01.11.2004

Anti-imperialistische Zombies im Kampf gegen das Empire

Essay von James Heartfield

Es scheint, als erlebe die marxistische Kapitalismuskritik eine Renaissance. Doch ist es ein sehr antimoderner Zeitgeist, der ihr heute ein neues Scheinleben einhaucht.

„Ich nenne diese Kategorien ‚Zombie-Kategorien‘, weil sie tot sind, aber trotzdem irgendwie weiterleben und uns gegenüber der Realität unseres Lebens blind machen.” Ulrich Beck

In der Antikriegsbewegung treffen junge Menschen, die gegen Bush, Blair und Berlusconi protestieren, auf ältere Radikale, die sich freuen, ein neues Publikum für ihre Polemiken gegen Kapitalismus und Imperialismus zu finden. Sie entstauben die marxistischen Klassiker, nach denen die Krise der Kapitalakkumulation Großmachtkonkurrenz, Kriege und Ausbeutung bedingt, und möchten sie im 21. Jahrhundert einem neuen Publikum schmackhaft machen.

„Das heutige Aufbegehren gegen „Imperialismus” und „Überakkumulation” impliziert nicht einmal im Ansatz revolutionäre Bestrebungen. Stattdessen werden diese radikalen Konzepte zum bloßen rhetorischen Ausdrucksmittel moralischen Abscheus gegenüber der Politik.“



Dabei leihen Altlinke ihr Vokabular einer Bewegung, die gar nicht mehr daran interessiert ist, die Welt zu verändern, sondern sie nur beklagen möchte, oder besser gesagt: für die Protest sich selbst genügt . Die ursprüngliche Imperialismustheorie sah eine Übergangsepoche voraus, in der die barbarischen Tendenzen der Zeit als Zeichen des Kampfes der alten Gesellschaft gegen das Entstehen einer neuen galten. Wir leben nicht in einer Zeit des revolutionären Übergangs, und es gibt weit und breit keine ernstzunehmende Bewegung, die eine neue Gesellschaft anstrebt. Ideen, die in revolutionären Zeiten entwickelt wurden, verändern zwangsläufig ihre Bedeutung, wenn sie in einem anderen Kontext wieder hervorgeholt werden. Das heutige Aufbegehren gegen „Imperialismus” und „Überakkumulation” impliziert nicht einmal im Ansatz revolutionäre Bestrebungen. Stattdessen werden diese radikalen Konzepte zum bloßen rhetorischen Ausdrucksmittel moralischen Abscheus gegenüber der Politik.


Das 2001 erschienene Werk Empire von Michael Hardt und Antonio Negri öffnete die Schleusen für eine neue Kritik des US-amerikanischen Imperialismus. Sie war ein Wendepunkt der „antikapitalistischen Bewegung“, die bis dahin sich auf Kritik am Markt konzentriert hatte und dem Staat wenig Aufmerksamkeit schenkte.[1] Weltpolitische Ereignisse wie der Kosovokrieg im Jahre 1999 und die Wahl von George W. Bush zum US-Präsidenten ein Jahr später trugen zur Wiederbelebung der Imperialismuskritik bei. Angesichts der (eher symbolischen als realen) Veränderungen, die mit dem Amtsantritt der Bush-Regierung einhergingen, distanzierte sich die Linke in einer Art und Weise von der amerikanischen Politik, die so in der Clinton-Ära nicht bestanden hatte.[2]Die antikapitalistischen Proteste von 1998-2001 wichen den Antikriegsprotesten von 2003-2004, und die radikale Kritik des amerikanischen „Imperialismus“ wurde deren Begleitmusik. Zentrale Kategorien und Themen dieser neuen Imperialismus-Debatte sind die „Überakkumulation,“ der „Krieg um Öl”, die Problematisierung der Handelsbeziehungen zwischen den großen Mächten, die „anhaltende Plünderung der nichtkapitalistischen Welt“ und der „Handels-Imperialismus“.

