01.09.2004

Auf dem „deutschen Weg“ ins 21. Jahrhundert

Kommentar von Sabine Reul

Auf dem „deutschen Weg“ ins 21. Jahrhundert

Die Beunruhigung in Teilen der Bevölkerung angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt und des drohenden Verlustes an Lebensstandard und sozialer Sicherheit ist sicherlich berechtigt. Doch artikuliert sich in den aktuellen Demonstrationen gegen die Reformpolitik der Regierung nicht wirklich Bereitschaft zum Widerstand, sondern die eher resignative Wahrnehmung, dass der Reformkurs nicht überzeugt. Bei allem Respekt: offenbar begreift die Politik noch immer nicht ganz, worum es geht. Wenn Wolfgang Gerhardt (FDP) Hartz IV als „brandgefährlich“ wertet und andere von der „Wut“ der Straße sprechen, bezeugt das entweder einen grotesken Hang zur Übertreibung oder mangelnde historische Kenntnis. Die Probleme liegen heute nicht auf der Straße, sondern in den Regierungs- und Parteizentralen.

Es fehlt zurzeit nicht an Analysen und Kommentaren, die versuchen, die Ursachen der anhaltenden Lähmung der Politik zu identifizieren. Häufig wird dabei die Unfähigkeit der Regierung bemängelt, ihre Vorhaben nachvollziehbar zu erklären. Doch treten Union und FDP auch nicht gerade mit richtunggebenden Aussagen in Erscheinung. Mangel an klaren politischen Absichtsbekundungen ist kein Privileg der Regierungsparteien, sondern ist der gesamten politischen Elite zu eigen. Das so genannte „Vermittlungsproblem“, von dem inzwischen viele sprechen, ist bestenfalls die Spitze des Eisbergs, unter der sich viel grundsätzlichere Fehlentwicklungen verbergen.

Der Politik fehlt heute der Mut; sie scheut sich, sowohl die Schwierigkeiten als auch die Chancen gedanklich aufzunehmen und beim Namen zu nennen. Andere Völker haben den Umbau der wohlfahrtsstaatlichen Systeme der Nachkriegsära schon weitgehend hinter sich und arbeiten relativ gut gelaunt an der Erkundung der Möglichkeiten, die ein sich neu strukturierendes Umfeld ungeachtet aller Einschnitte in die soziale Versorgung bereithält. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Großbritannien, einst das kranke Land Europas, rechnet im nächsten Jahr mit Vollbeschäftigung. Exportweltmeister Deutschland dagegen erodiert in lähmender Selbstzerknirschung.

Seit den 90er-Jahren zieht man hierzulande das Leben mit Selbsttäuschung dem Mut zur Wahrheit vor. Das galt bekanntlich schon für den Umgang mit der Wiedervereinigung, aber das hat sich seither eher noch verfestigt. Es ist somit kein Wunder, dass die Bevölkerung ins Grübeln kommt. Wenn die Politik versucht, ihr die umfassendste Kürzung der sozialen Bezugsansprüche mit einer diffusen Wunschvorstellung statt der Wahrheit zu verkaufen, ist eine andere Reaktion kaum zu erwarten. Die Behauptung, diese Maßnahme schaffe Arbeitsplätze, ist Augenwischerei. Sie entlastet die Staatshaushalte; doch selbst der gewünschte Nebeneffekt, Anreize zur Aufnahme von Arbeit zu schaffen, läuft ins Leere, wenn es Arbeitsplätze nicht gibt – und die entstehen nur durch Investitionen und Neueinstellungen, also durch Risikobereitschaft, Kreativität und Erfolg von Unternehmen. Spräche man diese schlichte Wahrheit endlich aus, würde deutlich, dass der Abbau des Sozialstaats nur ein angesichts anhaltender Wirtschaftsschwäche derzeit unvermeidbarer Schritt ist – nicht jedoch die Antwort auf wirtschaftliche Stagnation oder die durch sie bedingte Massenarbeitslosigkeit.

