01.11.2004

Brüsseler Kulturrevolution am Bosporus

Analyse von Sabine Reul

Brüsseler Kulturrevolution am Bosporus

Als die Türkei 1952 der NATO beitrat und 1963 das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschlossen wurde, herrschte Kalter Krieg. Die Aufnahme der Türkei in führende Institutionen der westlichen Welt war damals ein ebenso pragmatischer wie unkontroverser Schritt. Gequälte Debatten über die Verträglichkeit von Orient und Okzident oder gar Furcht vor einer drohenden Zerstörung der europäischen Identität, wie sie aktuell nicht nur in Deutschland die Debatte über die angestrebte EU-Mitgliedschaft der Türkei prägen, waren damals unbekannt.

Der Grund: Im Kontext des Kalten Krieges galt die Türkei nicht nur als unverzichtbare Stütze des Westens an der Brücke zwischen Europa und Asien. Die westlichen Industrienationen befanden sich zudem auf dem Höhepunkt des politischen Wiederaufbaus und eines phänomenalen Wirtschaftsaufschwungs. Zuversicht und ein hohes Maß an Vertrauen in die Legitimität und Ausstrahlungskraft des westlichen Gesellschaftsmodells prägten die Lage. Die Vertiefung der Beziehungen Europas und insbesondere Deutschlands zur Türkei war damals nur eine von vielen Maßnahmen im Tagesgeschäft der westlichen Bündnispolitik, mit der sich weder exzessive Erwartungen noch dramatische Befürchtungen verbanden.
Ganz anders die Lage heute: die Befürworter der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, allen voran die deutsche Bundesregierung und ihr Erweiterungskommissar Günther Verheugen, versprechen sich von diesem Beitrittsprojekt bahnbrechend positive Auswirkungen auf nahezu jeden Aspekt der Weltlage. Erwartet werden positive Impulse sowohl für den europäischen Einigungsprozess als auch für das gespannte Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Welt. Nebenbei erhofft man sich eine Verbesserung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, denn auch die USA befürworten die Aufnahme der Türkei in die EU. Von der Ausdehnung der EU nach Kleinasien erwartet man zudem die Stärkung des seit dem Irakkrieg verblassten außenpolitischen Profils der Berliner Republik und der bisher glanzlosen gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik und somit erweiterte globale Handlungsfähigkeit – inklusive positiver Nebenwirkungen für den Nahostkonflikt.
Am Bosporus soll, so die Erwartung, ein Modell geglückter Koexistenz zwischen Islam und Demokratie entstehen, das auch den islamischen Terrorismus eindämmen helfe. Durch Annäherung statt Konfrontation will Europa als Gegenmodell zum Irakkrieg und dem „Kampf der Kulturen“ in der Weltpolitik neue Akzente setzen. Mit der Übernahme des gesamten europäischen Acquis communautaire soll die Türkei nach dem Wunsch der Beitrittsbefürworter das erste nicht westlich geprägte Land werden, das – von der Tierhaltung und Lebensmittelkontrolle bis zum Eherecht – europäische Normen umsetzt. Frieden schaffen durch EU-Direktiven statt Waffen – so lautet offenbar Europas neue politische Doktrin.

„Das ganze Beitrittsprojekt ist eindeutig keines für den Import islamischer Werte und Gewohnheiten nach Europa, sondern für den Export europäischer Normen in die Türkei.“

Ob diese Erwartungen realistisch sind, wird aktuell kaum kritisch diskutiert, da die Gegner des Türkei-Beitritts sich auf eine Argumentationsebene begeben haben, die mehr zu Verwirrung als zur Klärung dieser Frage beitragen. Wenn die deutschen Unionsparteien argumentieren, mit der Aufnahme der Türkei in die EU drohten dieser sicherheitspolitische Herausforderungen, denen sie überhaupt nicht gewachsen sei, ist das zwar ohne Zweifel ein ernstzunehmendes Sachargument. In der Tat würde die Ausweitung der EU-Außengrenzen bis nach Iran, Syrien, Irak und an den Kaukasus die außen- und militärpolitischen Kapazitäten Europas, jedenfalls so wie diese und das Konfliktpotenzial jener Region derzeit beschaffen sind, weit übersteigen. Aber das ist auch mehr oder weniger das einzige wirklich stichhaltige Argument der Gegner des Beitrittsprojekts.
Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht dagegen die Befürchtung, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei berge neben hohen finanziellen Belastungen und möglicher vermehrter Zuwanderung die Gefahr der „Aufweichung“ der europäischen Identität und Werteordnung durch Laschheit gegenüber fremden religiösen Dogmen und Sitten. Dieser Vorwurf geht an der Sache vorbei.
Eine Gefährdung der kulturellen Verfasstheit Europas durch die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist weder vorgesehen noch zu erwarten. Das ganze Beitrittsprojekt ist eindeutig keines für den Import islamischer Werte und Gewohnheiten nach Europa, sondern für den Export europäischer Normen in die Türkei. Und von Laschheit kann bei der ganzen Sache schon gar nicht die Rede sein.

