01.01.1999

Das “Dope Sheet”, das die Welt täuschte

Von Graham Barnfield

Medienforscher Graham Barnfield verfolgte die Spur eines Erläuterungstextes zu den ITN-Aufnahmen aus Trnopolje in die ITN-Zentrale in London zurück.

ITN-Chefredakteur Richard Tait lobte kürzlich in einem Angriff gegen das vom britischen Nachrichtensender ITN verklagte Magazin LM seine Leute; sie hätten im Hinblick auf die Lagergeschichten aus Bosnien große Zurückhaltung gezeigt. Erneut bekräftigte er: "Wir haben sie nie als Konzentrationslager bezeichnet. Es waren die Zeitungen, die das taten" (Spectator, 24.5.1997).

Tatsächlich wurden aber Omarska und Trnopolje nicht von unbedarften Tageszeitungen einfach so mit der Bezeichnung "Konzentrationslager" versehen: Die Bezeichnung tauchte bereits mit den ITN-Bildern auf, bevor irgendein Zeitungsredakteur von diesen wissen konnte. Sie wurde in einem Dokument der Medienanstalt Worldwide Television News (WTN), die in enger Verbindung zu ITN steht, als Erklärungstext für das Filmmaterial verbreitet. Im Fachjargon wird ein solcher Text "dope sheet" genannt.

WTN verkaufte das ITN-Filmmaterial zusammen mit einer Inhaltsangabe jeder Filmsequenz – diese wird als "shot list" bezeichnet – und der Interpretationshilfe, das "dope sheet". Im Anschluss an die Inhaltsangabe mit Ausführungen wie "sehr dünner Mann gibt Penny Marshall die Hand, verschiedene Flüchtlinge" usw., folgte der sehr informative "dope sheet"-Text:

"Ein britisches Nachrichtenteam hat den ersten unabhängigen Beweis dafür, dass die serbischen Befehlshaber in Bosnien-Herzegowina Konzentrationslager betreiben."

Als das ITN-Material per Satellit die Reise rund um die Welt antrat, wurde es begleitet von diesem "dope sheet", mit der Bezeichnung also, von der ITN heute behauptet, sie nie benutzt zu haben.

Der Übertragungsvermerk auf diesem Dokument zeigt: Das "dope sheet" wurde mit dem Filmmaterial versandt, noch bevor ITN die Bilder erstmals ausgestrahlt hatte. Das heißt: Die Behauptung, ITN hätte "Beweise" für Konzentrationslager, war bereits in Umlauf, bevor Zeitungsmacher, die sich Überschriften wie "Belsen 92" (Daily Mirror) oder "The Proof" (Daily Mail) ausdachten, überhaupt etwas von dem Filmmaterial zu sehen bekommen hatten. Das Fernsehen ging voran – die Zeitungen folgten nur.

Wer aber war verantwortlich für das "dope sheet", das als erstes der Welt verkündete, die ITN-Bilder wären der Beweis für Konzentrationslager?

In Europa wurde das ITN-Filmmaterial über die European Broadcast Union (EBU) vertrieben, die die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fernsehsendern unterstützt. Die niederländischen, deutschen und türkischen Sender, die ausdrücklich Parallelen zwischen den ITN-Bildern und Nazi-Lagern zogen, waren alle Mitglieder der EBU. Doch die EBU schreibt keine eigenen "dope sheets"; sie erhält sie von den Filmlieferanten, in diesem Fall also von WTN. Was also hat es mit WTN auf sich?

WTN war bis 1967 unter dem Namen UPI im Geschäft, bis es eine Kooperation mit ITN einging. Die Partnerschaft mit ITN wurde 1982 gelöst, und der amerikanische Fernsehsender ABC erwarb 80% der Anteile an WTN. ITN hält jedoch noch immer 10% und ist damit der größte britische Anteilseigner. ITN und WTN nutzen gemeinsam neues Filmmaterial und ein zentrales Archiv. Zudem war der ITN-Manager Stuart Purvis bis 1995 Vorstandsmitglied bei WTN. Selbst die Logos der beiden Gesellschaften sind fast identisch. All dies verweist auf eine sehr enge Zusammenarbeit.

Weitere Aufschlüsse könnten die folgenden Informationen über die Entstehung eines "dope sheet" erbringen: Es ist im Filmgeschäft üblich, dass das Kamerateam die Informationen für den Begleittext liefert. Auch WTN-Quellen bestätigten, dass normalerweise das Kamerateam die Texte verfasst, die den Filmen beigefügt werden. Und jeder, der bei ITN Material bestellt, erhält außerdem eine "shot-list" aus der zentralen Datenbank.

Eine wohl wollende Interpretation mag also davon ausgehen: Der Text, dem es laut Richard Tait an "Zurückhaltung" mangelt, stammt von einer ITN sehr eng verbundenen Organisation. Weder ITN noch WTN bemühten sich jedoch, die Sache aufzuklären, nachdem Dutzende von EBU-Mitgliedern besagte Information erhalten hatten. So wurde Trnopolje in den Augen der Welt zu einem Konzentrationslager.

Verzichtet man auf allzu viel Wohlwollen und geht davon aus, dass alles abgelaufen ist, wie es normalerweise abläuft, so muss man annehmen, dass das ITN-Team das "dope sheet" selbst verfasst hat. Leider konnte ich Richard Tait nicht ans Telefon bekommen, um seine Variante der vertrackten Geschichte zu erfahren. Wie auch immer: Wer die ganze Wahrheit über die ITN-Lagerberichte erfahren möchte, kann sich wohl nicht darauf beschränken, sensationshungrige Zeitungsredakteure zu verdächtigen.

 

aus: Novo, Nr.29, Juli/August 1997, S.31

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