„In keinem Land der Erde sind Stimmen, die neben dem trüben Mantra über die Gefahren von Technik, Alterung, Globalisierung und Umweltzerstörung eine frohere Botschaft über die Chancen des Wandels und der Innovation anklingen lassen, so marginalisiert wie in Deutschland.“

Der Hang der Politik zur Selbsttäuschung und ihre Scheu vor Offenheit haben sich wie Mehltau über Deutschland gelegt. Es ist ein Klima der Mutlosigkeit entstanden. Wenn die Proteste dieser Tage überhaupt eine klare Botschaft vermitteln, dann die, dass die Bevölkerung dieses Klima satt hat. Zu Recht, denn es liegt auf der Hand, dass in einem Umfeld gesellschaftlicher Ermüdung, in dem weder Neugier noch Leidenschaft wachsen können, die Impulse, die nötig wären, um auf einen neuen Wachstumskurs zu gelangen, mit Sicherheit nicht entstehen werden.
Appelle zu mehr Offenheit allein werden an dieser Lage wenig ändern. Gefragt ist auch die kritische Beschäftigung mit grundsätzlicheren Problemen unserer politischen Kultur. Woher rührt der besondere „deutsche Weg“ des Umgangs mit dem Wandel? Vieles spricht dafür, dass bürokratische Beharrung und die postmodernen Ideologien der Risikofurcht, Wachstumsfeindlichkeit und des Zukunftspessimismus hierzulande eine Verbindung besonderer Art eingegangen sind. Letztere sind zwar in allen westlichen Ländern sehr einflussreich, doch in keinem Land der Erde sind Stimmen, die neben dem trüben Mantra über die Gefahren von Technik, Alterung, Globalisierung und Umweltzerstörung eine frohere Botschaft über die Chancen des Wandels und der Innovation anklingen lassen, so marginalisiert wie in Deutschland. Nirgends behindern die genannten ideologischen Trends in vergleichbarem Ausmaß die Investitionsfreude und Kreativität der Gesellschaft. Hierzulande haben sich grüne Ideologeme und Bewahrungsimpulse sowohl sozial- als auch christdemokratischer Provenienz in einer Weise aneinander gebunden, die positive Veränderungen nachhaltig unterbindet.

Diese Mentalität verkörpert die rot-grüne Koalitionsregierung in Personalunion, und man könnte es als Ironie der Geschichte werten, dass ausgerechnet diesem Bündnis aus Bewahrern und Verhinderern die Aufgabe zufällt, Deutschland ins 21. Jahrhundert zu führen. Doch inzwischen ist Zukunfts- und Verantwortungsscheu über alle Parteigrenzen hinweg tief verankert. Hinter der unübersehbaren Furcht der politischen Eliten vor Offenheit, ihrer Neigung zu Ausweich- und Rückzugsmanövern und dazu, sich vor der vorgeblichen Wählermeinung zu verstecken, verbirgt sich sehr viel mehr, als sich durch den einfachen Ruf nach einer besseren Kommunikationspolitik beheben ließe.

Die gesellschaftliche Blockade Deutschlands rührt offenbar aus einer unglücklichen geistigen und politischen Konstellation. Auch für andere Länder war der Übergang aus den Gewissheiten des Kalten Krieges in die kompasslose Welt des 21. Jahrhunderts mühevoll. Doch nahezu alle haben ihn schneller und beherzter in Angriff genommen. Daran haben sicher eine Reihe historischer Faktoren mitgewirkt. Dass die deutsche Politik sich ein halbes Jahrhundert lang unter dem fürsorglichen Schirm der westlichen Allianz ausruhen durfte, nachdem sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts mit politischer Eigenständigkeit nur mehr oder weniger katastrophale Erfahrungen gemacht hatte, mag einer sein. Das hat sicher dazu beigetragen, dass der deutschen Politik die neue offene Welt der Globalisierung gewöhnungsbedürftiger erscheint als anderen. Die Affinität zur grünen Ideologie der Risikovermeidung und Fortschrittsverhinderung mag in diesem historischen Untergrund wurzeln. Doch das mag sein, wie es will. Auf Veränderungen kommt es an.

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