25.05.2010

Kochs Rücktritt: Vernunft oder Fahnenflucht?

Von Thomas Deichmann

Roland Koch folgt Wolfgang Clement und Friedrich Merz: Der anhaltende Aderlass der Parteien und die Krise in Europa zeigen, dass der Technokratismus keine Zukunft hat.

Nach Wolfgang Clement (SPD), Friedrich Merz (CDU) und anderen hat nun auch Roland Koch (CDU) das Handtuch geworfen. Der hessische Ministerpräsident war nie ein großer Sympathieträger, aber er zählte zu jenen in der Politikerklasse, denen man zutraute, Probleme offen anzusprechen, sie auch anzugehen und nicht nur darüber zu reden. Dass Koch sich nun verabschiedet, mag Linksliberale glücklich stimmen – und die Opposition wird sicher genüsslich über ihn herziehen. Kochs Rücktritt ist jedoch vor allem bezeichnend für die geistige und politische Krise, die Europa erfasst hat. Offenbar hat Koch (wie zuvor andere) die Hoffnung, das Selbstbewusstsein oder die dafür notwendigen Ideen verloren, um das arg gebeutelte Führungssystem aus dem Sumpf ziehen zu können.


Reden wir bitte vorerst nicht weiter über Parteien, sondern über Politik und die Zukunft der Demokratie in Europa. Angesichts der aktuellen Entwicklungen überkommt mich immer häufiger das Gefühl, welches viele Kollegen teilen und Zeitgenossen oft auch nur rein instinktiv beschleicht: Mit unseren politischen Eliten in Deutschland und Europa ist derzeit kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Sie haben es in den letzten Jahrzehnten fertig gebracht, unser Gemeinwesen und den Kulturraum Europa an die Wand zu fahren. Es gibt Erfolge, Errungenschaften und Fortschritte in verschiedenen Bereichen, aber sie verblassen angesichts der immensen Probleme, die aufgetürmt worden sind. Clemens, Merz und Koch haben kräftig mitgemischt, aber sich wiederholt auch darum bemüht, Alternativen zur Diskussion zu stellen. Dafür wurden sie häufig nur belächelt und abgestraft.


Außerstande, das durch den Zusammenbruch der alten Weltordnung entstandene geistige Vakuum mit inspirierenden Inhalten zu füllen, hat sich die Politik in den letzten Jahren immer weiter diffusen Stimmungen geöffnet. Klassische Orientierungen und Wertvorstellungen (darunter viele erhaltenswerte) sind einem umfassenden Relativismus zum Opfer gefallen. In Bereichen wie Lebensmittel, Landwirtschaft oder Energie dominieren voodoo-artige Risikodiskurse, Wissenschaftsskepsis und Technologievermeidungsstrategien. Bildungs-, Erziehungs-, Innovations- und Arbeitsmarktfragen werden für „social engineering“ instrumentalisiert. Wirtschaftswachstum und unternehmerischer Erfolg stehen als Leitbilder auf der Abschussliste. Eine bornierte „Excel-Mentalität“ hat sich im politischen Raum festgesetzt: Eine Armee von Bürokraten schickt sich an, uns per Modellrechnung und Mausklick organisieren zu wollen. Auf Misserfolge reagiert diese Expertenklasse mit Überwachungs- und Sanktionsvorschlägen. Und um das so entstandene postmoderne Polit-Kauderwelsch herum werden „nachhaltige“ politische Auftritte inszeniert. Statt den mündigen Bürger, sprechen Politiker dabei lieber den ohnmächtigen Verbraucher an. Visionen fehlen, mehr als hohles Krisenmanagement gibt es nicht mehr.


Man zankt über Steuern und andere Banalitäten und hat mit der „Heuschrecke“, dem „gierigen Banker“ oder „betrügerischen Griechen“ bequeme Sündenböcke kreiert. Und man bemüht sich, getreu dem Motto „Business as usual“, um parteipolitische Profilierung unter Berücksichtigung des nächsten Wahltermins. Das, was ankommt, bzw. das, was Demoskopen als beim Volk gut ankommend deklarieren, bestimmt den politischen Alltag. Der inhaltlich hygienisch gesäuberte „Wahlkampf“ in Nordrhein-Westfalen von Jürgen Rüttgers (CDU) und Hannelore Kraft (SPD) hat es zuletzt vor Augen geführt: Die politische Elite hat den demokratischen Prozess ausgehöhlt. Ihr Politikstil ist durchgängig technokratisch geworden: Unter Umgehung von politisch konstruktivem Streit und einer offenen demokratischen Meinungs- und Entscheidungsfindung werden wichtige Weichen hinter verschlossenen Türen gestellt – oder auf immer längere Bänke geschoben.


Als Ergebnis stehen wir heute vor einem großen Scherbenhaufen. Den haben uns nicht Finanzmarktjongleure, Industrielobbyisten oder Al-Quaida-Terroristen eingebrockt, sondern unser eigenes politisches Führungspersonal. Die schöne Vorstellung eines vereinten Europas immer freierer Bürger wurde verspielt. Statt die Menschen argumentativ für das Projekt zu begeistern und auf Grundlage wirtschaftlichen Wachstums einzubinden, investierte man in Verhaltensregeln und Regulationskorsetts. Wer bei den Plebisziten zur europäischen Verfassung aus dem Ruder lief, wurde verspottet und geradegebogen, die Demokratie für jedermann erkennbar mit Füßen getreten – und das Ganze dann auch noch frech als „Überwindung des europäischen Demokratiedefizits“ gepriesen. Schon lange versteckt man sich hinter der angeblichen „Alternativlosigkeit“ der eingeschlagenen und zusehends erzwungenen, statt demokratisch legitimierten Wege.


