01.11.2002

Am größten ist die Angst vor den nicht-existenten Gefahren

Analyse von Michael Fitzpatrick

Für Michael Fitzpatrick sind Pocken und Milzbrand gefährliche Symbole, aber keine gefährlichen Waffen.

Auch über ein Jahr nach dem 11. September 2001 hat die Angst vor weiteren Terroranschlägen die Gesellschaften dies- und jenseits des Atlantiks fest im Griff. Regierungen jeder Couleur warnen laufend vor der Möglichkeit weiterer Angriffe, insbesondere unter Einsatz von Biowaffen. In Großbritannien bereitete die Blair-Regierung Massenimpfungen gegen Pocken vor. Für 23 Millionen Pfund wurden die Vorräte vorsichtshalber aufgestockt, so dass im Fall der Fälle 58 Millionen Einwohner gegen die seit 1980 offiziell als ausgerottet bezeichnete Krankheit geimpft werden könnten. Auch die US-Behörden haben ihre Vorkehrungen gegen die Gefahren des Bioterrorismus ausgeweitet. Notfallteams der Gesundheitsbehörde in Atlanta (CDC) wurden für den Fall eines Angriffs mit Pockenviren geimpft. Deutschland beschloss nach dem 11. September 2001 ebenfalls, den nationalen Vorrat um sechs Millionen Portionen Pockenimpfstoff aufzustocken. Kritiker aus der Union wie der hessische Ministerpräsident Roland Koch werfen der Bundesregierung allerdings vor, dies reiche bei weitem nicht aus und sie nähme die Gefahr durch Angriffe mit Pockenviren nicht ernst genug.

Das offizielle Beschwören von Ängsten vor Bioterrorismus fördert jedoch auch manche Fragen zutage, die zu stellen sich lohnt. Woher rührt z. B. die Konzentration auf Pocken oder – vor allem in den USA – auf Angriffe mit Milzbranderregern? Schließlich existieren Hunderte, wenn nicht Tausende verschiedener Mikroorganismen, die zur Produktion von „Biowaffen“ herangezogen werden könnten.

Die Rolle von Milzbrand und Pocken in den öffentlichen Debatten über Bioterror scheint eher auf ihrer Symbolkraft als auf tatsächlichem militärischen Potenzial zu beruhen.

Zwar wurden in den USA nach dem 11. September – aus welch abscheulichen und abstrusen Motiven auch immer – Milzbrandsporen freigesetzt. Wahr ist aber auch, dass trotz der allgemeinen Panikstimmung und der bereichsweisen Behinderung des öffentlichen Lebens glücklicherweise nur fünf Tote zu beklagen waren. Der relativ glimpfliche Ausgang dieser Milzbrandattacken bestätigte die seit langem geltende Feststellung, derzufolge der Milzbranderreger keineswegs eine Option für den Einsatz in biologischen Waffen darstellt. Obwohl die Hintergründe der Milzbrand-Anschläge weiterhin mysteriös sind, deutet doch einiges darauf hin, dass sie nicht das Werk einer terroristischen Verschwörung sind, sondern ihre Wurzeln eher im US-amerikanischen Militär-Establishment liegen.

Die Betonung der Gefahren des Milzbranderregers oder des Pockenvirus in der öffentlichen Diskussion scheint weniger aus deren konkreter Anwendbarkeit zur Biowaffenproduktion herzurühren, als aus ihrer Symbolkraft und Stellung in der medizinischen Geschichte.

Das Pockenvirus verursachte im 19. Jahrhundert ein Massensterben epidemischen Ausmaßes. Gleichzeitig waren die Pocken aber auch die erste große und gefährliche Krankheit, gegen die ein wirksamer Impfstoff entwickelt werden konnte. Und sie waren die erste Krankheit dieser Qualität, die als ausgerottet erklärt werden konnte.

Die Entdeckung des Milzbranderregers spielte am Ende des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle in den Forschungsarbeiten von Robert Koch, Louis Pasteur und anderen Wissenschaftlern. Kochs mikroskopische Untersuchungen des Erregers führten erstmals dazu, die ursächliche Bedeutung krankheitserregender Keime zu beweisen; diese Erkenntnisse bilden die Grundlagen der modernen Bakteriologie. Milzbrand war schon zu dieser Zeit eine Krankheit, die Menschen nur in sehr geringem Ausmaße bedrohte und hauptsächlich im Tierreich vorkam.

