01.11.2008

Brief aus Berlin: Picknick mit den Hell’s Angels

Kommentar von Klaus Bittermann

Mit Hunter S. Thompson auf dem Campaigntrail 1972.

„Der beste Bericht über amerikanische Politik“, war in der New York Times Book Review zu lesen, und George McGovern, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten 1972, von dessen Kampagne die Reportage handelt, meinte, es sei das „wertvollste Buch über den Wahlkampf“. 1972? Das ist lange her. Angst und Schrecken im Wahlkampf von Hunter S. Thompson ist also in erster Linie eine historische Angelegenheit, aber es wäre nicht der berühmte Gonzo-Autor, wenn das Buch nur eine historische Dimension hätte. Der literarische Aspekt von Thompsons Büchern allein macht die Lektüre zu einem Genuss; ein Adrenalinschub der besonderen Art, der für Fans unverdaulicher Grass-Bücher nur schwer nachzuvollziehen ist.

Wer Hunter S. Thompson bislang nur als verrückten Drogenfreak kennt, der in seinem erfolgreichsten Bestseller Angst und Schrecken in Las Vegas dem amerikanischen Traum nachjagte, lernt ihn in diesem Buch als politischen Publizisten kennen, der das Besondere jener 72er-Wahl aufspürte, die von entscheidender Bedeutung für die Amerikaner war, denn es drohten immerhin weitere vier Jahre Nixon – „ein Mann ohne Seele, ohne innere Überzeugungen, mit der Integrität einer Hyäne und dem Stil einer giftigen Kröte“. Thompson war 1968 auf dem Parteikonvent der Demokraten in Chicago von den Ordnungshütern verprügelt und durch eine Schaufensterscheibe gestoßen worden. Das war sein politisches Erweckungserlebnis und ursächlich dafür, dass er in seinem Wohnort Aspen für das Sheriff-Amt kandidierte und es auf dem Freak-Power-Ticket auch fast geschafft hätte. Der Rolling Stone beauftragte ihn schließlich, über die Wahlkampagne 1972 zu schreiben. Das hieß für ihn, ein Jahr lang auf Hochtouren kreuz und quer durch das Land zu jetten, auf den Fersen der demokratischen Kandidaten, die gegen Nixon in den Ring steigen wollten. Aber wer hatte überhaupt Chancen? „Muskie ist ein Holzkopf, der seine besten Sätze aus alten Nixon-Reden stiehlt. McGovern ist zum Scheitern verurteilt, weil jeder, der ihn kennt, so viel Respekt für ihn hegt, dass er dem armen Kerl nicht zumuten mag, am Präsidentschaftsrennen teilzunehmen ... John Lindsay ist eine Niete, Gene McCarthy ist irre, Humphrey ist fertig und nutzlos, Jackson hätte lieber gleich im Bett bleiben sollen ... und, na ja, damit wäre die Lage wohl geklärt, oder?“

Nicht wirklich, denn sonst hätte er nicht weitere 450 Seiten darauf verwandt, den Verwerfungen dieses Wahlkampftrips nachzugehen. Ed Muskie hatte die Parteibürokratie hinter sich und galt als der haushohe Favorit, solange sich Ted Kennedy nicht einmischen würde, aber bereits nach den ersten Wahlen warf er das Handtuch, denn vollkommen überraschend stahl George McGovern allen die Show. Er war nicht erst gegen den Vietnamkrieg gewesen, als sogar Nixon anfing, den Rückzug vorzubereiten. Er war der Einzige, der nicht erklären musste, warum für ihn diese Geschichte „ein Fehler“ gewesen war. McGovern war ein Mann der Linken, der sowohl in Wahlkreisen mit niedrigem Durchschnittseinkommen als auch „als Kandidat des Wandels“, wie ihn sein Wahlkampfmanager Frank Mankiewicz beschrieb, bei der amerikanischen Mittelschicht, aber auch bei den Studenten, Hausfrauen, Farmern und Fabrikarbeitern gut ankam durch die direkte und geradlinige Art, mit der er seine Steuerreformpläne erläuterte und in aller Herrgottsfrühe vor den Betrieben den Malochern die Hand schüttelte. Er wirkte aufrichtig und erweckte den Eindruck, „dass er auch an das glaubt, was er sagt“. Muskie verließ sich auf die Partei und machte in Florida Wahlkampf vom Zug aus. Das „Rassistenmonster“ George Wallace trat auf „wie ein Bühnenkünstler“, nur um nicht zu sehr in die Nähe der Massen zu geraten. Jedenfalls war es eine ungeheure Tortur, die verschiedenen Kandidaten im Auge zu behalten und tatsächlich dabei zu sein, wenn sie mit ihrem Tross durchs Land reisten und immer wieder die gleichen Phrasen absonderten, bevor sie sich am Wahlabend eingestehen mussten, dass sie ein paar Millionen verpulvert hatten.

