01.05.1999

Brief an Goethe

Satire von Sinasi Dikmen

Lieber Onkel Goethe,

obwohl schon einige Wochen vorbei sind, habe ich von Dir noch keine Antwort auf meinen letzten Brief bekommen. Ich nehme mal an, weil Du keine Zeit hast wegen Deines Geburtstages. Ich muß Dir jetzt erst mal eins sagen: Ich bewundere Deine Geduld. Wie kannst Du ein ganzes Jahr lang die blöden Bemerkungen Deiner Tanten und Onkels aushalten? Mein Onkel Ismet, ein Faulenzer, ist jeden Tag bei uns. Er frißt und schläft bei uns. Er will nicht mehr arbeiten, und ausgerechnet er sagt zu mir bei jedem Geburtstag: “Junge, sei fleißig in der Schule. In deinem Alter war ich der Klassenbeste.” Ich kenne keinen Erwachsenen, der früher nicht der Klassenbeste war. So viele Klassen kann es doch nicht gegeben haben. Oder lies, was die Tante immer sagt: “Mensch, der Junge ist innerhalb eines Jahres so groß geworden. Und klug auch. Na ja, schließlich ist er ja auch mein Neffe.” Bringen Deine Tanten und Onkels auch immer nur mickrige Geschenke mit und reden dafür solchen Stuß?

Da Du Dich mit Deinem Geburtstag beschäftigst, und Deine Verwandtschaft Dich sicher voll beansprucht, kamst Du bestimmt auch nicht dazu, zu lesen oder fernzusehen. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber der Finanzminister ist abgehauen. Einfach auf und davon. Ob mit der Kasse? Weiß ich nicht. Er soll seinen Leuten gesagt haben: “Freunde, ich gehe heim und komme nie mehr zurück.” Mein Vater sagte: “So einfach will ich es auch mal haben. Freunde, ich gehe weg, und komme nie mehr wieder nach Deutschland zurück.” Er weiß bloß nicht, wo er hingehen soll. Abgesehen davon ist meine Mutter dagegen: “Hock dich auf deinen Hintern. Hier hast du Haus und Heim”, sagte sie zu ihm. Mein Onkel Ismet bedauert besonders den Rücktritt von Verona Feldbusch: “Schade. Sie hat den Türken mehr gegeben als alle deutschen Finanzminister und die NATO zusammen.”

Kennst Du die NATO? Ich habe die NATO neulich im Fernsehen kennengelernt. Das ist so eine Erwachsenenorganisation. Die Erwachsenen kommen da zusammen, wenn sie nichts anderes zu tun haben. Meistens reden sie über Frauen. Da ist ein Spanier dabei, ein Türke, ein Grieche, ein Italiener, ein Franzose, ein Engländer, ein Kanadier, ein Deutscher, und noch ein paar mehr. Und der Chef ist aber immer der Amerikaner.
Ich habe es vor ein paar Wochen gesehen, wie sie sich wieder einmal trafen. Sie hatten sonst nichts zu tun. Auf ihren Tischen standen viele Kaffeetassen. Früher, also vor meiner Geburt, soll die NATO gegen Russen gekämpft haben. Jetzt ist der Russe müde und krank. Er sieht sehr alt aus.
Sie saßen da ziemlich lange rum. Ich nehme an, sie tranken viel Kaffe, und sie unterhielten sich bestimmt über Fußball und Frauen. Dann wurde ihnen langweilig, und der Amerikaner bestellte sich zur Abwechslung einen türkischen Kaffee. Daraufhin sprang der Grieche hoch und sprach: “Hi, Jo, du benachteiligst immer wieder den hellenistischen Kaffee. Er stammt aus der Antike, also aus dem alten Athen, und er schmeckt auch historisch.” Die anderen beruhigten ihn und bestellten europäischen Kaffee. Plötzlich klingelte das Handy von Jo. Er telefonierte sehr leise, und mit rotem Kopf schrie er dann auf einmal in die Runde: “Freunde: Da ist meine Frau dran, sie sagte mir gerade, bei euch in Europa muß das Recht des Menschen verletzt worden sein. Aber sie wußte nicht wo. Sie kennt sich in Europa nicht aus.”
Der Grieche stand sofort auf: “Ich weiß, wo das ist: In der Türkei – wenn man dieses Land überhaupt europäisch nennen darf. Die Kurden werden dort nämlich…” Der Türke war stinksauer auf den Griechen: “Und was ist mit deiner türkischen Minderheit in Nordgriechenland. Du nennst sie nicht Türken, sondern moslemische Griechen.” Jeder beschuldigte den anderen, sie schmissen die Kaffeetassen um sich, schrien sich gegenseitig an: “Du, Giovanni, du schmeißt die Albaner, die bei dir Asyl suchen, direkt ins Meer. Du, Henry, halt die Klappe, bei euch werden die Irren irre. Du, Jean-Claude, du würdest doch am liebsten alle Marokkaner in die Wüste schicken. Du, Hannes, halt’s Maul, ich nenne dir nur zwei Städtenamen: Mölln und Solingen. Du, José, was ist mit deinen Basken, hä?”
Währenddessen telefonierte Jo seelenruhig weiter. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt. Als Johannes und Henry gemeinsam Mehmet von Costas wegzerrten, weil er ihm an die Gurgel gegangen war, schrie Jo auf einmal: “Wer von euch weiß, wo Pristina ist? Es muß irgendwo in Serbien sein. Da wird das Recht des Menschen verletzt.” Die Europäer fragten sich, wo Serbien wohl liegen könne. Plötzlich schrie Giovanni: “Ich weiß, ich weiß, wo Serbien ist. Serbien ist ungefähr da, wo auch die Albaner herkommen, man nennt es das Kosovo.” So, lieber Onkel Goethe, hat die NATO das Kosovo entdeckt.

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