18.09.2013

Biologismus: Menschen sind keine Ameisen

Analyse von Stuart Derbyshire

Ameisenkolonien betreiben angeblich „Landwirtschaft“, behauptet der Biologe Edward O. Wilson in seinem neusten Buch. Nur Menschen sind dazu in der Lage, wiederspricht Stuart Derbyshire. Menschliche Kulturleistungen sind das Ergebnis menschlicher Bewusstseinsleistungen.

Edward Osborne Wilson ist ein amerikanischer Biologie und auf Myrmekologie – also Ameisenkunde – spezialisiert. Wie viele andere auch, behandelt er den Menschen gern nach dem Vorbild seiner Tierstudien, selbst wenn es sich bei dem gewählten Tier um ein Insekt handelt. Wilson gelangte 1975 mit seiner Veröffentlichung Soziobiologie: Eine neue Synthese zu großer Bekanntheit. Der Großteil dieses Buches widmete sich der Diskussion von tierischem Verhalten. Aber Wilson integrierte auch ein Kapitel über den Menschen, in dem er dessen Verhalten und die menschliche Gesellschaft umfassend beschrieb und sie als die Folgen von unkontrollierbaren biologischen Instinkten erklärte. Sein Argument bestand im Wesentlichen darin, dass die menschliche Gesellschaft nur eine Variation einer Insektenkolonie darstellt. Für diese Ansicht erntete er breite Kritik, so vor allem durch den verstorbenen Stephen Jay Gould, der ihn unter anderem, als rechtsgerichteten Apologeten sozialer Unterdrückung bezeichnete.

Fast 40 Jahre später argumentiert Wilson weiterhin, dass menschliches Denken (d.i. Kognition) und Verhalten durch die natürliche Selektion biologisch bestimmt werden. In seinem neusten Buch, The Social Conquest of Earth, kramt er ein Sammelsurium aus zeitgenössischen ökologischen Vorurteilen hervor, die wohl eher links als rechts zu verorten sind. Er bezichtigt die Menschheit darin, eine „gedankenlose Demontage der Biosphäre“ zu betreiben. Sie würde die Artenvielfalt „auf das niedrige Niveau der Zeit von vor einer halben Milliarde Jahre“ zurückstufen und „die Atmosphäre einem potentiell tödlichen Zustand“ zuführen. Und Wilson besteht kompromisslos auf seiner Vorstellung, dass unser Denken und Handeln durch die natürliche Selektion gesteuert wird. Er fragt sich: „Welche Eigenschaften unserer Kognition haben sich tatsächlich über Mutationen und eine natürliche Selektion entwickelt, kodierende oder nicht-kodierende?“ Und er antwortet: „Sehr wahrscheinlich alle.“

Wilsons Argumentation zur Entwicklung des menschlichen Denkens enthält im Großen und Ganzen drei Hauptpunkte. Der erste konzentriert sich auf unsere anatomische Entwicklung, also die aufrechte Haltung, die gleichzeitig frei und unterschiedlich einsetzbaren Hände, die nicht mehr zum Laufen benötigt werden, und ein großes Gehirn, das vor allem dem Sehen und weniger dem Riechen dient. Wie bereits eingehend durch Raymond Tallis [1] dargestellt, hat diese einzigartige Entwicklung dem Menschen die Freiheit gegeben, die Welt zu erforschen und nach nützlichen Zwecken zu gestalten.

„In Wilsons bemerkenswerten Beobachtungen zeigt sich die große Bedeutung der Beherrschung des Feuers für die Entwicklung der menschlichen Intelligenz.“

Dazu zählen vor allem der Gebrauch und die Handhabung von Feuer – das ist Wilsons zweiter Punkt. In seinen bemerkenswerten Beobachtungen zeigt sich die große Bedeutung der Beherrschung des Feuers für die Entwicklung der menschlichen Intelligenz: Der Gebrauch des Feuers ist „Meereslebewesen nicht zugänglich, unabhängig von ihrer Größe oder dem Maß ihrer wie auch immer gearteten Intelligenz. (…) Kein Schweinswal und kein Oktopus, wie brillant sie auch sonst sein mögen, könnten jemals einen Blasebalg und einen Glühofen erfinden. Keine dieser Arten könnte jemals eine Kultur entwickeln, die zum Bau eines Mikroskops fähig wäre, zur Herleitung der oxidativen Chemie der Photosynthese oder dem Fotografieren der Monde des Saturn. (…) Wenn ein ausgewachsenes Tier weniger als ein Kilogramm wiegt, dann ist sein Gehirn zu klein, um hochentwickeltes Denken oder Kultur zu entwickeln. Selbst an Land wäre sein Körper unfähig, Feuer zu machen oder zu kontrollieren. Auch aus diesem Grund ist es selbst bei Blattschneiderameisen, obwohl sie die komplexeste aller nicht-menschlichen Spezies sind, und obwohl sie Landwirtschaft in von ihnen instinktiv konzipierten und klimatisierten Städten betreiben, in den letzten 20 Millionen Jahren ihrer Existenz zu keiner wesentlichen Weiterentwicklungen gekommen.“