„Die Legende vom „Krieg um Öl“ hat sich trotzdem hartnäckig gehalten. Sie verkörpert die Verschmelzung altlinker Imperialismustheorien mit der Neigung moderner Zyniker, Regierungen grundsätzlich als korrupt zu betrachten.“



Der Krieg um Öl
Nahrung erhielt die neue Imperialismuskritik durch die Art, in der die Bush-Regierung sich auf ihre eigenen Ambitionen einen Reim zu machen versucht. Republikanische Denkfabriken wie das „Project for the Next American Century“ definierten die außenpolitischen Ziele Amerikas in der Tat als „Full Spectrum Dominance“ und verwendeten selbst den Begriff „Empire“. Michael Mann beschreibt in Die ohnmächtige Supermacht die US-Politik zu Fragen wie denen nach Raketenabwehrsystemen, Iran und Philippinen übergreifend als „Teil einer großen Strategie für das globale amerikanische Imperium.“ Oxford-Professor David Harvey, einer der weltweit profiliertesten Geographen, fasst in Der neue Imperialismus das politische Projekt des amerikanischen Neokonservatismus wie folgt zusammen: „Der Irak wird für eine kapitalistische Entwicklung liberalisiert, um eine wohlhabende Konsumgesellschaft nach westlichem Vorbild als Modell für den Nahen Osten zu schaffen… Das irakische Öl wird für die Finanzierung des Wiederaufbaus und die Begleichung eines Teils der Kriegskosten genutzt. Dabei ist zu hoffen, das Öl auf dem Weltmarkt zu einem ausreichend niedrigen Preis liefern zu können, um zur Wiederbelebung der Weltwirtschaft beizutragen.“


Zwar begriffen manche Kommentatoren, dass diese Ambitionen eher illusionär waren[3], und die Plünderung des irakischen Ölreichtums ist heute kaum noch ein Thema. Die Legende vom „Krieg um Öl“ hat sich trotzdem hartnäckig gehalten. Sie verkörpert die Verschmelzung altlinker Imperialismustheorien mit der Neigung moderner Zyniker, Regierungen grundsätzlich als korrupt zu betrachten. Harvey wurde Anfang 2003 vom linken Kolumnisten George Monbiot im britischen Guardian dafür gelobt, die erste umfassende Erklärung der Kriegsbesessenheit der US-Regierung geliefert zu haben. Offenbar war Monbiot entgangen, dass Harvey nur eine deformierte Version der Lenin’schen Imperialismustheorie von 1916 angeboten hatte: „Die USA stehen vor dem fundamentalen Problem, das periodisch alle erfolgreichen Wirtschaften heimsucht: die Überakkumulation des Kapitals.“[4] In Wirklichkeit ertrinken die USA aber heute keineswegs in Kapital, sondern sind auf massiven Kapitalimport aus dem Ausland angewiesen.[5]

„Ohne Widerstand seitens einer organisierten Arbeiterschaft sind sinkende Profitraten ein Problem, mit dem man leben kann.“



„Überakkumulation“ – im Verhältnis zu was?
Theorien der Überakkumulation gibt es, seit Adam Smith im 18. Jahrhundert annahm, die Profite müssten gegen Null tendieren, wenn ihnen zu viele Kapitalisten nachjagen. Auf Resonanz stieß seine „Theorie der sinkenden Erträge” angesichts der Koinzidenz von steigenden Investitionen und schwindenden Profiten in den 1820er-, 1870er- sowie den 20er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen sinkende Profite generell als Vorboten des wirtschaftlichen Niedergangs galten.5


Sinkende Erträge verursachen zweifellos auch heute Probleme. Erst unlängst fälschten Unternehmen wie Enron, Parmalat und Shell ihre Bilanzen, um die Dürftigkeit ihrer Gewinne zu verschleiern. Doch das führt nicht zu den Problemen, die früher damit verbunden waren. Ohne Widerstand seitens einer organisierten Arbeiterschaft sind sinkende Profitraten ein Problem, mit dem man leben kann.


