01.07.1999
Brief an Goethe
Satire von Sinasi Dikmen
Lieber Onkel Goethe
Ich sende Dir Tausende herzliche Grüße und küsse Dir die alten weichen Hände, und ich frage Dich mit aller Höflichkeit und Respekt: Wie geht es Dir? Schaffst Du noch? Kannst Du es noch aushalten mit Deinen Deutschen, die Dich ständig loben, aber hinter Deinem Rücken behaupten, daß Du doch nicht so fortschrittlich gewesen wärest wie Schiller? Wer ist der Typ? Kenne ich ihn? Hast Du ihn gemocht, und er Dich?
Onkel Goethe, ich habe so viele Fragen, aber die kannst Du mir ja doch nicht beantworten, weil Du keine Zeit dafür hast. Aber ich habe auch etwas Schönes zu berichten, paß’ mal auf:
Ich war in Berlin. In der Reichshauptstadt. Mensch, Onkel Goethe, die Stadt hat solche schönen Häuser und Straßen, und Geschäfte und Autos. Deshalb heißt die Stadt Reichshauptstadt, weil sie so reich ist. Warst Du mal in Berlin? Ein Deutscher, mit Bart und Nickelbrille, der mit mir im Zug saß und ein Buch las: Gespräche mit G. in den letzten Jahren seines Lebens, von einem Johann Peter Eckermann, also dieser Mensch behauptete, Du hättest Berlin nie gemocht. Das sagte er mir, als wir von Berlin zurückfuhren. Er sah, daß ich schrieb. Wollte wissen, wem ich den Brief schreibe. Ich sagte ihm: “Einem Onkel, den ich noch nie gesehen habe.” “Aha”, sagte er, “das ist ja interessant, wo wohnt denn dieser Onkel?” “Ich weiß es nicht.” “Ja, Jungchen, wohin willst du denn den Brief dann schicken?” “Ich werfe ihn in den Briefkasten mit der Adresse: An Onkel Goethe, und das ist alles. Kein Brief ist bis heute zurückgekommen.” Er lachte, streichelte mir den Kopf und sagte: “Junge, aus Dir wird was.” Mein Onkel lsmet dagegen behauptet immer, aus mir würde nichts werden. Ist ja auch egal.
Daß Du Berlin nicht gemocht hast, glaube ich aber nicht. Der Typ hatte so eine komische Sprache, so wie einer, der aus dem Ausland kommt. So einen komischen Ausländer habe ich aber auch noch nicht in der Türkei gesehen. Obwohl fast alle Türken in der Türkei Ausländer sind. Die Türken in der Türkei seien Ausländer in Deutschland, aber die Türken in Deutschland seien kein Ausländer. Ich habe nichts verstanden, aber so ist das, sagte Onkel lsmet.
Berlin ist schön, groß, fremd, fast ausländisch, und reich. Eine Tante von meiner Mutter hatte uns eingeladen. Sie wohnt in Berlin. In Schöneberg. So schön ist dieses Schöneberg nun auch wieder nicht, aber der Kurfürstendamm: So viele Menschen findest Du in Frankfurt auf der Zeil nur dann, wenn der Markt auf der Konstabler stattfindet. Auf dem Ku’damm, so nennen sie ihn in Berlin, erwischte ich meinen Vater, wie er den schönen Frauen Blicke hinterherwarf. Das unterstellt ihm meine Mutter zwar sowieso immer, aber da bekam ich es zum ersten Mal mit. Ich weiß nicht, warum die erwachsenen Männer von den Frauen so viel halten. Die Frauen braucht man vielleicht, wenn man Kinder mit ihnen machen will. Ich will keine Freundin, ich habe so viele Freunde.
Dann waren wir in der Adalbertstraße, in der Oranienstraße, auf dem Moritzplatz, in der Waldemarstraße. Und in der Friedrichstraße. Besonders diese Straße hat viele schöne Häuser, neu gebaute, Tausende von Mark wurden dafür ausgegeben, aber sie hat so viele freie Büros, so sagte der Mann von der Tante, die niemand mieten wolle. Kein Baum dort, wegen der U-Bahn. Wenn sie da Bäume einpflanzen und die Bäume ihre Wurzeln tiefer schlagen, dann erreichen sie plötzlich die U-Bahn. Stell’ Dir mal vor, der Fahrer kann nichts mehr sehen, weil die dicke Wurzel einer Kastanie ihm in der U-Bahn den Blick versperrt. Komisch, gell? Dumm gelaufen.
Wir besuchten den Potsdamer Platz. Das schönste auf diesem Platz, so sagte der Sohn der Tante, ist der Bau. Sonst sei nichts schön auf diesem Platz.
Dann waren wir im Reichstag. Mensch, diese Moscheekuppel: so mächtig, so heimisch. Ich meine, die Kuppel sah aus wie der Helm eines Polizisten aus der Zeit von Wilhelm dem Zweiten. So etwas sagte der Sohn dieser Tante. Die Deutschen hätten sich absichtlich so was auf ihren Kopf bauen lassen, damit die Menschen draußen sehen, daß die Deutschen ihre Macht wiederbekommen haben. So ist der Sohn der Tante. Hier würden sich die Deutschen treffen, um uns zu regieren. Unter dem Helm? So was blödes.
Was ich dann in Kreuzberg gesehen habe, übertrifft alles: Karneval der Kulturen hieß der Faschingszug. Dieser Faschingszug war nicht einfarbig und einmenschig, einklangig: Ich meine, der normale deutsche Faschingszug besteht sonst immer nur aus den Deutschen, aus dem deutschem Klang, und alles läuft immer gleich ab. Die Deutschen feiern ihren Fasching üblicherweise unter sich, und die anderen Menschen schauen zu oder versuchen mitzugehen. Aber hier waren Schwarze, Türken, Deutsche, Russen, Brasilianer, die durcheinander und hintereinanderher liefen, sangen und tanzten, schrien und hopsten, und die anderen Menschen schauten zu. Vielfältiger als die Love-Parade, sagte eine junge Frau neben meiner Mutter.
Wenn Du Dir mal Zeit nehmen kannst, dann geh’ nach Berlin, oder am besten, wir fahren gemeinsam hin, und der Sohn der Tante führt uns durch die Stadt. lsmail, so heißt er, ist ein echter Berliner. Er kennt sich so gut aus.