01.07.2005

Auf der Suche nach der Wahrheit

Essay von Hubert Markl

Über Freiheit und Verantwortung des Wissenschaftlers.

Vermutlich gibt es keinen Begriff, der für unser Menschenbild so konstitutiv ist wie der der Freiheit. Freiheit ist nicht etwa immer nur zu tun, was man will; eher schon nicht zu tun, was andere von einem wollen; wirklich aber, die Folgen seines Handelns vor sich selbst und seinen Mitmenschen zu verantworten. Freiheit ist sowohl die Unabhängigkeit von innerem oder äußerem Zwang wie die Fähigkeit, aus sich heraus zu entscheiden, also zwischen möglichen Handlungsoptionen zu wählen. Dieses wiederum ist erste Voraussetzung jeder sozialen, z.B. rechtlichen Bewertung menschlicher Handlungen. Fast drängt es einen, ein Wesen nur dann und nur insofern als ganz menschlich zu bezeichnen, als es dazu befähigt ist, sich nach eigenem Ermessen nach Gründen zu entscheiden. Die bloße Verhaltenswahl reicht dazu nicht aus: dies kann der Wurm auch zwischen warm oder kalt, hell oder dunkel.

Naturphilosophisch – oder wie wir heute lieber sagen: naturwissenschaftlich – herrscht in der gesamten makroskopischen Natur das Kausalitätsgesetz, nach dem es keine Wirkung ohne Ursache geben kann. Freiheit wäre demnach nur eine Illusion, da nichts undeterminiert, ursachenlos geschehen kann: so heute wieder einige, auch sehr prominente und zweifellos kluge Neurobiologen. Der Mensch ein Neuroautomat, dann vielleicht doch gar nicht so anders als Wurm oder Fliege.

Dem steht allerdings ein gewaltiges phänomenologisches Hindernis im Wege: so wenig der Kundige nämlich daran zweifeln kann, dass das Kausalgesetz in der Makrowirklichkeit durchgängig gilt, so wenig kann buchstäblich ein jeder von uns daran zweifeln, dass er in seinem Handeln über Entscheidungsfreiheit nach wohlbedachten Gründen verfügt, mit anderen Worten, dass er frei ist, zwischen Alternativen zu wählen – moralisch, politisch, rechtsgeschäftlich, ja bis in die kleinsten Kleinigkeiten des laufenden Alltags, sogar ob er zur Toilette geht oder den Dingen einfach ihren Lauf lässt.

Mag solcher Gelehrtenstreit auch noch lange weitergehen, wie dies nun einmal bei Aporien – unauflösbaren Widersprüchen – gerne der Fall ist (ich selber halte das Problem deshalb für „a red herring disguised as a white elephant“): in der Lebenswirklichkeit müssen wir es gewiss wie jeder erfahrene Richter halten, der einem geistig gesunden, zur Tatzeit nüchternen, erwachsenen Angeklagten allein deshalb Schuldfähigkeit zusprechen wird, weil er ihm andernfalls, – wenn er ihn nämlich als einen roboterhaft determinierten Zombie behandelte –, buchstäblich jede Menschenwürde absprechen müsste, die nun einmal auch und gerade darin besteht, dass der Delinquent mutmaßlich so oder auch anders hätte handeln können und nun auch dafür gerade stehen muss. Selbst der noch so überzeugte theoretisch-wissenschaftliche Gegner der Willensfreiheit muss nämlich in praxi ständig von ihr Gebrauch machen – ob illusionär oder nicht, – und sie bei seinen Mitmenschen (ja manchmal sogar bei seinem Hund!) unterstellen, um in einer sprachlich verfassten sozialen Welt von Gründen und Gegengründen zurechtzukommen, die sich nun einmal von jener, nur von Ursachen und Wirkungen bestimmten Welt der Lawinen, Bergrutsche, Asteroideinschläge, Taifune, Erdbeben und Tsunamis phänomenal unterscheidet. Ob wir also „wirklich frei“ sind – was immer dies auch heißen mag –, werden wie vielleicht niemals wissen; dass wir aber ununterbrochen entscheiden müssen, als seien wir frei, bleibt unbestreitbar; und dass sich ein freier Mann von einem befehlshörigen Sklaven auch sehr nachdrücklich unterscheidet, dies vermöchte wohl auch nur ein Professor besonderer Art zu leugnen.