Prüfstein der Theorie der Überakkumulation müsste die berühmte Darstellung der „zunehmenden Tendenz zum Sinken der Profitrate“ von Karl Marx sein. In Das Kapital: Eine Kritik der politischen Ökonomie, Band III, zeigte Marx, wie steigende Akkumulation zum Schrumpfen der Profitrate führen kann. Dieser Annahme liegt die These zugrunde, dass alle Gesellschaften einen Überschuss erwirtschaften, der das für die bloße Reproduktion erforderliche Niveau übersteigt. Im Kapitalismus hat dieser Überschuss eine spezifische ökonomische Gestalt: er entsteht als Profit auf das investierte Kapital. Das Problem sei, so Marx, dass ein immer größer werdender Anteil dieses Profits in Kapital investiert werde, das selbst keinen Mehrwert schafft, zum Beispiel in Maschinen und Rohstoffe (er bezeichnete das als „konstantes Kapital“), während ein immer geringer werdender Anteil des Profits in Arbeitskraft und damit in Kapital investiert werde, das Mehrwert schafft („variables Kapital“). „Überakkumulation” ist daher für Marx eine Überakkumulation von konstantem Kapital im Verhältnis zum Mehrwert schaffenden variablen Kapital.


Die Relevanz dieser Annahmen für die heutige Wirtschaft ist mehr als fragwürdig. Im vergangenen Jahrzehnt erfolgte die Kapitalakkumulation überwiegend durch extensive Investitionen, oder ‚arbeitsplatzreiches’ Wachstum. Das heißt, sie erfolgte durch „Schaffung neuer Produktionsstätten und Absorption ständig steigender Zahlen an Arbeitskräften und mithin schnelles Beschäftigungswachstum ohne den Vorzug eines entsprechenden Anstiegs der für jeden Arbeiter bereitstehenden Anlagen und Ausrüstungen – mit anderen Worten: ohne paralleles Wachstum des konstanten Kapitals“.[6]


In der Tat wuchs die Zahl der Erwerbstätigen von 1986 bis 2001 in Europa um 15 Millionen und in Amerika um 27 Millionen. In Südostasien und insbesondere in China wurden weitere Millionen Menschen in die kapitalistische Industrie rekrutiert. Das impliziert zwar eine Expansion der kapitalistischen Produktion. Doch vieles deutet darauf hin, dass sich das Verhältnis zwischen konstantem und variablem Kapital insbesondere mit der Expansion des arbeitsintensiven Dienstleistungssektors in genau die entgegen gesetzte Richtung entwickelt hat. Das Nachbeten der marxistischen Theorie der Überakkumulation ist daher heute wirklichkeitsfremd.


Allerdings ist die Überakkumulation von konstantem im Verhältnis zum variablen Kapital heute nicht die gängigste Krisenerklärung, sondern man spricht bevorzugt von der „Überproduktion von Waren“ im Verhältnis zum Markt. David Harvey vermischt beides, wenn er über das „allgemeine Problem der Überkapazität (Überakkumulation)“ schreibt. Robert Brenner, Autor von The Boom and the Bubble, stimmt ihm zu: “Die Überkapazitäten, die bereits 1998 bis 2000 zutage traten, sind eklatant geworden, seit die Überinvestitionen aus der Zeit der ‚Finanzblase‘ die Wirtschaft immer härter treffen.“ Brenner führt viele Belege für seine These an: die nur 2,5-prozentige Auslastung der Telekommunikationsnetze, den Überschuss von ca. 25 Prozent in der globalen Autoproduktion und die enorme Zunahme der Einzelhandelsflächen. Er betrachtet die Sache jedoch aus dem Blickwinkel des individuellen Unternehmers, für den die Absetzbarkeit von Waren immer ein angstbesetztes Thema ist. Es handelt sich nicht um eine Theorie, ja nicht einmal um eine stimmige Beschreibung der aktuellen Kapitalprozesse. Die Sache ist eigentlich recht einfach: Da die Unternehmen immer weniger in neue Produkte investieren, konzentrieren sie sich eben darauf, alte neu zu vermarkten. Wo wie in Großbritannien trotz deutlicher Stagnation der Löhne in den 90er-Jahren die Kassen weiterklingeln, verdankt sich das nur dem Anstieg der Beschäftigtenzahlen.


