01.09.1999

“Besser leben statt mehr haben”

Kommentar von Phillip Kissel

Philip Kissel über das Buch Nachhaltigkeit und Macht, das die gegenwärtige Umweltdebatte treffend, aber zurückhaltend beschreibt.

Willy Brandt verkündete im Bundestagswahlkampf 1961 den “blauen Himmel über der Ruhr”. Seit September 1998 werden, trotz aller Unprofessionalität grüner Minister, die Forderungen der Umweltbewegung von der Regierungskoalition fleißig in die Tat umgesetzt. Nachhaltige Entwicklung ist die (also nicht mehr so ganz neue) Wert- und Leitidee. Alle sprechen davon, alle fühlen sich ihr verpflichtet, Alternativen gibt es nicht. Es gibt nachhaltige Erziehung, nachhaltige Wissenschaft, nachhaltigen Tourismus und nachhaltige Nachbarschaftsverbände. Was aber ist Nachhaltigkeit und wer redet darüber, und wie?

Dieser Frage widmet sich das Buch Nachhaltigkeit und Macht von Helga Eblinghaus und Armin Stickler. Eine erfrischende Ausnahme im Dschungel der Nachhaltigkeits-Literatur. Denn die Autoren postulieren nicht, Umweltverschmutzung sei ein globales, endlich zu lösendes Problem und Nachhaltigkeit der einzige Weg zur Lösung. Eblinghaus und Stickler machte die “schnelle Aufnahme der Begrifflichkeit und die Hofierung durch staatliche und internationale Institutionen skeptisch”. Beim Umweltschutz finden sich alle zusammen: Keine nervenaufreibenden Grundsatzdiskussionen mehr über Kapitalismus oder Kommunismus, kein anstrengendes Herumphilosophieren, sondern (angeblich) harte Fakten über Mensch und Umwelt.

Was sind die Grundannahmen dieser neuen sinn- und konsensstiftenden Idee? Eblinghaus und Stickler ordnen den Diskurs anhand zweier Pole: dem technozentrischen und dem ökozentrischen. Ersterer bewahrt das klassische Weltbild, nämlich, daß der Mensch im Mittelpunkt der Welt steht. Der ökozentrische Ansatz dagegen stürzt die Menschheit von ihrer Position als Krönung der Schöpfung. Zwischen diesen Extremen bewegen sich “moderate” Strömungen, die unter dem Schlagwort der “strukturellen Ökologisierung” eine stationäre Wirtschaft mit Nullwachstum anstreben.
Eblinghaus und Stickler fassen mit ihrer Analyse die Umweltdebatte klar zusammen und bringen sie auf ihren Dreh- und Angelpunkt: die Position, die der Mensch innerhalb der verschiedenen Varianten der Nachhaltigkeitsidee wahrnimmt. Eblinghaus und Stickler sehen Nachhaltigkeit als viel mehr als nur eine Modeerscheinung. Unter der Überschrift “Sustainable Development als Baustein für ein neues ‘hegemoniales Projekt’” versuchen die Autoren den fulminanten Aufstieg der Idee zu erklären. Es bedarf eines Leitbildes für gesellschaftliches Handeln. Die Vorstellungen der Menschen über ihr Handeln und dessen Sinn bezeichnen Eblinghaus und Stickler als “hegemonialen Konsens”. Er beinhaltet “verallgemeinerte und übergreifende Vorstellungen von Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft” (S. 170). Die Entrüstung, die einem entgegenschlägt, wenn man einmal Artenschutz oder die Gefahren der Gentechnik in Frage stellt, veranschaulicht die normative Kraft solcher Vorstellungen. Stand in der Nachkriegszeit noch außer Frage, daß Fortschritt, Wachstum und Technik für die Verbesserung der Situation der Menschheit notwendig seien, wurde dieses Paradigma innerhalb der letzten 20 Jahre grundlegend in Frage gestellt. Eine weniger ambitionierte Rolle des Menschen und ein radikaler Wechsel der Werte wird seitdem allseits gefordert. Das Wuppertal-Institut beispielsweise umschreibt die Grundidee der Nachhaltigkeit mit der Formel “besser leben statt mehr haben”.

Die These, ein Grundkonsens sei gerade für die von Widersprüchen gekennzeichnete kapitalistische Gesellschaft besonders notwendig, beschreibt die Funktion des neuen Paradigmas in Gesellschaft und Politik treffend. Allerdings gehen die Autoren nicht weit genug. Sie nehmen die Ideologie der Nachhaltigkeit nicht auseinander, um aufzuzeigen, daß der Mensch zu mehr in der Lage ist, als Müll zu trennen. Auch sie wollen Technik- und Wachstumsgläubigkeit überwinden, damit der Mensch in Einklang mit der Natur leben und die geltende Werte- und Herrschaftsordnung (des Kapitalismus) überwinden kann. Das beeinträchtigt zwar nicht die Klarheit der Analyse des Ideenwandels, aber die Schlagkraft der Aussage dieses Buchs. Daß für den Großteil der Welt mit Nachhaltigkeit nicht “gut leben”, sondern Stagnation und Rückschritt verbunden ist, zeigt ein Blick in Regierungs- und Entwicklungsprogramme oder Tageszeitungen.

Nachhaltigkeit und Macht ist ein interessanter Ansatz zur Erfassung des ideologischen Wandels und seiner Bedeutung. Der Prozeß der neuen Wertebildung hält noch an. Wohin er steuert, ist noch nicht klar. Fest steht, daß noch viel Aufmerksamkeit und Arbeit nötig sind, um ihn in seiner Tragweite zu verstehen und dem “hegemonialen Konsens” eine andere Perspektive entgegenzustellen.

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