Dies hat jedoch in Hinblick auf die Freiheit der Forschung noch eine weitere, fundamentale Konsequenz. Wenn der Mensch nämlich handeln muss, als sei er frei, dann hat er auch gar keine andere Wahl, als von dieser Freiheit, als Wahlmöglichkeit nach guten Gründen, Gebrauch zu machen. Deshalb ist es eine naturgegebene Fähigkeit jedes Menschen, zuallererst Fragen zu stellen, wie die Welt beschaffen ist, warum die Welt so und nicht anders ist, und ob er sie nach eigener Einsicht verändern kann, verändern darf, verändern sollte – alles Fragen als Voraussetzung von Entscheidungen, wie sie das Streben jeder Wissenschaft ständig antreiben. Der freie Mensch ist deshalb nicht nur der innovationsfähige Mensch, er ist auch der innovationspflichtige Mensch, der sich immer wieder fragen muss, ob er und wie er auf die Wirklichkeiten von Natur und Gesellschaft verändernd einwirken könnte, statt sich ihren Zwängen willenlos auszuliefern.

Das Recht zu forschen

In einer Welt ohne Freiheit gäbe es daher auch keine Wissenschaft. Aber auch umgekehrt gilt: Wo Menschen frei sind zu denken, zu erkennen, auszusprechen, was sie erkannt zu haben meinen, und es mit anderen kritisch zu prüfen und danach zu handeln, haben sie auch das fundamentale Menschenrecht auf freies wissenschaftliches Forschen, da dies ein wesentlicher Ausdruck ihrer Menschlichkeit, ja ihrer Menschenwürde ist. Es war der Philosoph Baruch de Spinoza, der dies 1670 in seinem Tractatus Theologico-Politicus zuerst ganz klar auf den Punkt brachte, indem er feststellte, dass es der eigentliche Zweck des Gemeinwesens sei, dass die Menschen „selbst frei ihre Vernunft gebrauchen.“ Er beendet das Traktat mit der Feststellung, die jedem freien Rechtsstaat zugrunde liegen muss: „Finis ergo rei publicae re vera libertas est“ –„Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit“, das heißt, die Sicherung der Freiheitsrechte seiner Bürger. Welch anderes, hoffnungsvolleres Bild des Gemeinwesens als Thomas Hobbes’ düsterer Staatsschutz-Leviathan!

"Ob wir „wirklich frei“ sind – was immer dies auch heißen mag –, werden wie vielleicht niemals wissen; dass wir aber ununterbrochen entscheiden müssen, als seien wir frei, bleibt unbestreitbar."

Selbstverständlich ruft gerade dieses Bekenntnis zur Freiheit eines jeden in einem freien Gemeinwesen sofort die Frage nach den Grenzen solcher Freiheit hervor. Diese erhält seit langem – bei Aristoteles, Thomas von Aquin, Montesquieu, in liberalen Verfassungen aller Art – die Antwort, dass jeder nur insofern von seiner Freiheit Gebrauch machen darf, als er dadurch den gleichen Anspruch seiner Mitbürger auf Nutzung ihrer Freiheit nicht behindert – was Schopenhauer bekanntlich in das ironische Bild der in sicherem Abstand vereinten Stachelschweine gefasst hat. Zwei Sicherungen sind es im Wesentlichen, die eine Gemeinschaft gegen Freiheitsexzesse ihrer Mitglieder schützen können: eine individualpsychologische, die wir Gewissen und Selbstverantwortung nennen, und eine gemeinschaftlich-institutionelle, nämlich das für alle geltende Recht, das in Gesetzen und Verordnungen nach gemeinsam akzeptierten und legitimierten Verfahren wirksam wird. Vor allem aber setzt Verantwortung Zurechnungsfähigkeit, also Entscheidungsfreiheit voraus: ein nicht willensfreier Mensch ist auch für nichts verantwortlich zu machen.