Brenner hat große Schwierigkeiten, den wirtschaftlichen Aufschwung in den USA ab 1993 in sein Gedankengebäude einzufügen und greift daher zu umständlichen Formulierungen wie „Aktienpreisexplosion“ und „Wachstumszunahme des privaten Konsums“, um dieser Tatsache auszuweichen. Daher ist es nur konsequent, dass er viel Aufhebens um den Sturz der Aktienkurse von 2000 bis 2001 macht und geradezu erleichtert feststellt, dass diese die kumulativen Gewinne der vorausgegangenen Jahre mit einem Schlag vernichtet hätten. Brenner wäre es offensichtlich lieber, wenn die 90er-Jahre nie stattgefunden hätten, da der Wirtschaftsoptimismus dieses Jahrzehnts so gar nicht in seine These hineinpassen will. Die Absurdität seiner Spekulationen wird vollends deutlich, wenn er „Überkapazitäten und Überproduktion“ als Ursache „fortgesetzter globaler Stagnation“ beschreibt, also Wachstum als Ursache des Niedergangs.[7]


Handel als Problem
Als im Kontext des Irakkriegs im UN-Sicherheitsrat Differenzen zwischen den großen Industrienationen zutage traten, hatten radikale Imperialismuskritiker schnell eine einfache Erklärung parat: Die Spannungen waren ihrer Ansicht nach ein Reflex inter-imperialistischer Handelsrivalität. So verweist Immanuel Wallerstein in The Decline of American Power auf die Beziehungen zwischen Amerika, Europa und Japan und wertet die seit den 70er-Jahren sinkende Kapitalakkumulation als Zeichen dafür, dass es nicht allen dreien gleichzeitig gut gehen könne. Ihre Konkurrenz bestehe darin, dass sie jeweils versuchten, Arbeitslosigkeit zu exportieren, um den Erhalt und die Steigerung des nationalen Reichtums zu fördern. Wallersteins Schema ist auf der deskriptiven Ebene nicht uninteressant. Aber die zugrunde liegende Annahme, die Wirtschaft befinde sich auf einer langen Talfahrt innerhalb einer Kondratieff’schen Kurve, ist so spekulativ wie unbewiesen. Es ist diese Voraussetzung, die Wallerstein zu der Sichtweise bewegt, dass „die triadische Spaltung“ in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich stärker“ werde.[8]


Auch Robert Brenner glaubt, der „Kampf um Exportmärkte” zwischen den USA, Deutschland und Japan gewinne „zunehmend Nullsummencharakter“. Seine Krisenerklärungen sind auf die Wechselkurse fixiert. In Brenners Modell manipulieren die Führer der Welt im Stile mittelalterlicher Prinzen ihre Währungen, um die Staatshaushalte ihrer Konkurrenten in Bedrängnis zu bringen. Seine schon fast merkantilistischen Thesen beziehen sich ausschließlich auf die monetäre Oberfläche des Wirtschaftsgeschehens. Nur so erklärt sich, dass er die ausgeprägte Tendenz zu Kooperation zwischen den großen Industriestaaten glatt übersieht. In Wirklichkeit hat seit dem Börsencrash von 1987, als japanische Investoren durch Ausweitung ihrer Kredite in den USA eine Rezession verhinderten, internationale Wirtschaftskooperation erheblich dazu beigetragen, die extremeren zyklischen Schwankungen erfolgreich zu glätten. In den 90er-Jahren finanzierten Amerikas Handelsrivalen kontinuierlich das amerikanische Defizit. Das heißt nicht, das es keine Rivalität mehr gibt, aber schon, dass sie stark gedämpft wurde.


