10.06.2013

Billigkleidung: Ein Boykott schadet Bangladesch

Von Rania Hafez

Es bringt nichts Primark, KiK oder andere Billigtexilanbieter zu boykottieren, meint Rania Hafez. Westlichen Konsumenten die Schuld für den tragischen Einsturz der Textilfabrik in Bangladesch in die Schuhe schieben zu wollen, würde den Bangladeschern das Leben nur noch schwerer machen.

Der Einsturz des Rana Plaza Gebäudes in Dhaka, Bangladesch am 24. April war eine furchtbare Tragödie. Mehr als 1100 Arbeiter haben an diesem Tag ihr Leben verloren – die meisten von ihnen stellten Bekleidung im Auftrag westlicher Textilketten her. Das Problem ist jedoch folgendes: Obwohl ich im Westen Kleidung einkaufe, bin ich nicht für die Ereignisse im Rana Plaza Gebäude verantwortlich. Das mag seltsam klingen, aber es muss einfach mal gesagt werden. Genauso wie unzählige andere Menschen kaufe ich bei Primark ein; also bei einem der Verkäufer, dessen Arbeiter im Rana Plaza Gebäude untergebracht waren. Seit dem erschütternden Vorfall in Bangladesch gibt man mir das Gefühl, mich dafür schuldig fühlen zu müssen. Es ist ein kriecherischer Akt von Opportunismus verschiedener NGOs und Aktionsgruppen, die alle den Teppich der Selbstgerechtigkeit ausrollen und die furchtbaren Vorkommnisse in Dhaka dazu nutzen, einmal mehr ihre moralische Überlegenheit geltend zu machen und uns plebejische Einkäufer zu verdammen. Wir sind nicht nur verachtenswert wegen unseres billigen Geschmacks, sondern auch kriminell, weil wir bezahlbare Kleidung kaufen. Die normalen britischen Konsumenten wurden für den Tod der Bekleidungsarbeiter in Bangladesch verantwortlich gemacht. Es ist, als hätten wir eigenhändig bei der Zerstörung des Rana Plaza mitgeholfen. Die Tatsache, ein T-Shirt von Primark zu kaufen, reicht aus, um jeden einzelnen von uns wegen Beihilfe zum Mord anzuklagen.

„Die Konsumenten trifft keine Schuld.“

Dennoch wurde die Katastrophe nicht durch die Vorliebe der Briten für billige Bekleidung ausgelöst. Die Bekleidungsfabriken waren keine Ausbeutungsbetriebe und die Arbeiter erhielten für bangladeschische Verhältnisse vernünftige Gehälter, obwohl sie im Vergleich zu Arbeitern in Großbritannien schlecht bezahlt wurden. Tatsächlich war das Gebäude ein großes Einkaufs- und Wohnzentrum, sogar eine Bank war dort untergebracht. Viele meinen, dass es eine Kombination aus fehlerhafter Verarbeitung, Missachtung der Bauvorschriften und vollkommener Korruption war, die zu dem Einsturz des Gebäudes führte. Britische Konsumenten trifft keine Schuld. Es ist daher unser eigener Fehler, wenn wir den selbstgefälligen, heuchlerischen Miesmachern glauben. Unser ungehöriges Bestreben danach, über unserem Niveau leben zu wollen, indem wir bezahlbare, modische Kleidung kaufen, bedeutet offenbar, bangladeschische Arbeiter bis zum Tode zu unterdrücken. Dass die spießigen Protestler vor den Primarkfilialen demonstrieren, die von ihrem plebejischen Klientel frech „Primani“ genannt werden, zeigt nicht nur ihre Verachtung für den Großteil der Bevölkerung, sondern auch ihre Bereitschaft, die Lebensgrundlage derjenigen, die dort arbeiten, aktiv in Gefahr zu bringen. Indem sie Plakate mit den Slogans „Primark‘s Shame“ (Primarks Schande) oder „Blood on their hands“ (Blut an ihren Händen) hochhalten, auf denen die verschütteten Arbeiter zu sehen sind, nutzen diese „Aktivisten“ die radikale Taktik der Streikpostenkette. Historisch betrachtet diente sie zur Verteidigung der Rechte der Arbeiter, aber jetzt wird sie dazu gebraucht Angehörige der arbeitenden Klassen anzugreifen.