Es ist das notwendige Korrelat der Freiheit, alles freie Handeln, das andere Mitmenschen berührt, unter Begründungspflicht zu stellen. Verantwortung: das bedeutet immer Anspruch an sich selbst, nach eigenem Wissen und Gewissen, und Anspruch der Gemeinschaft an jeden, nach den Zielen und Werten des gemeinschaftlichen Lebens zu streben und dazu nach besten eigenen Fähigkeiten gerade durch freies Handeln beizutragen. Dass dies nicht ohne die Freiheit des selbstverantwortlichen Handelns möglich ist, habe ich erläutert. Dass Freiheit ohne Verantwortung vor der Gemeinschaft buchstäblich ins Leere läuft, zu bloßer Eigensucht verkommt, gilt genauso. Keine Volksvertretung ist jedoch berechtigt, dem Bürger mehr von seiner Freiheit wegzunehmen, als es das Gemeinwohl erfordert. In der parlamentarischen Demokratie sind Abgeordnete nicht etwa Willkürherrscher auf Zeit und Bürger Knechte auf Zeit, sondern der Gesetzgeber ist bei der Verfolgung des Gemeinwohls genauso zur legislativen Beschränkung auf das Notwendige verpflichtet, wie die Gerichtsbarkeit auf richterliche Zurückhaltung: Freiheit ist zuallererst das Freiheitsrecht jedes Einzelnen und von Gruppen zur Förderung eigener und gemeinsamer Zwecke, kein Staatsauftrag und schon gar keine gnädige Gefälligkeit eines Staates gegenüber seinen Bürgern. Wie schwer es allerdings manchen Politikern fällt, dies zu akzeptieren, sieht man, wenn sie beklagen, die freie, sich globalisierende Wirtschaft gefährde die Demokratie. Man möchte schon fragen, wo bei manchen ihr sonst gern laut beschworener Internationalismus bleibt, wenn die Globalisierung freier Märkte – gerade auch zu Gunsten bisher benachteiligter Völker – ernst damit macht.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Was bedeutet all dies für den Bereich der Wissenschaft, dem Forschen nach Erkenntnissen, Entdeckungen, Erfindungen und deren Weitergabe in der Lehre? Was Wissenschaft ist, scheint einfach: ihr geht es doch immer um Erkenntnis der Wahrheit! Was Wahrheit ist? Auch darüber gibt es genug Gelehrtenstreit. Ich halte mich an die alte aquinische Formel von der adaequatio intellectus et rei, also der Übereinstimmung von geistigem Urteil und Wirklichkeit, die es nahe legt, die Zweckbestimmung aller Wissenschaft in dem zuverlässigen Verständnis der Wirklichkeit zu sehen. Demnach muss sich die Zuverlässigkeit von Theorien in ihrer praktischen Anwendung empirisch erweisen. Dazu bedarf die Wissenschaft zwar des unablässigen Strebens nach Wahrheit, aber keiner allumfassenden Definition des Endziels wissenschaftlicher Wahrheit. Wahrheit ist wie Tugend kein Faktum, sondern eine regulative Idee der Wissenschaft. Viel wichtiger ist für sie und alle in ihr Tätigen hingegen Wahrhaftigkeit: das freie, ehrliche und umfassende Mitteilen ihrer Erkenntnisse, was Wissenschaft zu einer eminent sozialen Leistung macht. Denn nur mitgeteiltes Wissen ist überprüfbar; was nur einer weiß oder zu wissen vorgibt, weiß eigentlich keiner!