Akkumulation durch Enteignung
Eine weitere Variante der aktuellen Systemkritik macht sich am „räuberischen“ Charakter des Imperialismus fest. Im frühen 19. Jahrhundert verwiesen radikale Denker wie Wilfred Scawen Blunt, Roger Casement, Ed Morel und John Hobson darauf, dass der Reichtum des Imperialismus sich der Plünderung der Arbeitskräfte und Ressourcen der Kolonien verdanke.[9] Heutige Imperialismuskritiker sehen das Wohlstandsgefälle zwischen den entwickelten und unterentwickelten Nationen nach wie vor als Beleg dieser räuberischen Tendenz. Doch sie sehen Plünderung nun nicht mehr wie damals als Abweichung vom regulären Prozess freier Märkte, sondern als fortgesetztes Verbrechen der „primitiven Akkumulation“, oder, wie sich David Harvey ausdrückt, als „Akkumulation durch Enteignung“.

„Der kapitalistische Reichtum entstammt aber nicht den Schätzen der Amazonas-Indianer oder Inuit, auch wenn diese sich gut als romantische Identifikationsfiguren eines weltmüden Antikapitalismus eignen, der im Los enteigneter Bauern seine eigene Frustration bestätigt sieht.“



In diesem Punkt folgt Harvey dem Amerikaner Michael Perelman sowie dem Ägypter Samir Amin, der schon vor 30 Jahren argumentierte, „immer, wenn die kapitalistische Produktionsweise mit vorkapitalistischen in Kontakt kommt, und diese unterwirft,“, fände infolge der „Mechanismen der primitiven Akkumulation ein Wertetransfer von der vorkapitalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft“ statt.[10] Amins Argument beruht auf einem groben Missverständnis des Konzepts der primitiven Akkumulation, das Karl Marx in der Auseinandersetzung mit dem seinerzeit geläufigen Konzept der „ursprünglichen Akkumulation“ entwickelte, nach welchem Abstinenz seitens der ersten Kapitalisten die Quelle der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals war. Marx führte aus, dass das erste Kapital in der merkantilistischen Ära in Wirklichkeit durch Ausbeutung noch unentwickelter Gesellschaften angehäuft wurde, deren Reichtum man in Form von Gold, Sklaven und anderen Waren dem entstehenden kapitalistischen Wirtschaftskreislauf zuführte. Marx wollte also aufzeigen, dass Plünderungen dieser Art für die kapitalistische Expropriation (die mit der Entstehung des Lohnarbeiters einhergehende Enteignung der kleinen Produzenten) nicht typisch sei, denn letztere erfolge nun nicht mehr gewaltsam, sondern durch „stillen wirtschaftlichen Zwang“ und besiegele dennoch die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter“. Doch was für Marx schon Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben war, gilt für Michael Perelman noch immer: „Der Prozess der primitiven Akkumulation existiert bis heute.”[11]


Die Konzentration auf die “primitive Akkumulation” führt dazu, dass exotische Randbereiche der Wirtschaft in den Mittelpunkt des Interesses geraten, nicht dagegen die Funktionsweise des Kapitalismus. Der kapitalistische Reichtum entstammt aber nicht den Schätzen der Amazonas-Indianer oder Inuit, auch wenn diese sich gut als romantische Identifikationsfiguren eines weltmüden Antikapitalismus eignen, der im Los enteigneter Bauern seine eigene Frustration bestätigt sieht. Da wird dann der Umstand, dass man inzwischen für das Downloaden von Musik aus dem Internet zahlen soll, zu einem weiteren Beleg des „räuberischen“ Kapitalismus. Und Harvey treibt das noch auf die Spitze, wenn er bedeutungsvoll fragt: „Was wäre mit dem überakkumulierten Kapital in den letzten 30 Jahren passiert, wenn sich China und die ehemalige Sowjetunion nicht den Märkten geöffnet hätten?“ Ohne Zweifel ist der chinesische Kapitalismus eine wichtige Wachstumsquelle geworden, doch das hat mit „primitiver Akkumulation“ oder räuberischer Bereicherung des Westens nichts zu tun.


