01.05.2008

Alles verbieten!

Kommentar von Jürgen Wimmer

Jürgen Wimmer über Literatur und Filme, die eigentlich verboten gehören.

Wer der Welt Gutes tun will, der weiß: In Deutschland ist einfach noch nicht genug verboten. Es wird Zeit, dass der Artikel 5 des Grundgesetzes einmal richtig genutzt wird. Nein, nicht das allgemeine, wohlfeile Gerede aus Absatz 1, Presse und Kunst seien frei usw. Der Kenner schaut gleich auf den wirklich relevanten Absatz 2. Da ist von Schranken die Rede, u.a. „den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend“. Na bitte, da geht noch was!

Erst vor einigen Monaten durfte sich auch der deutsche Erwachsene die neuen Abenteuer von „John Rambo“ nur drastisch gekürzt anschauen. Denn die FSK fand darin „schwere Jugendgefährdung“ und verweigerte dem Film auch ab 18 die Freigabe. Recht so! Dagegen müssen sich die Menschen in unseren Nachbarländern auf unverantwortliche Weise von diesem Machwerk verrohen lassen. Die Österreicher werden noch sehen, was sie davon haben, das Zeug einfach ungeschnitten ab 16 freizugeben. Wie gut, dass FSK, FSM oder jugendschutz.net so gut auf uns achtgeben!

Trotzdem: Es gibt noch viel zu tun. In der CSU kreisen seit geraumer Zeit Bestrebungen, die Strafen für Blasphemie drastisch zu verschärfen und dabei noch gleich ganz allgemein auf Herabsetzung religiöser Werte zu erweitern. Wasser und Brot dafür, drei Jahre und länger! Es gehe nicht an, so dereinst Edmund Stoiber, dass irgendwelche Leute auf allem herumtrampeln, was anderen heilig sei. Einigen ist natürlich auch der 1. FC Köln heilig – stets ein dankbares Lästerobjekt, gewiss. Aber dänische Zeitungen sollten sich dann schon gut überlegen, ob sie gegebenenfalls niveaulose Witzzeichnungen über unseren Papst drucken mögen. Blasphemie, Ballerspiele, Actionfilme, Karikaturen: Das alles ist nur dazu geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören und die Leute auf dumme Gedanken zu bringen. Und deshalb brauchen wir mehr Verbote. Allein – wo beginnen? Bei der Basis natürlich, denn gerade die Jugendliteratur vergangener Tage ist mit den aktuellen Ansichten von politischer Korrektheit meist nimmermehr zu vereinbaren und deshalb inakzeptabel.

Im letzten Jahr geriet Hergés Comic „Tim im Kongo“ (1931, später überarbeitet) aus der Reihe „Tim und Struppi“ ins Visier der Medienwächter. Der knopfäugige Jungreporter Tim und sein braver Hund begegnen als haushoch überlegene Kolonialisten in Afrika einer Reihe von Einheimischen, die, ähm, wenig vorteilhaft erscheinen. Ein kongolesischer Student klagte deshalb in Belgien auf Verbot, und einige Buchketten in Großbritannien, den USA und Südafrika tilgten das schändliche Werk wegen Rassismus vorsorglich aus ihrem Sortiment. Andere Bände der Reihe sind übrigens ebenfalls schwer entwicklungshemmend, man denke nur an die verharmlosend dargestellte Alkoholsucht des stets fluchenden Kapitäns Haddock. Wenn so etwas Kindern vorgelebt wird, darf sich ja niemand wundern, dass unsere Jugend großflächig dem Komasaufen verfällt.