Wissenschaft ist kein Glaubensbekenntnis; Wissenschaft ist auch keine Kirche mit geoffenbarten Wahrheiten (obwohl Mathematik dem manchmal verdächtig nahe kommt!). Sie kanonisiert keine Heiligen, ob sie nun Isaac Newton, Charles Darwin oder Albert Einstein heißen. Mit den Worten des Horaz sagt es der Wahlspruch der Royal Society – als ihr Mitglied bin auch ich ihm verpflichtet –: „Nullius addictus iurare in verba magistri, quo me cumque rapit tempestas, deferor hospes“ („Auf keines Lehrers Wort zu schwören verpflichtet, bleib ich zu Gast, wohin mich der Sturm auch verschlägt“ – der Sturm der Freiheit des Geistes, so möchte man es wohl deuten).

Wissenschaft kanonisiert allenfalls Erkenntnisse – solange jedenfalls, bis sie durch zutreffendere, d.h. als zuverlässiger bewährte Einsichten ersetzt werden. Sie muss die Anwendung und Aussagekraft ihrer Methoden immer vor jedem, der es wissen will, öffentlich mit widerlegungsfähigen Argumenten begründen. Doch widerlegen heißt etwas viel Anspruchsvolleres, Anstrengenderes als nur einfach bezweifeln. Zweifeln kann im Grunde auch jeder einfache Geist (wie übrigens auch glauben!): Mit belegbaren Gründen behaupten und mit solchen Gründen widerlegen – das ist die hohe Kunst der Wissenschaft. Deswegen nimmt sie auch nicht gleich jeden läppischen Einwand ernst, den irgendwer – so prominent er auch sein mag – gegen irgendetwas in der Wissenschaft vorbringt.

Fragt man also nach der speziellen Verantwortung der Wissenschaft, so kann die Antwort nur sein: sie muss alles, was immer man sie fragt, ganz genau wissen wollen und zuverlässig darüber Auskunft geben. Sie muss dies einleuchtenderweise besonders immer dann leisten, wenn die Antwort auf eine gehaltvolle Frage noch unbekannt ist; den Weg zu solchen Antworten nennt man Forschung. Und da sie dazu verpflichtet ist, bleibt es nicht aus, dass sie – um Wissenschaft zu sein – immer mit Neuem aufwartet, neuen Erkenntnissen, neuen Erfindungen, neuen Handlungsmöglichkeiten. Cupidus rerum novarum haben die Römer Umstürzler geheißen: Wissenschaftler haben, wenn sie gut sind, immer etwas davon an sich. „Neuerungssüchtig“ wäre vielleicht der zutreffende Begriff.

Wir wissen alle: dies hat gute und schlimme Folgen. Ich will es an einem griechischen Mythos erläutern: dem Mythos von Prometheus und Epimetheus. Diese Titanenbrüder geben die schönsten Sinnbilder für Wissenschaft ab. Prometheus, dem „Vor-Bedachten“ verdanken wir bekanntlich das Feuer – Voraussetzung aller wissenschaftlich-technischen Kultur. Dafür, dass er es den Menschen brachte, hat Zeus ihn dann freilich an eine Säule gefesselt und täglich höchst leberschädlich durch einen Adler piesacken lassen. Den Göttern war es also zuwider, dass Menschen Macht über die Kraft des Feuers erhielten, der sie schmiedbares Erz, damit Waffen und Werkzeuge, vor allem Pflug und Rad verdanken, aber auch die Gewalt zur Zerstörung ihrer Umwelt, um diese auszubeuten. Mit anderen Worten: ohne Prometheus keine Zivilisation, aber ohne Prometheus auch kein anthropogener Treibhauseffekt: ein wahrer Wissenschaftspate! Und sein Bruder Epimetheus? Von ihm – dem „Nach-Bedachten“, dem „Spätzünder“, dem „Hinterher-Gescheiten“, der die Folgen seiner Taten nicht vorauszubedenken verstand, – erfahren wir vor allem, dass er die von Zeus gesandte, offenbar bildhübsche Pandora in sein Haus aufnahm, und dann auch noch neugierig deren Krug voll all der Übel öffnete, an denen die Menschheit seither krankt. Ihn möchte man lieber als Stammvater so mancher Zeitgenossen requirieren, die immer das Gute wollen, bei denen aber selten etwas Gescheites dabei herauskommt. Fast kommt einem das vorwissenschaftliche Brüderpaar wie die Stammväter der „Zwei Kulturen“ vor! Kann schon sein, dass bei uns Deutschen heute ein wenig zu oft Epimetheus das Sagen hat.

