04.01.2012

Lampedusa und die Freiheit

Analyse von Jakob Hein

Sabine Beppler-Spahl spricht mit dem Bestsellerautor Jakob Hein über seine Heimatstadt Berlin und den Wert von Immigration und Toleranz. Hein betont die positiven Aspekte der Einwanderung und weist auf die Missstände der Integrationspolitik im Einwanderungsland Deutschland hin.

Novo: Sie bekennen sich im Ausland -  ob in Talinn, Milwaukee oder Potsdam [1] - dazu ein Berliner zu sein, obwohl Sie in Leipzig geboren wurden. Was mögen Sie an Berlin?


Jakob Hein: Die Stadt hat die Fähigkeit, alles zu integrieren. Das liegt daran, dass die Berliner allen mit der gleichen Respektlosigkeit begegnen. In Berlin halten sich viele unterschiedliche Gruppen von Menschen auf: Schwaben, Lesben, Tschechen, Politessen, Schauspieler usw. Da ist Niemand etwas Besonderes. Das hat eine gewisse Gelassenheit zur Folge, weil alles und nichts in dieser Stadt wirklich fremd erscheint.


Ist Berlin also eine besonders tolerante Stadt?


Nein. Der Mensch ist nicht gut, und der Berliner ist gewiss nicht tugendhafter oder toleranter als andere. Ganz bestimmt ist es auch nicht so, dass ein starkes politisches Programm die Berliner zur Toleranz erziehen würde. Es ist vielmehr so, dass sich die Berliner, wenn wir hier verallgemeinern dürfen, durch eine Art „polyvalenter Intoleranz“ auszeichnen. Den Spruch des alten Preußenkönigs Friedrich II, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll, legt der Berliner hemmungslos zu seinen Gunsten aus. Man macht, was man will. Das heißt aber auch, dass viele andere nicht machen, was man selber will. Die vielen „anderen“, die sich in der Stadt tummeln, gelten daher erst einmal als suspekt. Dies äußert sich in einer muffeligen Grundstimmung gegen alle. Das Ganze ist aber nicht zielgerichtet und so wird der Sachse ebenso abgelehnt wie der Senegalese. Wenn jedoch erst einmal alles gleichermaßen fremd ist, dann gleicht sich dies wieder aus: Ob Norweger oder Somalier - achselzuckend wird schließlich alles akzeptiert. So ist der Berliner äußerlich von einem sehr toleranten Menschen kaum zu unterscheiden. Diese Grundstimmung, die sich auf der sehr persönlichen Ebene abspielt, scheint in Berlin noch stabil zu sein. Jedenfalls ist es trotz der Qualität der Medien oder der Politik bisher noch niemandem gelungen, das Klima in der Stadt nachhaltig zu vergiften.


Bei einer Veranstaltung im August zum Thema „50 Jahre Mauerbau“ haben Sie darauf hingewiesen, dass es auch heute Mauern in Europa gibt. Diese richteten sich z.B. gegen Einwanderer aus Afrika. Marianne Birthler, die ebenfalls an der Diskussion teilnahm, widersprach mit dem Hinweis, es sei ein Unterschied, ob ein Land die eigene Bevölkerung einsperre oder ob es entscheide, wer einreisen dürfe. Was entgegnen Sie Frau Birthler?


