01.11.2002

Blocking, Banking, Babymaking

Interview mit Matthias Horx

Der Zukunftsforscher Matthias Horx über future oder end of sex.

Novo: Herr Horx, wie sieht die Zukunft des Sex aus der Schlafzimmer-Perspektive aus?

Matthias Horx: Sexualität hat anthropologische Konstanten, die so leicht nicht aus den Angeln zu heben sind. Die seriösen Sexstudien, die es seit den 60er-Jahren gibt, bestätigen die Weiterentwicklung zweier grundlegender Trends: Erstens wächst in den Industrienationen die Anzahl der Sex-Partner, die ein junger Mensch in seinem Leben hat – sie hat sich in den letzten dreißig Jahren etwa verdoppelt. Zweitens sinkt die „Koitus-Frequenz“ langsam ab. Wir tun es also im Laufe unseres Lebens mit mehr Partnern, aber wir tun es im statistischen Schnitt nicht mehr so häufig. Das liegt vor allem an modernen, mobilen Lebensformen: Es gibt zwar immer noch „Vielvögler“, aber auch immer mehr Singles, und diese haben weniger Sex als Menschen in festen Zweierbeziehungen.

“Wir tun es im Laufe unseres Lebens mit mehr Partnern als unsere Eltern, aber wir tun es im statistischen Schnitt nicht mehr so häufig.”

Steht eine neue Prüderie- und Treue-Welle ins Haus?

Nein, das gehört zu den „ewigen Trendmeldungen“, die wir seit langer Zeit beobachten können: Sie erscheinen übrigens genauso häufig wie die Behauptung, wir lebten in einer total „versexten“ Gesellschaft. Beides ist reine wilde Vermutung und lässt sich nicht belegen. Was allenfalls für eine neue „Keuschheitswelle“ sprechen könnte, liegt eher im sozio-psychologischen Bereich. Die Rollenverwirrung zwischen Männern und Frauen ist inzwischen so groß geworden, dass es unwahrscheinlicher wird, dass Sex überhaupt zustande kommt. Junge Frauen erwarten von jungen Männern inzwischen gewaltig viel. Männer sind schwer verunsichert. Es kann also sein, dass eine Art „erotische Sprachlosigkeit“ zwischen den Geschlechtern entsteht, eine Lähmung. Beide Geschlechter neigen dazu, sich auf das eigene Geschlecht zurückzuziehen – man sieht das in den unzähligen Girlie-Cliquen-Filmen à la „Sex in the City“, die von den gewaltig hochgeschraubten Sehnsüchten und der immer sperriger werdenden Realität handeln.

„Schwanger durch Sex!“ Eine mögliche Sensations-Schlagzeile im Jahr 2050?

Das ist schon eher möglich, obwohl ich das eher ein- bis zweihundert Jahre später sehe. Im Kern der Sexualität steht nämlich immer noch, obwohl wir das bisweilen leugnen und verdrängen, die Fortpflanzung. Hier ist langfristig tatsächlich ein tiefer Bruch zu erwarten: immer mehr Kinder werden in vitro erzeugt, und langfristig löst sich Fortpflanzung vom Sex. Sex wird endgültig ein reines Freizeitvergnügen, und das kann dem Sex gewaltig schaden: Die Natur hat uns schließlich aus äußerst handfesten Gründen geil gemacht, und sie wird äußerst „zickig“ auf den Wegfall dieses Arguments reagieren. Das langfristige Sexmodell der Zukunft lautet „BBB: Blocking, Banking, Babymaking“. Es gibt immer noch zu viele ungewollte und ambivalente Schwangerschaften. Als Antwort darauf wird man in einigen Jahren dazu übergehen, 16-Jährige nicht mit Kondomen herumexperimentieren zu lassen, man wird vielmehr ihre Fruchtbarkeit blockieren – ob hormonell oder sonst wie. Gleichzeitig werden Männer und Frauen mit Mitte zwanzig ihren Gencode konservieren. Dies sind die gesündesten und fruchtbarsten Jahre, aber sie sind eben nicht synchron mit der Zeit, in der wir Kinder haben wollen. Also verschieben wir das Kinderkriegen nach hinten. Man wird sein deponiertes Erbgut mit einem dann geliebten Partner vereinen, mit dem man zusammen ein Kind will – aber dabei keine Erbschäden riskieren (eingefrorene DNS bleibt jung).

“Fortpflanzung löst sich vom Sex. Das kann ihm gewaltig schaden: Die Natur hat uns schließlich aus äußerst handfesten Gründen geil gemacht, und sie wird äußerst „zickig“ auf den Wegfall dieses Arguments reagieren.”

Ist Sex „zukunftsfähig“ oder ein aussterbendes Hobby von Naturalisten?

Es ist ein bisschen ähnlich wie mit dem Fleischessen. Wir wissen heute alle, dass Fleisch eher nicht so gesund ist, dass Rinder den Planeten verseuchen etc. Umso leckerer finden wir die Keule! Wenn etwas ganz „out“ scheint, dann wird es wieder im Gegentrend faszinierend. „Natursex“ wird desto toller, desto schwieriger er wird. Das 23. und 24. Jahrhundert wird in Sachen Sex eine spannende Zeit. Und ich bin mir sicher, dass wir für neue Sex-Spiele auch menschliche Spielregeln finden werden.

Welche Halbwertszeit hat Cybersex?

„Cybersex“ ist natürlich ein ganz alter Hut, wenn man das Wesen menschlicher Sexualität kennt. Sex geht durch den Kopf, ganz einfach. Insofern machen wir dauernd Cybersex. Die Gummi-Apparaturen, die uns via Computer stimulieren, werden also wahrscheinlich mangels Interesse keinen Markt finden. Filme kann man sich toll im Kopf ablaufen lassen, es gibt ja längst Pornofilme, es gibt Telefonsex und auch sehr gut funktionierenden E-Mail-Sex. Wozu also die Gummi-Apparatur? Nun ja, als Hobby für Spezialisten vielleicht, aber als Massenmarkt sehe ich das nicht.

Wie schätzen Sie die „neue sinnliche Suche nach Bindungen“ nach dem 11. September ein?

In Katastrophenzeiten hat immer schon mehr Sex stattgefunden – das ist ein tiefer menschlicher Instinkt der Tröstung, aber auch des Überlebenswillens. Soviel ich weiß, hat der 11. September tatsächlich zu einer Geburtenwelle geführt. Menschen haben sich gefunden, Paare, die auf der Kippe standen, haben Entscheidungen getroffen: entweder zusammenbleiben oder sich radikal trennen. Krisen erzeugen immer eine Zuspitzung: Das Leben ist kurz, wir können es nicht vergeuden! Krisengefühle führen uns zu uns selbst, zur Frage: Was fühlen und wollen wir wirklich? Und deshalb wächst in der Krise, wenn sie keinen ganz und gar barbarischen Zerfall erzeugt, die Kraft der Liebe.

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