Jedenfalls lehrt uns diese Parabel, dass Wissenschaft und Technologie von allem Anfang an nur zu haben sind, wenn man auch die nachteiligen Nebenwirkungen in Kauf nimmt und prometheisch vorauszubedenken vermag. Ich sage dies, weil heute so viele Menschen Wissen, Macht und alles, was Wissenschaft mit sich zu bringen vermag, zwar gern möchten, aber bitte ohne Kosten, ohne Schäden, ohne Spätfolgen und Nebenwirkungen – mit garantiertem Nullrisiko sozusagen. Man wird also Freiheit und Verantwortung von Wissenschaft immer nur mit Vor- und Nachteilen zusammen denken dürfen, gleichsam: trau keinem Professor (oder Prometheus), der nur Gutes verspricht!

Wie müssen wir uns daher die Verantwortlichkeit der Wissenschaftler im konkreten Leben vorstellen? Ich sprach schon von der Wahrhaftigkeit, die wir ohne Ausnahme von ihnen fordern müssen. Wissenschaftler müssen die Gründe für ihre Behauptungen offen legen und persönlich dafür einstehen: es ist bekannt, dass der Begriff Professor von profiteri – sich öffentlich bekennen – und nicht etwa von proficere – vorteilhaft vorankommen – abgeleitet ist. Ob sie damit auch öffentlich anecken können? Wer möchte dies bezweifeln? Schon Georg Christoph Lichtenberg bezweifelte, dass man die Fackel der Wahrheit durch die Menge tragen könne, ohne dem einen oder anderen dabei den Bart zu versengen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Wissenschaftler keine sektiererische Verschwörungsgemeinschaft gegen Andersmeinende bilden, sondern sich, wenn sie gute Gründe vorbringen können, auch gegenseitig offen widersprechen: man denke an die Klimadebatte und andere Umweltprognosen: Waldsterben, BSE, vielleicht auch Feinstaub. Wer erinnert sich noch an Acrylamid in Spekulatius oder Pommes Frites, das uns kürzlich alle bedrohte? Es ist übrigens bemerkenswert: Je kleiner die Giftmengen oder Staubteilchen, umso gefährlicher scheinen sie zu werden. Bei einer Grenzwertbetrachtung könnte das dazu führen, dass, wenn die Partikelgröße gegen Null geht, die Gefahr am allergrößten wird: virtuelle, ganz und gar eingebildete Bedrohungen wären dann die schlimmsten für uns. Es gibt ja sogar Leute, die meinen, ihre Leberzirrhose käme von den Nitrosaminen im zu viel konsumierten Bier, oder die mit der zehnten Zigarette im Mund dagegen protestieren, dass Dieselfahrzeuge ihren Müll wegfahren.

Wie dem auch sei: Nur ein Narr könnte öffentliche Kontroversen zwischen Wissenschaftlern für politisch schädlich halten. Ein besonders übler Fall eines Verstoßes gegen dieses Prinzip, öffentlich für das Erkannte einzutreten, wurde vor kurzem (1.3.05, S. 15) in der FAZ berichtet. Die neue Präsidentin des Bundesarbeitsgerichtes hatte sich wohl zum deutschen Arbeitsrecht und seinen ökonomischen Folgen in einer Weise geäußert, die ich nicht bewerten möchte, die jedoch bei manchen Professoren des Fachgebiets Widerspruch hervorrief. So weit, so richtig. Dass mehrere dieser Rechtsprofessoren aber diese Kritik anonym äußerten, ohne mit Namen und Gründen dafür einzustehen, weil sie „schließlich 16 Jahre mit ihr leben müssen“, fand ich – in einem freien Land – geradezu empörend und eine grobe Verletzung wissenschaftlich verantwortlichen Verhaltens.