Die politischen Versäumnisse der Vergangenheit rächen sich brutal in der Wirtschaftskrise. Es wird schwer sein, aus ihr auch nur halbwegs erhobenen Hauptes herauszukommen. Die Reaktionen der großen Politik lassen eher den Schluss zu: Die Europäische Union und der Euro sind gescheitert. Technokratische Manipulationen und Regelbrüche, wie sie Griechenland und andere EU-Staaten lange pflegten, taugen nicht mehr, um das schwankende Schiff zu stabilisieren. Die Politik greift trotzdem noch tiefer in die Trickkiste und hat den morschen Rumpf der EU durch den Bruch elementarer Vertragsbestandteile wie den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) weiter zerstört. Sie verweigert sich seit Längerem der Verantwortung, so zu handeln, dass eine gute und lebenswerte Zukunft entstehen kann. Neue Regulationen, neue Ausgaben, noch höhere Verschuldungen sind nun stattdessen schon wieder auf den Weg gebracht worden.


Entscheidend ist: Nirgends zeigt sich der Wille, endlich die Reißleine zu ziehen. Das wäre schmerzhaft und konfliktreich. Aber wir brauchen diese Auseinandersetzung, und viele Bürger wären dankbar, wenn es damit endlich losgehen würde. Geradezu perfide kommt es einem vor, wenn die Verweigerung, die uns auf kurz oder lang Kopf und Kragen kosten wird, als Ausdruck des Wählerwillens dargestellt wird. Alle wissen, dass wir über Jahrzehnte weit über unsere Verhältnisse gelebt haben. Feuerwehrspielchen helfen nicht mehr. Aber wo bleiben die längst überfälligen Zäsuren, um die Talfahrt zu beenden?


Viel wurde versäumt in den letzten Jahrzehenten. Dass es anderswo aufsteigende Wirtschaftsregionen gibt, die der „alten Welt“ den Rang streitig machen, ist lange bekannt. Auf eine strukturpolitisch kluge europäische Antwort warten die Bürger bis heute. Von parteipolitischen Eitelkeiten angetrieben, fällt der europäische Wirtschaftsraum vor allem durch die Bereitschaft auf, jährlich Hunderte von Milliarden Euro für ineffiziente Energietechnik, Mülltrennung oder sonstigen „nachhaltigen“ Schnickschnack aus dem Fenster zu werfen – wofür wir im Ausland zusehends belächelt werden. Bekannt ist ebenso, dass es im europäischen und gerade auch im deutschen Raum an produktiven Investitionen in Fabriken und Dienstleistungen mangelt, über die ein gesundes Wirtschaftswachstum erst generiert werden kann. Immer mehr Kapitel und Steuergelder werden in unsinnigen Initiativen verschleudert – Jahr für Jahr pumpen wir Milliarden von Euros allein in die Solarindustrie, die uns nicht weiterhilft. Fortschritte in der Pflanzenzucht werden derweil politisch torpediert. Auch wenn es makaber klingen mag: selbst die stalinistische Planwirtschaft der Sowjetunion war zumindest stellen- und zeitweise klarer auf Wachstum, Effizienz und Erfolg getrimmt.


Dabei wäre beispielsweise im Energiesektor eine Reißleine schnell gefunden. Statt unnützer Geldverschwendungsorgien für Klimaschutzfantasien müssten wir es nur einigen Nachbarn nachtun, in ein paar hochmoderne Kernkraftwerke investieren, das Problem Energiesicherheit wäre für Jahrzehnte gelöst, und Innovationen könnten sich entfalten. Doch, so wie es in der jüngeren Geschichte nicht gelingen wollte, aberwitzige Subventionen in anderen Bereichen einzudämmen, wird auch heute, selbst angesichts der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, keine Tabula rasa gemacht.


Die aktuelle Situation ist eingefahren und heikel, sie scheint fast aussichtslos, und es verursacht ein flaues Gefühl in der Magengegend, wenn man den zynischen Zank und Streit innerhalb der politischen Führung verfolgt. Man könnte sagen, das „System“ der Nachkriegszeit ist an einem Scheidepunkt angelangt. Aber niemand wagt es, die „Systemfrage“ zu stellen. Oder sie wird nur auf persönliche Art gestellt, indem man sich per Rückzug aus dem Staub macht. In früheren Situationen mit ähnlicher Brisanz standen Revolutionen oder Kriege auf der Tagesordnung. Das will kein Mensch mehr haben. Aber wir brauchen dringend einen alternativen Lösungsweg – mit oder ohne Roland Koch –, sonst drohen am Ende noch weitere zivilisatorische Errungenschaften verloren zu gehen. Und wer weiß, wer und was dann kommt. Der Technokratismus ist tot, wir brauchen eine Wiederbelebung der Politik und der Demokratie! Es bleibt zu hoffen, dass diese Einsicht bei unseren politischen Eliten ankommt.

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