Es wundert mich, dass Frau Birthler eine solche Meinung vertreten kann – vor allem wenn sie sagt, einem christlichen Menschenbild verpflichtet zu sein. Die Mauer war eine nationale Tragödie und sie hat Menschen davon abgehalten, dort zu leben wo sie wollen. Nun haben wir dieses Erbe und diese Erinnerung in Deutschland und wir sollten uns fragen, wie wir damit umgehen. Welches Freiheitsverständnis vertreten wir, wenn wir es zulassen, dass Menschen vor Lampedusa ertrinken? Die meisten Wanderungsbewegungen – auch Flüchtlingsströme – finden zwischen den armen Ländern statt. Das heißt, viele Länder der Dritten Welt nehmen mehr Flüchtlinge auf als wir. Wer behauptet, das Boot sei voll muss erklären, warum das gerade heute der Fall sein soll. Immer wieder hat sich gezeigt, dass wir Einwanderungsbewegungen verkraften konnten und sich Grenzöffnungen sogar positiv auswirken. Nehmen wir die Gegend um Stettin, die heute aus Polen heraus saniert wird. Wie in jede andere Stadt ziehen auch nach Berlin täglich neue Menschen. Historisch gesehen, und im Vergleich zu anderen Städten wie London oder Amsterdam, hat Berlin zwar verhältnismäßig wenig Migration erlebt, aber einige Gruppen haben sich trotzdem hierher verlaufen : Hugenotten, Polen, Schlesier, Ostpreußen, Türken, Vietnamesen und Russen – am Ende kamen sogar die Westdeutschen nach Ostberlin und bevölkern heute den Prenzlauer Berg. Im Unterschied zu den Russen und Vietnamesen glauben sie allerdings, schon immer hier gewesen zu sein. Einwanderung ist eine Realität und sie hat dieser Stadt nicht geschadet. Tatsächlich hat Berlin auch noch einiges aufzuholen, denn wenn wir über Einwanderung sprechen, müssen wir auch den unvergleichlichen Exodus erwähnen, den Berlin in der Nazizeit erfuhr. Vor dem Krieg war die Stadt größer als heute. Sie war ein kreatives Chaos, das Intellektuelle, Künstler und Wissenschaftler aus aller Welt anzog. Bis heute hat es Berlin nicht geschafft, an diese Zeit anzuknüpfen.


Da fällt mir das Anwerbeabkommen mit der Türkei ein, das mit dem Jahr des Mauerbaus zusammenfällt. Sind 50 Jahre Einwanderung aus der Türkei eine Erfolgsgeschichte?


Natürlich gibt es auch Probleme. Viele davon gehen aber auf den fehlenden politischen Grundsatzwillen zurück, aus der Einwanderung eine wirkliche Erfolgsgeschichte zu machen. Jahrelang weigerte sich die Politik, über Einwanderung nach Deutschland zu sprechen und so kam es zu erstaunlich großen Fehlern. Die Wohnungspolitik in Berlin kann als Musterbeispiel für eine falsche Ausländerpolitik gesehen werden. Kreuzberg, ein altes Arbeiterviertel, lag direkt an der Mauer und war für viele Deutsche als Wohngebiet nicht attraktiv weil sich die Häuser in einem miserablen Zustand befanden. Doch statt die Mietswohnungen dort zu sanieren, überließ man sie, als im Westen viele tausende Wohnungen gebraucht wurden, in einer Geste der Großherzigkeit den Türken. So entstand der Mythos von Klein-Istanbul. Das sich Bezirke bilden konnten, in denen vorwiegend türkische Gastarbeiter zogen, weil die Wohnungen dort billig und für andere unattraktiv waren, hatte eine gewisse Abschottung dieser Einwanderergruppe zur Folge. So ließ die Politik Parallelgesellschaften entstehen. Schulen in denen bis heute viele Kinder nur ungenügend Deutsch sprechen sind eine Folge dieser durch eine falsche Wohnungspolitik ausgelösten Dynamik. Auch konnten sich so in manchen Familien patriarchalische Strukturen weiterhin behaupten.

