschaftshilfe im Umfang von 15 Milliarden Dollar und eine schon lange ersehnte Senkung der Preise für russisches Erdgas an – ein Angebot, das Kiew nicht zuletzt in Anbetracht der gravierenden wirtschaftlichen Probleme des Landes schwerlich ausschlagen konnte.

„Statt deeskalierend zu wirken, hat die Europäische Union die Spannungen in der Ukraine angeheizt.“

Für die proeuropäischen Teile der ukrainischen Bevölkerung, die die Regierung Janukowitsch als Handlanger Moskaus verabscheuen und sich eine engere Anbindung an Europa wünschen, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die große Protestwelle der vergangenen zwei Monate auslöste. Deutschlands ehemaliger Außenminister Joschka Fischer, durchaus kein Anhänger außenpolitischer Zurückhaltung, übte angesichts der Ereignisse seit November vergangenen Jahres im Januar scharfe Kritik an der europäischen Ukraine-Politik: „Wieso kam angesichts dieser allseits bekannten Fakten die EU ausgerechnet jetzt auf die Idee, die proeuropäische Entwicklung der Ukraine mittels der Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens zu forcieren, ohne dem Land wirklich etwas Vergleichbares wie Moskau anbieten zu können?“ [2]. Fischers handwerkliche Kritik der Ukraine-Politik der EU ist ein beredtes Zeugnis der blamablen Inkohärenz, mit der man hier vorging.

Statt deeskalierend zu wirken, hat die Europäische Union die Spannungen in der Ukraine angeheizt. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hatte schon unmittelbar nach dem Gipfel in Vilnius schwere Fehler in der europäischen Ukraine-Politik eingeräumt: „Ich glaube, wir haben auch die Dramatik der innenpolitischen Situation in der Ukraine unterschätzt“, sagte er im Deutschlandfunk und fügte hinzu „Die Ukraine bekommt, wenn Sie mal die Angebote aus Moskau ansehen, kurzfristige Hilfe, die wir als Europäer in dieser Form nicht leisten können“. Diese Einsicht ist begrüßenswert, hinderte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso aber nicht, der Ukraine letzte Woche Sanktionen anzudrohen. Unbeirrt forderte er die Ukraine auf, „auf den Weg der demokratischen Reformen, des Pluralismus, der Demokratie zurückzukehren“ [3]. Hat Barroso vielleicht nicht begriffen, was geschehen ist? Die EU hat gerade die größte internationale Krise auf dem europäischen Kontinent seit dem Jugoslawienkrieg der neunziger Jahre ausgelöst.

„Im schlimmsten Fall steht die Ukraine vor der gewaltsamen Unterdrückung des Aufstands oder einem Bürgerkrieg.“

Inzwischen steht die Ukraine im schlimmsten Fall vor der gewaltsamen Unterdrückung des Aufstands oder einem Bürgerkrieg. Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow hält einen Zerfall des Landes nicht mehr für ausgeschlossen. Sollte der Protest unterdrückt werden, werde danach zwischen dem Osten und ukrainisch-sprachigen Westen des Landes „eine unwahrscheinlich tiefe Trennlinie klaffen. Im Prinzip wird Janukowitsch in der Westukraine als Okkupator aufgefasst werden“, sagte er der österreichischen Zeitung Die Presse [4] Sollte sich die Bevölkerung der prowestlichen Landesteile der Ukraine durch demokratische Verfahren für eine Föderation oder gar Sezession entscheiden, was auch Kurkow als Möglichkeit für die Beilegung des Konflikts betrachtet, so ist das ihr gutes Recht. Ob es eine gute Entscheidung wäre – für sie selbst, für Europa und die zwischenstaatlichen Beziehungen auf dem Kontinent – ist eine andere Frage. Doch das ist hier nicht der Punkt.

Der Punkt ist, dass das Vorgehen der EU eine Konflikteskalation mit ungewissem Ausgang verursacht hat. Und das steht in deutlichem Widerspruch zum Anspruch der Union, als Friedensmacht zu wirken, der ja einen Kernbestandteil ihrer Legitimation bildet. Darauf werden wir gerade in diesem Jahr des Gedenkens an den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor hundert Jahren immer wieder verwiesen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Osteuropapolitik besteht offenkundig eine gewisse Diskrepanz.

Die Frage ist, woher das kommt. Eine zentrale Ursache ist ohne Zweifel der missionarische Eifer, der die EU in der Selbstwahrnehmung gefangen hält, eigenhändig und scheinbar ohne Rücksicht auf schnöde Dinge wie nationale Interessen, geopolitische Machtverhältnisse, schlichte innenpolitische Stabilität oder historisch gewachsene Bindungen eine Weltverbesserungspolitik zu betreiben, die Europas „Werteführerschaft“ weltweit unter Beweis stellen soll.

„Erweiterungsdrang nannte man früher einmal Imperialismus, und verstand darunter etwas Negatives.“

In der Präsentation der Europäischen Nachbarschaftspolitik beruft man sich gerne auf die EU als „Wertegemeinschaft“. So heißt es im Vertrag von Lissabon: „Die Union entwickelt besondere Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft, um einen Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“ [5]. So schnöde Dinge wie Interessen- oder Machtpolitik betreiben nach diesem Selbstverständnis nur die „anderen“, vorgeblich rückständigen Kräfte, die so umnachtet sind, dem Vormarsch dieser europäischen „Soft Power“ widerstehen zu wollen. Dass in der Ukraine-Politik der EU Sicherheits-, und Wirtschaftsinteressen eine Rolle spielen, ist legitim, wird so aber durch den Gestus moralischer Überlegenheit verbrämt, der Interessensverhandlungen auf Augenhöhe schon im Ansatz erschwert. Auch das trägt zur Eskalation von Spannungen in Europa bei. Hinzu kommt dann noch der genannte Erweiterungsdrang. Ob der tatsächlich in Europas Interesse liegt, ist fraglich.

Erweiterungsdrang nannte man früher einmal Imperialismus, und verstand darunter etwas Negatives. Heute spricht man in der Politologie mancherorts unverfroren vom „Empire“ als progressiver Überwindung des Nationalstaats; andere sprechen technisch neutraler von „Externalisierung“ des europäischen Politik- und Wirtschaftsmodells [6]. Als „böse“ Mächte werden die an den medialen Pranger gestellt, die diesem Erweiterungsdrang – ob willentlich oder weil sie nicht anders können – irgendwie im Wege stehen oder mit dem moralischen Empire faktisch und rhetorisch nicht konkurrieren können.  Soft Power ist die neue rhetorisch verbrämte Macht – und, wie sich zeigt, nicht unbedingt immer eine zum Guten.

Dahinter steht sicher keine böse Absicht, aber bekanntlich ist der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Es ist eher Verblendung und Geschichtsvergessenheit. Das Problem Europas ist die Konstruktion einer auf moralische Überlegenheit abhebenden Außenpolitik. Sie erzeugt viel größeren Zwist, als eine Politik des vernunftbasierten Interessensausgleichs, die die Welt, wie sie ist, erkennt, um sie dann, wo nötig, gemeinsam friedlich und mit kluger Diplomatie zu verbessern. Es wäre schön, in den Europawahlen eine Partei wählen zu können, die gegen die nun zu erwartende große Schock- und Horrorkampagne gegen Wiktor Janukowitsch und Konsorten Stellung bezieht, mit der man diese Niederlage der europäischen Außenpolitik aus den Schlagzeilen zu verdrängen versuchen wird.

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