01.05.2002

Amoklauf - Soll man aus Verbrechen lernen?

Kommentar von Sabine Reul

Die Schüsse im Erfurter Gutenberg-Gymnasium waren kaum verhallt, schon folgte auf den blutigen der verbale Amoklauf. Im „Brennpunkt“ am Abend der Tat hieß es wieder einmal, es sei „ein Tag, der uns verändert hat“. Wir sind wohl nicht mehr ganz bei Trost, meint Sabine Reul.

Offenbar sind alle der Meinung, aus dem Blutbad von Erfurt sei viel zu lernen. Dass man über die Gesellschaft eher etwas aus der Art lernt, mit der sie mit ihm umgeht, scheint selbst Bundesinnenminister Otto Schily nicht ganz präsent. Er verkündete schon am Abend des tragischen Geschehens, schuld an der Tat sei „vielleicht die Konkurrenzgesellschaft“. Welche Schlussfolgerungen wir aus der bestürzenden Erkenntnis ziehen sollen, dass uns die Marktwirtschaft – in der wir schließlich alle leben – potenziell zu Mördern macht, blieb ungeklärt. Das vorgeschlagene Verbot von Gewalt in den Medien griffe, wäre dies wirklich so, ja wohl in jedem Fall etwas zu kurz.

Seit dem 26. April besteht unter allen öffentlichen Akteuren die unausgesprochene Übereinkunft, den Amoklauf von Erfurt nicht als tragischen Einzelfall, sondern als kollektives Problem zu werten. Sehr zugespitzt formulierte diese Auffassung Susanne Gaschke in Die Zeit. Sie schrieb: „Nach dem was jeder Lehrer, Sozialpädagoge und hinreichend aufmerksame Elternteil über die seelische Verwahrlosung vieler junger Menschen in diesem Land weiß, muss es eher verwundern, dass derartiges Unheil nicht öfter geschieht.“ (2.5.02)
Die Pflichtvergessenheit von Eltern, denen Beruf und Konsum wichtiger seien als die Kinder, sei schuld an einem gesellschaftsübergreifenden Verfallsprozess mit mörderischen Folgen, so ihre nicht gerade aufbauende Schlussfolgerung.

Weniger scharf, aber im Grundsatz ähnlich urteilten fast alle Kommentatoren. Hinter dem Blutbad von Erfurt sah man mangelnde Zuwendung, überzogenen Leistungsdruck, die soziale Kälte der „Konkurrenzgesellschaft“ und andere tief greifende soziale Defekte am Werk. Die meist unausgesprochene Schlussfolgerung dieser Sicht des Geschehens kann nur lauten: In Robert Steinhäuser hat unsere Gesellschaft den Verbrecher gefunden, den sie verdient. Die Schuld an dem psychischen Zerfall, der ihn zur Tat trieb, tragen wir als Lehrer, Eltern und Erwachsene. Er ist nicht Täter, sondern Opfer, denn unsere Gesellschaft bringt Monster hervor.

“Aus dem Amoklauf von Erfurt lernen wir nur, dass es Menschen gibt, die den Überblick verlieren und – im extremen Einzelfall mit mörderischen Folgen – „ausrasten“”

Werte, die zum Kernbestand unseres sozialen Selbstverständnisses zählen, unterlagen in den Wochen seit dem 26. April einem rasanten Kursverfall. Eigenverantwortung, elterliche Autorität, Erfolgsstreben, Leistung, Wettbewerb – ihnen allen wird nun pathogene Wirkung zugeschrieben. Der Amoklauf von Erfurt hat die demoralisierenden Folgen der seit Ende des Kalten Krieges um sich greifenden Sinnkrise der westlichen Gesellschaften auf eine neue Spitze getrieben. Robert Steinhäuser ist zur Projektionsfläche des Selbsthasses der Gesellschaft geworden.
Dass die Politik den Implikationen dieser Sicht des Geschehens dann doch noch instinktiv auswich, ist verständlich. Indem man die Debatte auf das sicherere Thema Mediengewalt verlagerte, wurde diesem Ausbruch des Selbsthasses wieder Einhalt geboten. Die Frage, wie eine Gesellschaft mit sich selbst leben soll, deren Elite von solch morbidem Selbstzweifel zerfressen ist, ist damit aber noch lange nicht beantwortet.

Aus dem Amoklauf von Erfurt lernen wir nur, dass es Menschen gibt, die den Überblick verlieren und – im extremen Einzelfall mit mörderischen Folgen – „ausrasten“. Das ist zweifellos eine traumatische Erkenntnis, denn in solchen Taten wird sichtbar, wie dünn im Ausnahmefall der Firnis der Zivilisation sein kann, unter dem die ungebändigte Natur – die eben oft auch böse ist – schlummert. Der Umgang mit der Erfurter Bluttat lehrt aber etwas anderes. Es ist zwar nicht neu, dass große Verbrechen eine erschreckende Faszination ausüben, die auch zur sozialen Introspektion anregt. Neu ist, dass wir vor dem Wahnsinn eines Einzelnen die Waffen strecken.

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