19.03.2012

Befreit von der „Idiotie des Landlebens“

Essay von Patrick Hayes

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Chinas – 691 Millionen Menschen – lebt seit kurzem in Städten. Patrick Hayes erblickt darin einen großen Fortschritt für die Menschheit: Westlichen Bedenkenträger zum Trotz steht Urbanisierung vor allem für mehr Freiheit, Wohlstand und Bildung

Seit Anfang des Jahres lebt die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung in Städten. Obwohl es sich dabei um einen großen historischen Meilenstein handelt, wurde dieser Umstand gerade mal mit einem einzigen kleinen Satz in einer Pressemitteilung der chinesischen Regierung gewürdigt. Von westlichen Medien wurde die Tatsache bestenfalls gleichgültig aufgenommen, eher jedoch als böses Omen für die Zukunft bewertet. Es ist also Zeit, dass jemand sein Glas erhebt und „ein dreifaches Hoch auf die chinesischen Stadtbewohner!“ ausruft.

Tempo und Ausmaß ihrer Leistungen lassen sich kaum hoch genug einschätzen. Nach Angaben des chinesischen Statistikamtes leben heute 691 Millionen Menschen in Städten, also etwas mehr als 51 Prozent der chinesischen Bevölkerung. Im Jahre 1949, als die Kommunistische Partei Chinas an die Macht kam, lebten nur zehn Prozent der chinesischen Bevölkerung in Städten. Nicht, dass das den Beginn der Urbanisierung markieren würde. Ganz im Gegenteil. Tatsächlich sank Chinas Urbanisierungsrate zwischen 1960 und 1978 um 1,8 Prozent, ein Ergebnis der Regierungspolitik China zu „verländlichen“. Man schickte 16 Millionen städtische Studenten zurück auf das Land zur Arbeit auf den Feldern. 1980 lag die städtische Bevölkerung Chinas immer noch unter 20 Prozent.

Umso bemerkenswerter ist die Urbanisierung des Landes, wenn man bedenkt, dass sie überwiegend erst seit den 1990er Jahren stattfindet: Damals akzeptierte die chinesische Regierung endlich, dass Industrialisierung ohne Urbanisierung unmöglich ist. Sie gab ihre Losung „Das Land verlassen, aber nicht die Dörfer, die Fabriken betreten, aber nicht die Städte“ auf. Einem Bericht zufolge dauerte es in Großbritannien 200, in den USA 100 und in Japan 50 Jahre, um denselben Anteil von Menschen, die in Städten leben, zu erreichen wie in China, das dafür nur etwa 20 Jahre brauchte.

Und es sieht nicht so aus, als werde das Tempo des Wandels in absehbarer Zeit nachlassen. Viele Expertensagen voraus, dass die Zahl der Menschen, die in Städten leben, bis 2030 schon auf 70 Prozent – etwa eine Milliarde Menschen – steigen könnte. In der Tat ist China laut der britischen Zeitschrift The Economist in Hinblick auf das Pro-Kopf-Einkommen weniger urbanisiert, als man im Vergleich zu den historischen Entwicklungen anderer Länder erwarten würde. Erst jetzt, mit 51 Prozent Stadtbewohnern, schließt China zum globalen Durchschnitt auf. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel leben 82 Prozent der Bevölkerung in Städten.

Die Veränderung ist in China nicht nur schneller erfolgt als in irgendeinem anderen Land, auch das Ausmaß der Migration vom Land in die Stadt ist historisch beispiellos. Schätzungsweise 300 Millionen Menschen sind in nur zwei Jahrzehnten in die Städte gezogen. Mit 691 Millionen Menschen hat China mehr Stadtbewohner als jedes andere Land auf der Erde, sogar mehr als das zweite (Indien mit 377 Millionen) und dritte Land (USA mit 256 Millionen) zusammen.

Die menschlichen Folgen sind sehr greifbar: In einer sehr kurzen Zeitspanne konnten sich Hunderte Millionen Menschen von dem seit Tausenden von Jahren tradierten Zwang zur landwirtschaftlicher Arbeit lösen. Sie wurden von dem befreit, was Karl Marx und Friedrich Engels zu Recht als „Idiotie des Landlebens“ beschrieben. Engels bezeichnete das Landleben als einen Zustand der „Isolierung und Verdummung, in dem [die Menschheit] fast unverändert seit Tausenden von Jahren vegetiert“.

Obwohl die Entwicklung in China unbestreitbar holprig verläuft, hat sie einen sehr realen Anstieg der Lebenserwartung und eine drastische Verringerung der Kindersterblichkeit und extremer Armut zur Folge. Und Urbanisierung bedeutet in China auch nicht zwangsläufig Verslumung: Wie die Vereinten Nationen beobachtet haben, fiel der Anteil der städtischen Bevölkerung Chinas, die in Slums lebten, von 37,3 Prozent im Jahr 2000 auf 28 Prozent im Jahr 2010, was einem relativen Rückgang um 25 Prozent entspricht.

Die weitgehend gedämpfte Reaktion auf dieses Phänomen ist erstaunlich. Wenn überhaupt darüber berichtet wurde, dann oft unter negativem Vorzeichen. Es wurde gewarnt, dass China „alt schon sei, bevor es reich werde“. Die Londoner Times bemerkte, die „Verwandlung von Landbewohnern in urbane Menschen“ sei „ein kostspieliges Verfahren für den Staat“. Auf den Bauernhöfen bauten sie ihre eigene Nahrung an, erwarteten nicht viel Schulbildung, erhielten keine Rente und hätten kaum Zugang zu teuren Gesundheitssystemen.“ Der Ottawa Citizen warnte, „steigende Nachfrage nach Mobilität, Energie, Wasser, Infrastruktur und Verbesserung des Lebensstandards erhöht den Druck auf Gesellschaft und Umwelt“.

In den westlichen Medien wird schon lange über das bedrohliche Ausmaß der chinesischen „Mega-Städte“ lamentiert. Das galt zuletzt vor allem für ein bislang offiziell nicht bestätigtes Projekt, in dem mehrere Städte im Pearlfussdelta zu einer gigantischen verschmelzen sollen. Es geht 46 Millionen Menschen auf einer Fläche, die in etwa doppelt so groß ist wie Wales. Während im Westen viele vor den Dimensionen solcher Infrastrukturprojekte zurück schrecken, muss gesagt werden, dass genau solche Projekte die chinesische Fortschrittsdynamik aufrechterhalten können. Wie der Autor Daniel Ben-Ami unlängst schrieb, sind solche Entwicklungen machbar und wünschenswert: „Die Darstellung von China als Bedrohung der globalen Umwelt ist Ausdruck westlicher Ängste, aber keine realistische Beschreibung der modernen chinesischen Gesellschaft.“

Das Motto der Weltausstellung 2010 in Shanghai war „Bessere Stadt, besseres Leben“. Von der Luftverschmutzung bis zur Umsetzung großer Infrastrukturprojekte gibt es sicher noch viel zu tun, um die Lebensbedingungen in den chinesischen Städten zu verbessern. Aber die massive Abwanderung aus ländlicher Armut in die Städte ist ein wichtiger Schritt in Richtung eines besseren Lebens für Hunderte Millionen Menschen. Ein besserer Grund zum Feiern lässt sich kaum denken.

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