„In der Anti-Primark-Aktion und anderen Kampagnen verbinden sich die schlimmsten Aspekte des modernen Aktivismus“

Unglücklicherweise steckt hinter dieser Kampagne mehr als nur der Versuch, bei Kunden lästige Schuldgefühle zu wecken. Die Aufrufe zum Boykott von Primark, Gap oder anderen Modeverkäufern, die ihre Waren aus Bangladesch importieren, fügen der sowieso schon gravierenden Verletzung eine weitere Wunde hinzu. Dadurch wird nämlich das ewige Phantom eines Westens, der in ärmere Länder störend eingreift, wiederbelebt und die Existenzgrundlage von Millionen bangladeschischen Bekleidungsarbeitern bedroht. Die Anzeichen einer potenziellen Beeinträchtigung der Wirtschaft von Bangladesch sind schon jetzt sichtbar. Laut eines Berichtes der Financial Times zieht H&M, der größte Käufer von Kleidung aus Bangladesch, die Möglichkeit in Betracht, anderorts einzukaufen. Ungefähr vier Millionen Arbeiter verdienen ihren Lebensunterhalt in einer Industrie, die der wichtigste Devisenbringer Bangladeschs und die einzige Quelle der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ist. Der aktuelle Boykott der Industrie versetzt seiner Wirtschaft und seinen Arbeitern einen weitaus verhängnisvolleren Schlag als der Einsturz des Gebäudes. Aber selbst wenn sich die Händler nicht aus Bangladesch zurückziehen, so hat man doch noch eine perfidere Aktion in der Hinterhand. Der unerbittliche Feldzug, der von Organisationen wie zum Beispiel Avaaz geführt wurde, die eine zusätzliche Kampagne unter dem Motto „guilt-free clothing“(schuldfreie Kleidung) startete, hat einige der größten Bekleidungsunternehmen dazu veranlasst, einen „weitreichenden rechtlich verbindlichen Plan zu unterzeichnen, der Händlern vorschreibt, die Verbesserung der Brandsicherheit und Sanierungen der in Bangladesch benutzten Gebäude mitzufinanzieren“. Lediglich Gap war dagegen, dieses Übereinkommen rechtsverbindlich zu machen. Niemand kann gegen das Vorhaben sein, die Gesundheit und die Sicherheit der bangladeschischen Arbeiter zu garantieren, aber das ist die Aufgabe der Arbeiter in Bangladesch. Sie müssen diese Änderungen mit Hilfe ihrer Gewerkschaften selbst in die Wege leiten. Es ist verwerflich, den gesetzlichen Rahmen der europäischen Länder dazu zu benutzen, den westlichen Eingriff in die Angelegenheiten eines souveränen Rechtsstaates im Gesetz zu verankern. Man könnte genauso gut die britische Ostindien-Kompanie wiedereinführen. Das Ganze wird noch von der kürzlich gestarteten Tauschkampagne des britischen Einzelhändlers Marks&Spencer übertroffen. Geführt von Joanna Lumley, der heiligen Patronin der Mode höchstpersönlich, drängt diese Aktion die Kunden dazu, ausgediente Kleidung an M&S zu spenden, wofür sie wiederum einen 5€-Wert-Bon erhalten. Das ist nicht nur ein offensichtliches Manipulieren des Konsumenten unter Vortäuschung falscher Tatsachen: Vielmehr wird ihnen ein Gefühl der tugendhaften Selbstzufriedenheit vermittelt, weil sie scheinbar belohnt werden (der Wert-Bon kann nur für kurze Zeit auf eine begrenzte Auswahl von M&S – Produkten angewendet werden). Außerdem wird die Kleidung gesammelt an Oxfam weitergeleitet, das diese in Wirklichkeit in Afrika verkauft. Infolgedessen wird Oxfam zu einem direkten Konkurrenten lokaler Produzenten.

In der Anti-Primark-Aktion und anderen Kampagnen verbinden sich die drei schlimmsten Aspekte des modernen Aktivismus: Geringschätzung der breiten Bevölkerung, die herablassende Haltung gegenüber Entwicklungsländern und der Wunsch nach westlicher Einmischung. Eine unheilige Trinität, die Handelsbeziehungen schadet und die Entwicklung der Rechte der Arbeitnehmer zurückwirft. Wir brauchen dringend eine Gegenkampagne, um den künftigen Schaden für Bangladesch abzuwenden. Ansonsten muss es künftig wirklich heißen: „Mea culpa“.

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