Das sind aber Probleme, die sich durch eine kluge Politik lösen ließen. Es gibt keinen Grund, weshalb Problemschulen nicht zu Musterschulen werden können. Die Rütli Schule in Berlin-Neukölln, die vor einigen Jahren mit ihrem Brandbrief an die Berliner Politik Schlagzeilen machte, ist hierfür ein gutes Beispiel. Das ist eigentlich eine Eliteschule und die Kinder, die dort ihren Abschluss machen, haben keine Probleme, Lehrstellen zu finden oder eine weitergehende Schule zu besuchen. Die Schulleitung verfolgt seit Jahren eine ganz geschickte Politik: In regelmäßigen Abständen macht sie auf sich aufmerksam indem sie auf hohem Niveau und sehr öffentlichkeitswirksam jammert. Plötzlich interessiert sich jeder für die sie und es werden Projekte angestrengt, Förderkurse eingeführt usw. Einen Marschallplan dieser Art, der besonders Schulen in benachteiligten Bezirken zugute käme, müsste aber Teil der normalen Schulpolitik werden. Alles sollte getan werden, damit Kinder aus Immigrantenfamilien Deutsch lernen können, weil dies die Voraussetzung für eine gelungene Schulkarriere ist. Doch da hat die Politik einige Fehler wieder gut zu machen. In diesem Zusammenhang ist auch die „Herdprämie“, also das Geld, das Eltern bekommen, wenn sie für ihre Kinder keinen Kindergartenplatz in Anspruch nehmen, ein Schritt in die falsche Richtung. Das führt zu dem Imperativ, Mütter müssten ihre Kinder zuhause lassen.


Der innenpolitische Sprecher der Berliner CDU, Peter Trapp, hat vor einem Jahr Intelligenztests für Einwanderer gefordert. Sie haben den Vorschlag nach Intelligenztests in einer bemerkenswerten Satire aufgegriffen [2]. Aber was spricht dagegen, Einwanderung nach Nützlichkeitskriterien zu organisieren?


Wer sollte diese Nützlichkeitskriterien festlegen? Ich bin Kinder- und Jugendpsychiater und kann Ihnen jetzt schon sagen, was ein Intelligenztest, durchgeführt von Herrn Trapp, bringen würde. Das wäre bestenfalls gut für Psychiater, Psychologen, Sozialarbeiter oder Dolmetscher, die neue Aufträge bekämen. Die Intelligenz unserer Gesellschaft würde das jedenfalls nicht erhöhen. Abgesehen davon finde ich es natürlich extrem problematisch, Menschen so klassifizieren zu wollen. Der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut hat eine Gesellschaft, die das versucht, in seinen Romanen glaubhaft beschrieben – alles soll seine Ordnung haben und jeder erhält seinen Platz in einer vermeintlich perfekten technokratischen Zivilisation. In Wirklichkeit kann natürlich niemand vorhersagen, welches Potential in einem Kind steckt. Wir sollten lieber darauf achten, dass unser Bildungssystem Kinder zum Lernen motiviert. Intelligenz oder nicht: Wenn ein Kind in der fünften Klasse nicht gerne lernt, dann ist da nicht viel zu machen. Herr Trapp sucht nach technischen Lösungen für soziale Probleme. Aber ein Gutes hat sein Vorschlag: Er ist bereit, über Einwanderung nach Deutschland zu sprechen und das ist für viele, die immer darauf pochten, dass wir kein Einwanderungsland seien ein erster Schritt.


Ist Toleranz für Sie ein wichtiger Wert und wenn ja, was verstehen Sie darunter? Kann und muss der Toleranz auch Grenzen gesetzt werden?


Es ist sehr wichtig Toleranz erst einmal zu definieren. Toleranz ist so ein typischer Begriff über den jeder spricht und dabei immer etwas anderes meint. Ich glaube, es kann niemals genug Toleranz geben. Die Grenzen der Toleranz müssen zumindest sehr weit gefasst werden. Allerdings verstehe ich unter Toleranz auch etwas anderes als Permissivität. Toleranz kann nicht heißen, dass wir alles gut und richtig finden oder stillschweigend akzeptieren. Wir sollten anderen mit Toleranz begegnen. Das heißt, wir verbieten andere Meinungen und Lebensstile nicht, aber es darf darüber diskutiert und gestritten werden. Toleranz hat nichts damit zu tun, Parallelgesellschaften entstehen zu lassen.

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