„Handelsimperialismus“
Eine weitere Variante der aktuellen Imperialismuskritik ist die These des „Handelsimperialismus“. Der Soziologe Michael Mann gesteht den USA zwar zu, sich für eine weitgehende Öffnung der globalen Märkte eingesetzt zu haben, wirft ihnen aber im gleichen Atemzug vor, dies ausschließlich aus „Eigeninteresse“ zu tun, da die höchst wettbewerbsfähige US-Wirtschaft vom freien Handel am meisten profitiere.[12]
In Empire of Capital verfolgt Ellen Meiksins Wood eine ähnliche Argumentation, wenn auch auf anspruchsvollerem Niveau. Um die Relevanz der Imperialismuskritik für die heutige Zeit zu untermauern, unterzieht sie Lenins Imperialismustheorie einer Neuinterpretation. Laut Wood war für Lenins Theorie die Idee maßgeblich, dass die Sollbruchstelle für internationale Konflikte und Kriege zwischen den imperialistischen Staaten verlaufe und dass diese durch deren Rivalität im Kampf um die Aufteilung oder Neuaufteilung der weitgehend nichtkapitalistischen Welt ausgelöst werde.[13]

„Es ist falsch, Lockerungen der Wirtschaftsregulation als Liberalisierung im Sinne einer wirklichen Freistellung der Märkte von externer politischer Regulation zu betrachten. Hinter der Liberalisierungsrhetorik verbirgt sich in Wirklichkeit nur der Übergang von einem System der Regulation zu einem anderen.“



Das mögen zwar Lenins Epigonen in der Tat so gesehen haben, es entspricht aber nicht seinem Denken. Nach Lenins Theorie konnte der Imperialismus als „höchste Stufe“ des Kapitalismus überhaupt erst erreicht werden, als die Aufteilung der Welt unter den kapitalistischen Mächten bereits abgeschlossen war.[14] Die später in Mode gekommene Vorstellung, die unterentwickelte Welt stehe irgendwie außerhalb des Kapitalismus, war seiner Argumentation fremd. Doch mit diesem Vorgehen gelingt es Wood, Lenins Grundidee zu entsorgen und so auch der unangenehmen Frage auszuweichen, wie es der Kapitalismus eigentlich schaffen konnte, die „höchste Stufe“ seiner Entwicklung zu überleben. Für Wood hat der Kapitalismus erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine höchste Stufe erreicht. Sie definiert die Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks als vorkapitalistische statt als postkapitalistische, als welche sie sich ja in gewissem Sinne nicht ganz zu Unrecht sahen, – und natürlich als Opfer kapitalistischer Räuberei. Mit dieser Umschreibung der Geschichte vermag Wood elegant die Tatsache zu umschiffen, dass der Kommunismus ganz von selbst kollabierte.


Wie Mann vermischt auch Wood in ihrer Theorie des Handelsimperialismus zwei Phänomene, deren Unterscheidung dem klassischen Marxismus sehr wichtig war: die direkte Herrschaft und den freien Handel. Der klassischen marxistischen Imperialismustheorie galt der damalige Trend zu direktem politischen und militärischen Zwang als Abkehr von den Grundsätzen des freien Handels und Zeichen der Degeneration des Kapitalismus. Mann und Wood beschreiben den freien Handel dagegen kurzerhand als selbst imperialistisch. Diese Begriffsverwirrung wurde von den Gegnern der Globalisierung verständlicherweise dankbar aufgegriffen. Schließlich gibt sie dem Bestreben, jede Form von Handels- oder Investitionsbeziehungen zwischen den führenden Industriestaaten und ärmeren Ländern als Raubbau und Ausbeutung zu brandmarken, eine scheinbar intellektuelle Unterfütterung.