Vor allem aber haben Wissenschaftler für die Zuverlässigkeit ihrer Daten und Argumente – und deren Grenzen! – öffentlich zu bürgen. Unzuverlässiges Wissen ist schlimmer als gar kein Wissen. Niemand muss sich scheuen, auch bloße Vermutungen über Sachverhalte zu äußern – man denke an die Vermutungen berühmter Mathematiker, die sich oftmals später von anderen bestätigen ließen –, solange nur Vermutungen als Vermutungen und nicht als begründete Behauptungen klar gekennzeichnet werden. Dagegen wird leider – auch aus Gier nach öffentlichem Interesse, aber auch nach Ruhm und Geld – schrecklich oft von „Wissenschaftlern“ verstoßen, die diesem Namen Schande bereiten. Astrologie mag für Fernsehunterhaltung taugen, nicht für Wissenschaft.

Schließlich müssen Wissenschaftler, die ihr Geld wert sein wollen, eines vor allem sein: originell, kreativ, innovativ, wie immer man es nennen mag. Selbstverständlich ist es wichtig, schon Erkanntes erneut zu prüfen, zu widerlegen oder zu bestätigen und durch Lehre weiterzugeben. Aber es gilt doch auch der gehässige Satz: „Who can does. Who cannot teaches. Who cannot teach teaches teaching.“ – jedenfalls, wenn es dabei um Spitzenforschung geht. Kreativ sein zu können erfordert aber vor allem eines: die Freiheit, selber zu fragen, zu suchen, zu forschen und natürlich dann auch die Folgen – Erfolge wie Misserfolge – selber zu tragen.

Darüber, wo hier Grenzen zu ziehen sind, wird es allerdings immer wieder Auseinandersetzungen geben. Viele Forscher werden sie möglichst weit ziehen wollen; eine Gesellschaft, die für solche Forschung aufkommt und ihre Ergebnisse manches Mal ebenso erhofft wie befürchtet, mag dies im einzelnen anders sehen. Deshalb kann es dafür keine andere Lösung geben als diese: Wissenschaftler dürfen nicht allein unter sich ausmachen, wo sie solche Grenzen des Forschens gerne gezogen sähen (zumal sie ja selbst selten einig darüber sind!). Sie haben die Verantwortung – gerade wenn sie ihre Forschungsfreiheit hochschätzen und schützen wollen –, die Gesellschaft, in der, mit der und von der sie leben und arbeiten, nach bestem Wissen und Gewissen über Motive und Möglichkeiten ihres Forschens aufzuklären und die damit verbundenen oder auch nur eingebildeten Folgen, aber auch der ethischen und rechtlichen Schranken für ihre Forschungsarbeit in breiter Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen, an der sich Bürger aus allen Lebensbereichen gleichberechtigt beteiligen können. Die Entscheidung, wo solche Grenzen dann jeweils auf Zeit oder Dauer gezogen werden sollen, obliegt den zur Gesetzgebung gewählten Vertretern des ganzen Volkes. Selbstverständlich bleibt es Einzelnen oder Weltanschauungsgruppen unbenommen, für sich selber solche Grenzen des forschenden Handelns enger zu ziehen.

"Keine Weltanschauungsgemeinschaft, so überzeugt sie auch von ihren Glaubensauffassungen sein mag, kann beanspruchen, dass ihre Moralsetzungen für alle gelten müssen."

Laute und klare Worte

Ein Wissenschaftler hat die Pflicht, die Öffentlichkeit über alle Argumente einer Debatte – z.B. aus Anlass der Zulässigkeit von Forschung und Therapie mit humanembryonalen Stammzellen – zu unterrichten, die ihm dabei wesentlich erscheinen, auch wenn noch so viele diese nicht anhören und abwägen wollen.