Zwar galt Thompson als „gemeingefährlicher Alkoholiker und berüchtigter Konsument harter Drogen“, aber eine gewisse Art von Drogenabhängigkeit war in Wahlkampfkreisen sowieso weit verbreitet. Da wurden hemmungslos Downer und Speed eingeworfen, sodass selbst Thompson der Wahlkampf mehr und mehr wie ein „Picknick der Hell’s Angels“ vorkam. Um es kurz zu machen: McGovern hatte Erfolg mit seiner kuriosen Idee, „einen stummen Kriegstanz auf dem Leichnam der Demokratischen Partei“ abzuhalten und trotzdem zum Kandidaten gekürt zu werden. Aber sobald es gegen Nixon ging, gab er seinen erfrischenden Wahlkampf auf und versuchte, die alten Parteibosse für sich zu gewinnen. Auf der Suche nach einem Vize bekam er von Humphrey öffentlich eine Abfuhr, Ted Kennedy zierte sich, um seine Chancen auf die Wahlen 1976 nicht zu gefährden, weshalb McGovern Tom Eagleton zu seinem Vize ernannte. Dass sich mit diskreter Hilfe des FBI herausstellte, dass der wegen „suizidaler Absichten“ schon mal in einer Psychiatrie mit Elektroschocks behandelt worden war, spielte Nixon in die Hände. Es gelang ihm spielend, die McGovern-Truppe als chaotischen Haufen von Irren darzustellen. Und obwohl Nixon die Presse an der kurzen Leine hielt und ein mieser Wahlkämpfer war, reichte es ihm aus, einfach keinen entscheidenden Fehler zu machen, um einen erdrutschartigen Sieg einzufahren, der auf mehr schließen ließ als auf ein zerstrittenes Erscheinungsbild der Demokraten. Die Amerikaner hatten genug von den ständigen Unruhen, Demonstrationen und Protesten der Antikriegs-Linken. Sie sehnten sich nach Ruhe und Ordnung und nach der Beendigung des Vietnamkriegs, und dabei schien man sich lieber auf Nixon zu verlassen.

Wirft man einen massenpsychologischen Blick auf die damaligen Wahlen, dann eröffnen sich einige überraschende Perspektiven, die aus dem Buch eben mehr als eine Geschichtslektion machen. Auch McGovern sah sich dem „Wandel“ verpflichtet, mit dem Obama seiner Vision eine vage Kontur gibt. Auch McGovern kam mit seiner Geradlinigkeit bei den jugendlichen Wählern gut an, die als Zünglein an der Waage galten, wenn es knapp auf knapp gekommen wäre. Aus dem Desaster von McGovern konnte Obama lernen, dass er sich keinen entscheidenden Fehler leisten darf. Immerhin sah es so aus, als ob er die demokratische Parteitagsmaschinerie auf sich einschwören konnte. Aber obwohl die Republikaner vollkommen abgewirtschaftet haben und Obama die Macht wie eine schon fast überreife Frucht in den Schoß fallen müsste, ist es unklar, ob die Amerikaner Obama zutrauen, den Irakkrieg und den Zusammenbruch der Finanzmärkte zu meistern. In der Krise nämlich wächst bei unentschiedenen Wählern die Neigung, doch lieber auf die Konservativen zu setzen, egal, wie sich diese Politik desavouiert hat.

Insofern ist Angst und Schrecken im Wahlkampf auch ein Lehrstück darüber, wie so ein Wahlkampf funktioniert, der ja durchaus seine faszinierenden Seiten hat, die allemal spannender sind als die hölzernen Tiraden deutscher Trantüten aus allen Parteien. Jenseits aber von den verschiedenen Interpretationen und Deutungen besticht das Buch durch seinen Autor, der frei nach H.L. Mencken schonungs- und respektlos mit den Politikern umgeht, was die Lektüre aufregend und lustig macht. Jedenfalls würde man Ulrich Deppendorf niemals über einen Kanzlerkandidaten sagen hören, dass er ihn für einen „heimtückischen und feigen Stimmviehfänger“ hält, „den man in eine gottverdammte Flasche stecken und der japanischen Meeresströmung überlassen sollte“, obwohl Politiker durchaus Dinge auf dem Kerbholz haben, die solche Aussagen rechtfertigen.

Es ist ein großartiges Buch, dem es allerdings nicht viel helfen wird, dass Heyne im Titel den Hinweis auf 1972 weggelassen hat. Es wird sich vermutlich trotz dieses kleinen Tricks nicht gerade rasend verkaufen, was den Verlagsvertretern und Vertriebsmenschen wahrscheinlich schon im Vorfeld schwer im Magen lag, weshalb hier Markus Nägele, dem Mann im Hintergrund, der den Deal eingefädelt hat und die treibende Kraft war, die Heyne das Kuckucksei ins Nest schmuggelte, große Anerkennung gezollt werden soll, ebenso wie der grandiosen Übersetzung von Teja Schwaner, der den Sound von Thompsons Sprache kongenial eingefangen hat. Das zumindest musste gesagt werden, bevor ich Hunter S. Thompson das Schlusswort überlasse, dem das alchemistische Kunststück gelang, aus Wahlkampfberichterstattung Literatur gemacht zu haben: „‚Behalten Sie stets Ihren klaren Kopf‘, sagte Mankiewicz. ‚Ziehen Sie keine Schlüsse aus dem, was Sie sehen oder hören.‘ Ich hängte ein und trank noch mehr Gin. Dann legte ich eine Dolly-Parton-Kassette ein und sah zu, wie die Bäume vor meinem Balkon vom Wind gepeitscht wurden. Gegen Mitternacht, als der Regen aufhörte, zog ich mein Miami-Beach-Spezialhemd an und ging zu Fuß mehrere Blocks auf dem La Cienega Boulevard hinunter in den Loser’s Club.“

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