Seit dem Zweiten Weltkrieg war die kapitalistische Politik in der Tat durch kontinuierliche Liberalisierung des Handels geprägt, und das gilt insbesondere für die letzten 20 Jahre. Vor allem die Vereinigten Staaten sorgten für die kontinuierliche Senkung der Importzölle und Entlassung der ehemaligen europäischen Kolonien in die Freiheit. Zudem bemühen sich die politischen Eliten seit den 80er- Jahren, sowohl innen- als auch außenpolitisch die Wirtschaftsregulation zu lockern, die sich zunehmend als Wachstumsbarriere entpuppt hat. Trotzdem ist es falsch, diese Lockerungen als Liberalisierung im Sinne einer wirklichen Freistellung der Märkte von externer politischer Regulation zu betrachten, denn hinter der Liberalisierungsrhetorik verbirgt sich in Wirklichkeit nur der Übergang von einem System der Regulation zu einem anderen. So wie in der Nachkriegsära im Zeichen des Kalten Krieges zwar die Kolonialpolitik zum Abschluss kam, aber militärische Interventionen in der Dritten Welt nur um so zahlreicher und heftiger wurden, so hat auch der „Neoliberalismus“ der 80er- Jahre neue Formen der Regulation hervorgebracht. Die ausufernde Regulation der Unternehmen und Banken im Zeichen der „good governance“ legt davon ebenso beredtes Zeugnis ab wie die im Zuge der Erweiterung der Europäischen Union erfolgte enorme Ausweitung von Rechtsnormen, die alle Beitrittsstaaten und solche, die es noch werden wollen, zu akzeptieren und in ihr nationales Recht aufzunehmen haben.


Die Welthandelsorganisation WTO steht heute eher für einen politisch regulierten als freien Welthandel. Das bekamen die Staaten der Dritten Welt beim WTO-Gipfel in Cancún 2003 zu spüren: Europa und Amerika verwahrten sich gegen die Liberalisierung des Handels und bestanden auf ihrer Politik, die eigenen Bauern und Industrien durch staatliche Subventionen vor der internationalen Konkurrenz zu schützen. Zwar erfolgt die Regulation heute unter Berufung auf neue Gesichtspunkte wie Ernährungssicherheit oder Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung, ist aber darum keinen Deut weniger regulativ.

„Was morgen auf heute folgt, ist den moralistischen Imperialismusgegnern weit weniger wichtig, als hier und heute ethische Überlegenheit zur Schau zu stellen.“



Radikale Kapitalismuskritiker nehmen die Rhetorik des Neoliberalismus zu sehr beim Wort. Viele, die sich im wohlfahrtsstaatlichen Regulationssystem recht gut eingerichtet hatten, bedauern dessen Niedergang. Andere fordern neue Kontrollmechanismen zur Steuerung der Kapitalbewegungen oder zum Schutz der Umwelt, ohne zu erkennen, dass sie damit auf offene Türen stoßen, denn schon heute knüpft die Weltbank die Kreditvergabe an umwelt- und sozialpolitische Vorgaben.


Die Frage der gesellschaftlichen Veränderung
Prägend für die Literatur über den „neuen Imperialismus“ ist die enorme Verwirrung hinsichtlich des Begriffs „Veränderung“. Konzepte wie die erwähnte primitive Akkumulation oder Freihandel und Imperialismus werden wahllos durcheinandergeworfen. Ursache dafür ist mehr als bloße Schlampigkeit im Denken. Die historische Reihenfolge dieser Kategorien – primitive Akkumulation, Freihandel, Imperialismus – entspringt der Analyse des Kapitalismus als einer historisch spezifischen und damit auch vergänglichen Form gesellschaftlicher Organisation. Der modernen Kritik fehlt dieser Sinn für historische Transformation. Deshalb wirbelt sie die Kategorien wild durcheinander und entleert sie ihres historisch spezifischen Gehalts. Was morgen auf heute folgt, ist den moralistischen Imperialismusgegnern weit weniger wichtig, als hier und heute ethische Überlegenheit zur Schau zu stellen.