Woher also die Konzentration auf diese beiden Erreger? Abgesehen von Erzählungen, denen zufolge europäische Kolonisten die Ureinwohner Amerikas mit Bettlaken angegriffen haben sollen, die mit Pockenviren infiziert waren, wurde das Virus zu keiner Zeit systematisch als Waffe eingesetzt. Der Milzbranderreger eignet sich, da er kaum ansteckend ist, sogar besonders schlecht als Biowaffe.

Ein Blick in die Geschichte offenbart zudem, dass Versuche, chemische oder biologische Kampfstoffe zu entwickeln und einzusetzen, im Allgemeinen nicht von Erfolg gekrönt waren. So verursachte der Einsatz von Giftgas während des Ersten Weltkrieges Verluste auf beiden Seiten und brachte daher letztlich militärisch wenig. Obwohl weiter mit derartigen Stoffen experimentiert wurde, spielten sie in den folgenden Kriegen, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle.

Auch heute gibt es außer Gerüchten und Mutmaßungen keine stichhaltigen Hinweise darauf, dass eine Nation oder eine terroristische Gruppierung Pockenviren besitzt oder imstande wäre, sie einzusetzen. Es gibt zwei der UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO) bekannte Stätten, in denen das Variola-Virus, dass die Pockenerkrankung auslöst, lagert: in Atlanta im amerikanischen Bundesstaat Georgia und im russischen Nowosibirsk. Trotz vielfältiger Spekulationen über angebliche oder potenzielle Sicherheitslücken sind bis heute keine Zwischenfälle in diesen Einrichtungen bekannt geworden. Beide Bestände sollen auf Grundlage langfristiger Vereinbarungen im Dezember 2002 vernichtet werden. Nicht zu unterschätzen sind außerdem die praktischen Schwierigkeiten, Mikroorganismen zu effektiven Biowaffen umzugestalten: So investierte die japanische Aum-Sekte Millionen US-Dollar in den Versuch, Milzbranderreger zu manipulieren, um sie als Waffe einzusetzen – vergeblich. Daher griff sie bei ihren Anschlägen auf das Tokioter U-Bahn-System schließlich auf Nervengas zurück und tötete damit zwölf Menschen.

Die Pocken-Panik und die offiziellen Warnungen vor angeblich drohenden biologischen Terroranschlägen dienen dazu, Militärinterventionen „gegen den Terror“ zu legitimieren.

Die Rolle von Milzbrand und Pocken in den öffentlichen Debatten über Bioterror beruht eher auf ihrer Symbolkraft als auf ihrem tatsächlichem militärischen Potenzial. Die scheinbare Rückkehr längst überwunden geglaubter Epidemien ist zum Synonym für die unsichtbare, aber tödliche Gefährdung der modernen Gesellschaft durch Massenvernichtungswaffen geworden. Schon im Oktober 2001 habe ich im Artikel „Anthraxiety“ (www.spiked-online.com) dieses Phänomen wie folgt beschrieben: „Diese Kultur der Angst existierte bereits lange vor dem 11. September, die apokalyptischen Ereignisse dieses Tages haben sie jedoch enorm verstärkt. Verunsicherte Regierungen fördern öffentliche Ängste und rufen die durch bereits bestehende Umwelt- und Gesundheitspaniken ohnehin zutiefst verunsicherte Bevölkerung zu erhöhter Wachsamkeit auf.“

Gut ein Jahr später dienen die Pocken-Panik und die offiziellen Warnungen vor angeblich drohenden biologischen Terroranschlägen dazu, Militärinterventionen „gegen den Terror“ zu legitimieren. Die ungewöhnlich breit angelegte Debatte über die Vorbereitungen auf den militärischen Ernstfall eines Angriffs unterstreicht den propagandistischen Wert der Bioterror-Angst, der ungleich höher ist als der Schutz, den das Aufstocken der Pockenimpfstoff-Lager ermöglichen könnte. Was bleibt, ist eine surreale Kontroverse: Regierungen unterstreichen ihre Fähigkeit und Bereitschaft, auf nicht-existente Gefährdungen zu reagieren. Verbände wie die British Medical Association begrüßen das, sind es doch in erster Linie Mediziner, die gegen die Biogefahr geimpft werden sollen. Indessen argumentieren „Kritiker“ dieses Vorgehens mit bestechender Logik: „Wenn Ärzte Schutz brauchen gegen eine nicht-existente Gefahr, was ist dann mit uns?“ Und so werden Millionen und Millionen Pfund, Dollars und Euros investiert – jedoch nicht in den Schutz der Bevölkerung, sondern in die Verbreitung von Angst und Schrecken.

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