Zurück zur kolonialistischen Herablassung: Karl May muss auch weg. „Kong-kheou, das Ehrenwort“ (auch bekannt als „Der blaurote Methusalem“) spielt in China, und May meint darin, „dass die Grausamkeit und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muss“. Andere Eigenschaften sind laut May Feigheit, Verschlagenheit, Gewissenlosigkeit; überhaupt sei die ganze Seele der chinesischen Kultur „verdorrt“ und „vertrocknet“. Nun mag dieses Chinabild im Olympiajahr 2008 so manchem wieder gut in den Kram passen, aber das ist ja kein Grund, so etwas auf Dauer durchgehen zu lassen. Um gewaltverherrlichende Szenen ist May gleichfalls nie verlegen. Im Kolportageroman „Das Waldröschen“ weidet der Held in einer ebenso grausigen wie expliziten Szene gleich mehrere wehrlose Schurken aus, und zwar vorsätzlich. Aus „John Rambo“ wird so etwas rausgeschnitten, dabei hat Mays „Waldröschen“ den weitaus höheren Bodycount.

Wo es um sinnlose Gewalt geht, darf Wilhelm Busch nicht fehlen. Dieser angebliche Humorist, dessen 100. Todestag in diesem Jahr bereits ausführlich durch die Medien ging (unverständlicherweise), hat nichts zu bieten als Grausamkeiten und Sadismus. Zum Beispiel ist sein „Naturgeschichtliches Alphabet“ keineswegs geeignet, beim Kinde ökologisches Bewusstsein und die Liebe zur Natur zu wecken. Ein besonders abschreckendes Beispiel die Darstellung „Der Esel ist ein dummes Tier, der Elefant kann nichts dafür.“ Das ist gleich in mehrerlei Hinsicht geeignet, desorientierend zu wirken. Nicht allein, dass eine Tracht Prügel als geeignetes Erziehungsmittel verherrlicht wird, auch ist diese Zeichnung diskriminierend sowohl gegenüber Eseln, die nach neueren Forschungen keinesfalls als dumm gelten dürfen, als auch gegenüber Elefanten, denen pauschal Brutalität unterstellt wird. Nicht besser ist „Der Struwwelpeter“ (1844) von Heinrich Hoffmann. Welche verheerenden Folgen kann es haben, wenn Kindern ohne Vorwarnung ein Suppenkaspar mit zunächst sehr bedenklichem Body-Maß-Index als Ideal präsentiert wird? „Der Kaspar, der war kerngesund, ein dicker Bub und kugelrund.“ Unverantwortlich! Schlimmer noch: Als das dumme, fette Kind endlich vernünftig wird und strenge Diät lebt, siecht es dahin. Ein Schlag ins Gesicht für alle Bestrebungen zur Aufdrillung unserer aufgequollenen Jugend!

Von den Brüdern Grimm fangen wir gar nicht erst an, da reicht das Heft nicht, deshalb last but not least: Dass die Werbung vor nichts zurückschreckt, ist nicht erst ein Phänomen unserer Tage. Bildergeschichten mit solch grauenvollen Szenen wie bei Lurchi wurden in den 60er-Jahren an Minderjährige verteilt. Kein Wunder, dass unsere Umwelt heute überall so ruiniert ist, wenn vor zwei Generationen unsere Kinder damit vergiftet wurden, seltene und bedrohte Meeres-Tierarten einfach zu verhackstücken. Deshalb muss ein fester und verbindlicher Regel-Kanon her, wie rückständige Ansichten zu bewerten und zu behandeln sind:

  1. Ignoriere stets, dass jeder Mensch auch das Kind seiner Zeit ist, und miss alles an unserer eigenen Perspektive.
  2. Diese Perspektive ist denen der Vergangenheit in jeder Hinsicht haushoch überlegen.
  3. Wir gehen davon aus, dass unsere heutigen Wertmaßstäbe unverrückbar richtig sind und sich deshalb auch nicht mehr ändern werden.

Naja, fast. Es wäre natürlich sehr interessant zu hören, wie die Nachwelt in 50 Jahren unsere Ansichten bewerten wird. Nicht positiv, so viel ist sicher. Es wäre das erste Mal.

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