Daher spielt die Frage, wie der Imperialismus überwunden werden könne, in der neuen Imperialismuskritik so gut wie keine Rolle mehr. Bei aller Kritik am Imperialismus schließt Harvey nicht die Möglichkeit aus, dass der Kapitalismus zu einer anderen Entwicklung finden könne: „Die USA könnten ihrer imperialistischen Ausrichtung entsagen und sich für massive Umverteilung des Reichtums und die Umleitung der Kapitalflüsse in die Herstellung und Erneuerung physischer und sozialer Infrastrukturen einsetzen“, schreibt Harvey. Ein solcher „New Deal“ des nationalen und internationalen Kapitalismus wäre für ihn ein „Ziel, für das es sich heute zu kämpfen lohnt.“. Im US-Wahlkampf des demokratischen Herausforderers John Kerry sieht Harvey den ersten Schritt in die richtige Richtung.[15] Wie Michael Mann geht auch Harvey davon aus, dass die Marktwirtschaft nun einmal ein Fixum ist, an dem man nicht vorbeikommt. „Ökonomische Effizienz erfordert eine Liberalisierung der Märkte“, kann der radikale Imperialismuskritiker daher genauso überzeugt verkünden wie jeder Neoliberale auch.


Hier geht es um mehr als intellektuelles oder politisches Scheitern. Die Fähigkeit, sich gesellschaftlichen Wandel vorstellen zu können, setzt ein Subjekt voraus, das sich als historischer Akteur begreift. Als Wallerstein einmal die Frage gesellschaftlicher Veränderung aufwarf, wurde er so mitleidig beäugt, dass er sich damit beschied, vom „Übergang in eine ungewisse Zukunft“ zu sprechen.[16] Ohne eine Subjektivität, die Geschichte für gestaltbar hält und gestalten will, ist Veränderung ein ungewisses Ding, das wir blind und passiv erleiden. Dass unseren radikalen Imperialismuskritikern die Kategorien einer Epoche, in der das so nicht war, wie faule Pilze im Mund zerfallen, ist letztlich die Folge dieser Bewusstseinsveränderung.


Sie hat auch die Möglichkeiten der kapitalistischen Akkumulation und Entwicklung neu bestimmt. Nachdem das letzte historische Subjekt – die Arbeiterklasse – in den 80er- Jahren als politische Kraft endgültig von der Bühne verschwunden war, konnte der Kapitalismus auf Grundlage stagnierender Löhne und des Fortfalls früherer politischer und geographischer Barrieren eine neue Periode der Expansion einleiten. Immer mehr Menschen, vor allem Frauen, Immigranten und Arbeiter in Entwicklungsländern, werden in den globalen Produktionsprozess integriert. Wirtschaftlich ist die Gesellschaft heute nicht extremen Krisen der Art ausgesetzt, die früher vielen Menschen soziale Revolution als notwendig erscheinen ließen. Angesichts dieser Entwicklung wirkt die heutige Imperialismuskritik auf seltsame Weise schrill und hysterisch. Sie reflektiert ein Klima der Unzufriedenheit, das um sich greift, obgleich es wenige Beispiele extremer Verarmung gibt, die es rechtfertigen.


Das heißt nicht, dass es keine Probleme mehr gibt, die zu kritisieren sind, oder dass der Kapitalismus ein Leben in Wohlstand und Frieden auf dem Planeten garantiert. Es heißt nur, dass die Probleme sich gewandelt haben. Die Triebkräfte internationaler Spannungen oder Kriege lassen sich heute genauso wenig aus der inneren Logik der Kapitalakkumulation erklären wie die Führungskrisen der politischen Eliten.[17] Die Kategorien der Imperialismustheorie sind heute, wie Ulrich Beck es kürzlich ausdrückte, „Zombie-Begriffe,“, deren tatsächliche Bedeutung sich längst verflüchtigt hat.

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