So habe ich nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die Belange der Forschungsfreiheit im Dienste an Mitmenschen, die neuer biomedizinischer Forschungsergebnisse dringend bedürfen, selbst dann mit Nachdruck öffentlich vertrete, wenn dies manchmal einigen meinungsstarken Persönlichkeiten nicht ganz angemessen erscheinen mag. Ich habe dabei Ansichten geäußert, wie sie übrigens in der Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer – von Spanien bis Frankreich, von Belgien bis Schweden – den geltenden Gesetzen entsprechen, und auch in Israel, Australien, Brasilien, Indien, Südkorea oder China Grundlage staatlich unterstützter Forschung sind; von Singapur gar nicht zu reden, das uns deutschen Wissenschaftlern doch gerne von Wirtschaftskennern wie Politikern als leuchtendes Vorbild hingestellt wird. So sieht die Welt aus, mit der wir im Innovationswettbewerb stehen, und nicht, wie sie sich manche Zygotenmystiker vorstellen mögen, die die Engel auf verfassungsrechtlichen Nadelspitzen tanzen lassen, selbst wenn sie dies aus noch so achtenswerten Beweggründen tun. Es scheint ja Menschen zu geben, die entwicklungsgenetische Totipotenz mit göttlicher Omnipotenz verwechseln. Und wenn ein höchst sachkundiger Spitzensprecher der deutschen Forschungsförderung therapeutisches Klonen zum Irrweg erklärt, ehe es auch nur erprobt wurde, so erinnert dies schon ein wenig an frühere wissenschaftliche Behauptungen, die Erde könne nicht älter als 10.000 Jahre sein oder Flugmaschinen seien technisch unmöglich.

Man mag erahnen, was es für einen Deutschen wie mich bedeutet, wenn ein englischer Wissenschaftler, Ian Wilmut, den Paul Ehrlich-Preis, den wichtigsten deutschen Forschungspreis in der biomedizinischen Forschung, für Forschungen erhält, für die ihn deutsche Medien wie eine Meute verbellen, weil in Deutschland seine ausgezeichnete Forschung, zu der ihn Großbritannien ermutigt und fördert, strafbar wäre. Manchmal wird man dabei doch an den Geisterfahrer erinnert, der im Verkehrsfunk hört, auf seiner Autobahnstrecke käme ihm ein Geisterfahrer entgegen und der daraufhin denkt: Was heißt da einer? Ich sehe Hunderte, die falsch fahren!

Es ist der ganz besondere Dienst eines Wissenschaftlers an einem freiheitlichen Gemeinwesen, offen zu sagen, was er zu wissen meint. Dafür muss er sich dann auch öffentlich kritisieren lassen. Am Ende einer solchen, auch noch so hitzigen Debatte hat allein der Gesetzgeber zu entscheiden. Denn das Gesetz gilt für jeden, Laien wie Forscher. Damit der Gesetzgeber allerdings sachgerecht und normenbewusst zugleich entscheiden kann, muss er alle einschlägigen Argumente zu hören bekommen und zwar laut und klar: nec laudibus, nec timore: nicht um Zustimmung buhlend, aber ohne Furcht vor Kritik. Das ist es nun einmal, was eine freie Gesellschaft lebens-, liebens- und verteidigungswert macht, dass sie auch laute und klare Worte duldet, ja sogar fordert. Wenn es also zunächst wie eine Ironie klingt, dass ich nicht wegen des öffentlichen Gebrauchs der Freiheit zum Gemeinnutzen sondern trotz dieses Gebrauchs ausgezeichnet worden bin, so könnte es doch tatsächlich sein, dass die Jury des Hanns Martin Schleyer-Preises sehr wohl wusste, was sie tat, als sie mich gerade wegen meiner Ansichten zur Freiheit der Wissenschaft in einem freiheitlichen Rechtsstaat auszeichnete.

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