Blenden wir mal für einen Moment Wilsons Bemerkung aus, dass Ameisen angeblich Landwirtschaft und Klimatisierung betreiben. Er hat immerhin erkannt, dass das Fehlen von Feuer potentiell eine Entwicklung ausschließt, die das menschliche Niveau der Intelligenz, der Wissenschaft und der Kultur erreicht. Diese Einsicht ist wichtig, sie widerlegt viele Argumente zur Entwicklung tierischer Intelligenz. Leider wird dieser Punkt von ihm nicht weiter ausgeführt. Menschen bilden hier nämlich die Ausnahme. Wir sind kooperativ und helfen uns untereinander, manchmal sogar, wenn das unseren eigenen Überlebens- und Reproduktionsinteressen widerspricht.

Wilson knüpft dann über das Feuer an seinen dritten und umstrittensten Argumentationspunkt an. Er schlägt vor, davon auszugehen, dass die Nutzbarmachung des Feuers beim frühen Menschen die Tendenz zur Einrichtung von Zeltlagern verfestigt hat. Er bezeichnet diese Lager provokant als Äquivalente der tierischen Nester. Sie änderten, so vermutet er, den Kurs der menschlichen Entwicklung oder konsolidierten zumindest Tendenzen, die bereits im Gange waren. Eine natürliche Arbeitsteilung könnte sich dadurch eingestellt haben, dass manche zuhause das Lager bewachten und andere zum Jagen auszogen. Durch die Kontrolle über das Feuer konnte der Mensch außerdem Fleisch braten und es so leichter verdauen. So mussten die Menschen nicht mehr in großen Territorien nach Obst und Gemüse suchen. Sie konnten jetzt einen bestimmten festen Standort wählen, der gegen Angriffe gerüstet werden konnte, um ihn zu verteidigen. Das Zeltlager, so argumentiert Wilson, ist ein Ort, an dem die Menschen leichter überleben, da sie sich dort auf die kollektive Stärke der Gemeinschaft verlassen können.

Diese faszinierenden Gedanken müssen wir vielleicht noch in unsere Vorstellung von der Entwicklung des Menschen von der bloßen Kreatur zum bewussten Akteur integrieren. Aber Wilson wendet seinen Gedanken in eine unerwartete Richtung, nämlich zu einem Argument für die Gruppenselektion:

„… natürliche Selektion beginnt auf der Ebene der Gruppe zu wirken. Das bedeutet, ein Individuum in einer Gruppe hat bessere oder schlechtere Chancen auf Reproduktion als ansonsten identische Einzelgänger in derselben Umgebung. Das hängt letztlich von den Gruppenmerkmalen ab, die sich infolge der Interaktionen zwischen den Mitgliedern ausbilden. Diese Merkmale umfassen die Kooperation im Ausbau, in der Verteidigung und Vergrößerung des Nests, der Nahrungssuche und der Aufzucht der noch nicht voll entwickelten Jungen.“

„Unsere Geschichte kann ab einem gewissen Punkt nicht mehr gänzlich durch Biologie und Genetik erklärt werden, sondern nur durch die Bewusstseinsleistung des Verstandes.“

Die Idee der Gruppenselektion besteht im Wesentlichen darin, dass sich die natürliche Selektion auf der Ebene von Gruppen vollzieht. So überleben zum Beispiel kooperative Gruppen eher, als nicht kooperative. Zusammenarbeit entwickelt sich also, weil sie durch die Natur selektiert ist. Wohlgemerkt behauptet Wilson nicht nur, dass die natürliche Selektion Individuen bestraft, die nicht in Gruppen leben und sich dort reproduzieren, sondern er vertritt dezidiert den Standpunkt, dass der Selektionsdruck vor allem auf der Ebene der ganzen Gruppe wirkt. Demzufolge verhalten sich einzelne Gruppenmitglieder mitunter in einer Weise, die ihren eigenen Überlebens- und Reproduktionschancen zuwiderläuft, dafür aber dem Gemeinwohl der Gruppe dient. So kann Wilson dazu kommen, die Art des Zusammenlebens heutiger Gesellschaften (die grob gesagt in verschiedenen Gruppen kooperierender Individuen bestehen) dadurch zu erklären, dass die natürliche Selektion die kooperativen Gruppen selektiert hat. Mit diesem Gedanken ist Wilson nicht allein; der amerikanische Sozialpsychologe Jonathan Haidt will moralisches Verhalten mit ähnlichen Argumenten durch evolutionäre Anpassung erklären.