Die Anforderungen, denen die Türkei sich stellen soll, sind außerordentlich hoch. Vor einem Beitritt in die Europäische Union müsste das Land am Bosporus die 1993 in Kopenhagen verabschiedeten politischen, wirtschaftlichen und administrativen Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder in die EU erfüllen. Sie reichen von der „institutionellen Stabilität“ als Garantie von Demokratie und Rechtstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes über die Entwicklung einer funktionstüchtigen und innerhalb der EU wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft bis zur Übernahme des gesamten Rechtsbestands der Union mit seinen 80.000 Seiten Verordnungen und Richtlinien in die türkische Gesetzgebung. Um sich nach diesen Kriterien für die Aufnahme in die EU zu qualifizieren, soll sich die Türkei, sofern die Europäische Kommission im Dezember tatsächlich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschließt, nicht nur einer zehn Jahre währenden Überprüfung aller Lebensbereiche ihrer Gesellschaft unterwerfen. Sie müsste am Ende des ganzen Prozesses ein absolutes europäisches Musterland geworden sein.
Die Beunruhigung der Beritrittsgegner und der wachsenden Schar der Beitrittsskeptiker in Frankreich ist durchaus verständlich, denn das klingt in der Tat irreal. Doch ihre Vorstellungen liegen weniger weit von denen der Befürworter des Türkei-Beitritts entfernt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Während die Gegner einer europäischen EU-Mitgliedschaft die Türkei auf Distanz halten möchten, wollen die anderen sie auf Beitrittsreife vorbereiten. Aber auch die Beitrittsbefürworter halten die kulturelle „Andersartigkeit“ der Türkei für ein derart enormes Problem, dass sie an deren Aufnahme in Europa Bedingungen knüpfen, die zunehmend exaltiert erscheinen.

„Der Beitrittsprozess läuft darauf hinaus, die Türkei zu Bedingungen an Europa heranzuführen, die jedes europäische Land sich verbitten würde.“