Die Idee der Gruppenselektion ist von den meisten zeitgenössischen Evolutionsbiologen rundweg abgelehnt worden. Das Gegenargument lautet im Wesentlichen, dass jeder einzelne Organismus, der dem Überleben und der Reproduktion seines genetischen Materials zuwider handeln würde, einem individuellen Organismus, der das nicht tut, unweigerlich unterlegen ist. Letzterer wird schlicht länger überleben, sich häufiger reproduzieren und sein genetisches Material weiter verbreiten. Selbst wenn ein Tier oder Insekt gegen seine eigenen Interessen zu handeln scheint, kann dieses Verhalten immer durch die gemeinsame Genetik der Tiere erklärt werden. So opfern zum Beispiel Arbeiterbienen ihre eigene Reproduktionsfähigkeit, um die Reproduktion der Königin unterstützen zu können. Sie machen das aufgrund einer engen genetischen Verwandtschaft mit ihr. Mit jeder Arbeiterbiene, die durch die Königin gezeugt wird, teilen sie 75 Prozent des genetischen Erbmaterials, verglichen mit 50 Prozent, wenn sie sich ohne die Königin reproduzieren müssten.

Der Mensch ist die Ausnahme von dieser Regel. Wir arbeiten zusammen und helfen einander, und zwar mitunter sogar, wenn es unseren eigenen Überlebens- und Reproduktionsinteressen widerspricht. Daraus folgt offenbar, dass wir uns nicht wie Insekten oder Tiere verhalten. Unsere Geschichte kann ab einem gewissen Punkt nicht mehr gänzlich durch Biologie und Genetik erklärt werden, sondern nur durch die Bewusstseinsleistung des Verstandes. Um diesem Ergebnis auszuweichen, nimmt Wilson ausschließlich extrem lange Zeiträume in den Blick und definiert die Evolution der Insekten um: „Der Anstoß zu einem fortgeschrittenen Sozialverhalten wird durch den Vorteil eines zu verteidigenden Nests geboten, und zwar insbesondere eines solchen Nests, dass sehr schwer herzustellen war und das in einer Umgebung liegt, die eine nachhaltige Nahrungsversorgung bietet. Bedenkt man diese primäre Konditionierung der Insekten, dann erweist sich die enge genetische Verwandtschaft in den primitiven Ausbildungen von Kolonien als Folge, und nicht als die Ursache, des [fortgeschrittenen sozialen] Verhaltens.“

Arbeiterbienen haben also nicht die Königin unterstützt, um ihr genetisches Material zu verbreiten, sondern umgekehrt führte ihre altruistische Unterstützung dazu, dass sich ihr genetisches Material verbreitet hat. Bienenaltruismus diente also den Interessen der Gruppe und hat sich zum Vorteil ihrer Genetik erhalten. Diese bemerkenswerte Argumentation erlaubt es Wilson die Differenzen zwischen Insekten und Menschen zu beseitigen. Darum kann er davon sprechen, dass Ameisen ihre Städte klimatisieren und Landwirtschaft betreiben, ohne die offensichtliche Kluft zwischen Mensch und Insekt zu berücksichtigen. Im Detail mag es zwischen ihnen Unterschiede geben, aber der Mechanismus, der die Ameisen zum Bau ihrer Städte antreibt, ist aus Wilsons Sicht derselbe, der auch uns dabei steuert.

Das Argument ist insofern erstaunlich, dass Wilson auf diese Weise eine innere Einheit in der Entstehungsgeschichte des Altruismus durchhält – vom Insekt bis zum Menschen. Aber es ist zugleich Zeugnis des Wahnsinns, der Voraussetzung dafür ist, weiter daran glauben zu können, alles müsse einen biologischen Ursprung haben. Wilson bestreitet die transformative Rolle der Geschichte und dass mit dem menschlichen Bewusstsein eine neue Qualität in die Welt tritt. Er verkennt, dass wir kooperatives Zusammenleben eigenständig herstellen und die Verhältnisse dieser menschlich geschaffenen Gesellschaft dann potentiell wieder auf die Ameisenkolonien zurück projizieren.

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