Dabei ist die wirklich brisante Frage, in was für ein Europa die Türkei unter diesen Vorzeichen eigentlich integriert werden soll. Schon jetzt wurde eine demokratische Abstimmung im türkischen Parlament, in der die Mehrheit der Abgeordneten für die Aufnahme einer Regelung gegen den Ehebruch ins Strafgesetzbuch stimmte, von der Regierung nach entsprechender Anweisung aus Brüssel kurzerhand kassiert. So sah europäische Demokratie und Freiheit bislang nicht aus. So, wie er derzeit konzipiert ist, läuft der Beitrittsprozess darauf hinaus, die Türkei zu Bedingungen an Europa heranzuführen, die jedes europäische Land sich verbitten würde.
Zwar besteht kein Anlass, an den guten Absichten der Beitrittsbefürworter zu zweifeln. Doch umso mehr fragt sich, was das alles wirklich soll. Das Wohl der Türkei, um das es bei der Frage der Aufnahme eines neuen Mitgliedslandes wohl in erster Linie gehen müsste, spielt in dem ganzen Prozess eine Nebenrolle. Das ist eine deutliche Abkehr von den Gepflogenheiten im Umgang mit den früheren europäischen Beitrittskandidaten. Das ganze Vorhaben ist primär darauf angelegt, europäische Ambitionen zu verwirklichen, von denen sich erst noch erweisen muss, ob sie realistisch sind und sich obendrein mit den Interessen der Türkei und seiner Bevölkerung wirklich so nahtlos decken, wie die Beitrittsbefürworter suggerieren. Und dieser Widersprüchlichkeit des ganzen Vorhabens versucht man offenbar dadurch zu begegnen, dass man die politischen Aufnahmekriterien gegenüber der Türkei in einer Brachialität anwendet, die mit dem gewohnten diplomatischen Prozedere keinerlei Ähnlichkeit mehr aufweist.
Von der Türkei wird erwartet, ihre überwiegend islamische Bevölkerung bis in Fragen der zivilen Lebenskultur und Geschlechterbeziehungen auf neueste europäische Vorgaben umzustellen, die selbst im alten Kerneuropa zwar auf Brüsseler Papier, aber nicht im wirklichen Leben unumstrittene Geltung erlangt haben. Sie soll sich industrialisieren und ihre starke Abhängigkeit von der Landwirtschaft abbauen – doch natürlich ohne gegen europäische Umweltstandards zu verstoßen. Obgleich die Türkei bekanntermaßen einer Region angehört, die nicht nur historisch, sondern noch heute von Nationalitätenkonflikten geprägt ist, wird in Frankreich seit neuestem auch gefordert, sie solle zum Beleg ihrer Europawürdigkeit in der Frage des Genozids an den Armeniern von 1915-16 eine innenpolitische Kampagne zur Vergangenheitsbewältigung aufs Parkett legen. Und zu guter Letzt heißt es schließlich, mit der Erfüllung des bloßen Wortlauts europäischer Direktiven sei es keineswegs getan. Erforderlich sei vielmehr ein durchgreifender „Mentalitätswandel“.

Offensichtlich wird hier die Latte immer höher gelegt. Zweifel der türkischen Regierung, ob das alles wirklich in ihrem Sinne ist, wären sicher angebracht. Denn ob die Türkei diesen orwellianischen Parcours überhaupt durchstehen kann, ist die Frage. Auch wenn allen Umfragen zufolge in der Türkei die Perspektive eines EU-Beitritts zurzeit mit Begeisterung aufgenommen wird, muss das nicht so bleiben. Dass die von außen oktroyierte türkische Kulturrevolution wie am Brüsseler Reißbrett entworfen verläuft, ist nicht ausgemacht.

Dem Vorgehen der EU und insbesondere ihres deutschen Erweiterungskommissars Verheugen liegen offenkundig mindestens zwei Annahmen zugrunde, deren eingehende Prüfung dringend anzuraten wäre. Zum einen scheint man davon auszugehen, dass der relativ reibungslose Prozess der Osterweiterung der EU sich ohne weiteres auf die Türkei übertragen ließe. Dabei wird möglicherweise vergessen, dass das alte System in Osteuropa nicht durch externe Umerziehung ausgehebelt wurde, sondern von selbst zerbrach, bevor die EU die Früchte dieses Zusammenbruchs einfahren konnte.
Zum zweiten scheint man sich vor dem Hintergrund des amerikanischen Irakdebakels in ein neues Dogma verliebt zu haben, nach dem Kriege öfter misslingen, nicht-militärische Interventionen dagegen nie. Dafür spricht nach allen Erfahrungen mit den europäischen Auslandsprojekten vom Balkan bis nach Afghanistan im vergangenen Jahrzehnt nicht viel. Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker hat sich grundsätzlich überhaupt nicht bewährt, ob sie nun militärisch oder nicht-militärisch waren. Das vorgesehene Crash-Program zur Europäisierung der Türkei sieht erst recht so aus, als sei es geradezu prädestiniert, Spannungen zu erzeugen, die nicht nur die Integrationskraft der Regierung Erdogan überfordern könnten.

Deshalb wäre zu wünschen, dass der Europäische Rat im Dezember eine klare Entscheidung träfe. Entweder sollte man der Türkei nach allen schon erbrachten Vorleistungen die umgehende Aufnahme in die EU anbieten. Das wäre trotz allem ein Signal des Vertrauens, auf das die Kooperation auf beiden Seiten des Bosporus bauen kann. Oder aber man bricht den Prozess ab, weil dieses Vertrauen fehlt. Denn ob eine Brüsseler Kulturrevolution wirklich das ist, was die Türkei oder Europa voranbringt, wäre von Grund auf zu hinterfragen.

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