06.07.2017

Viva Las Vegas?

Kommentar von Johannes Richardt

Titelbild

Foto: Ed Gregory via Stockpic (CC0)

Schleswig-Holstein möchte aus dem gescheiterten Glücksspielstaatsvertrag aussteigen. Kommt aus dem „Las Vegas des Nordens“ der notwendige Impuls zur Liberalisierung des Glückspielwesens?

Beim Thema Glücksspiel umweht die neue Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein aus CDU, FDP und Grünen ein Hauch von Liberalität. Im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, den kürzlich ausgehandelten zweiten Glücksspieländerungsstaatvertrag (ein fauler Kompromiss, Novo berichtete) nicht zu ratifizieren und den bestehenden Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) zu kündigen. Dies könnte im besten Fall das Kartenhaus der bevormundenden deutschen Glückspielregulierung endlich zum Einsturz bringen.

Seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2008 steht der GlüStV unter massiver Kritik. Für Verfassungsrechtler ist er grundgesetzwidrig, Verwaltungsgerichte kommen zu ähnlichen Auffassungen, private Anbieter überziehen die staatlichen Regulierer mit Klagen, der Europäische Gerichtshof und die EU-Kommission halten das Gesetz für nicht europarechtskonform. Der Bundesrepublik droht ein kostspieliges sog. EU-Vertragsverletzungsverfahren.

Um diesem Verfahren aus dem Weg zu gehen, hatten sich im Oktober 2016 die Regierungschefs der Länder auf kleinere Änderungen des GlüStV geeinigt, die zum 1. Januar 2018 in Kraft treten sollen. Im März wurde die Novelle unterzeichnet, sollte sie nun bis Anfang 2018 nicht von Schleswig-Holstein ratifiziert werden, bleiben die alten Regelungen in Kraft und formal gesehen müsste die EU das Verfahren gegen die Bundesrepublik in Gang setzen.

„Der ‚Ausbruchversuch‘ von Schleswig-Holstein lenkt öffentliche Aufmerksamkeit auf die verfahrene Regulierungssituation.“

Die neue Kieler Landesregierung kündigt an, „mit anderen Ländern nach einer tragfähigen, europarechtskonformen Lösung“ zu suchen, „die sich an den Regelungen des bis 2013 gültigen Glücksspielgesetzes in Schleswig-Holstein orientiert“. Im Gegensatz zum aktuellen deutschen Regelwerk erhielt das alte Schleswig-Holsteiner Gesetz den Segen von EU-Kommission und Europäischen Gerichtshof.

Das 2012 in Kraft getretene Gesetz der damaligen schwarz-gelben Regierung – als Protagonisten sind vor allem der CDU-Politiker Hans-Jörn Arp und der FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki zu nennen – hatte einige Liberalisierungen in den Bereichen Sport- und Pferdewetten sowie Onlinecasinos auf den Weg gebracht, die allerdings nicht lange anhielten. Die Opposition warnte vor einem „Las Vegas des Nordens“, die anderen Länderchefs liefen Sturm gegen die Marktöffnung und mit dem Regierungswechsel 2013 zur dänischen Ampel war der Spuk für die Besitzstandswahrer des deutschen Lotto-Blocks – die vom Monopol profitierenden landeseigenen Lottounternehmen – wieder vorbei. Die neue Regierung machte das Gesetz rückgängig und trat dem GlüStV bei.

Das Regelwerk war damals bereits so unausgegoren, chaotisch und politisch falsch wie heute. So gesehen ist der „Ausbruchversuch“ von Schleswig-Holstein begrüßenswert. Denn er lenkt öffentliche Aufmerksamkeit auf die verfahrene Regulierungssituation.

Empirie gegen den GlüStV

Kürzlich hatte eine Studie erneut auf die gravierenden Mängel der deutschen Glücksspielregulierung hingewiesen. Am 29. Mai dieses Jahres veröffentlichten der Ökonom Justus Haucap, der Jurist Martin Nolte und der Suchtforscher Heino Stöver eine umfassende Evaluierung des Glücksspielstaatsvertrags. Es ging darum, die Glücksspielregulierung an den selbst gesteckten Zielen des GlüStV messen. Das Ergebnis war eindeutig. Der GlüStV verfehlt alle seine Ziele und zwar deutlich. Der gewählte Ansatz, durch Monopole, selektive Marktöffnung, Restriktionen und Totalverbote vieler Spielformen die Ziele zu erreichen, habe sich als „inkohärent und ungeeignet“ erwiesen.

Dieser Ansatz wird durch die Behauptung legitimiert, durch restriktive Regulierung die ohnehin sehr kleine Minderheit „verletzlicher“ Spieler besser vor Suchtgefahren schützen zu können als dies in einem liberalisierten Markt möglich wäre. Die Studie kommt aber genau zum entgegengesetzten Ergebnis.

„Restriktion und Prohibition des Glücksspiels haben nicht zu einem Rückgang glücksspielbezogener Probleme geführt. Im Gegenteil!“

Die seit 2007 zur Restriktion und Prohibition des Glücksspiels ergriffenen Maßnahmen haben nicht zu einem Rückgang glücksspielbezogener Probleme geführt. Im Gegenteil: Es stehe zu befürchten, dass die regulatorischen Eingriffe seit Inkrafttreten des GlüStV bestenfalls wirkungslos, schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv waren. Zumindest lassen steigende Prävalenzraten (also die Häufigkeit des Vorkommens einer Störung/Krankheit) für „problematische“ und „pathologische“ Spieler diesen Schluss zu.

Im Gegensatz dazu stehen Erfahrungen in europäischen Nachbarländern wie Dänemark oder Großbritannien. Deren deutlich liberaleren Ansätze wären nach Auffassung der Studienmacher geeigneter, die Ziele des GlüStV zu erfüllen. In Großbritannien etwa ist der Markt verhältnismäßig liberal, insbesondere im Bereich der Onlinecasinos und -wetten: Es gibt keine Begrenzung des Produktangebots, keine quantitativen Begrenzungen der Anbieter und keine spezifischen Begrenzungen von Livewetten. Nach der Markliberalisierung kam es zu einem kurzen Anstieg der Prävalenzrate. Inzwischen ist dort die Prävalenzrate für problematisches und pathologisches Spielen niedriger denn je. Und liegt auch deutlich unter derjenigen in Deutschland!

Abbildung 1: Verlauf der Prävalenzrate problematischen und pathologischen Glücksspiels in Großbritannien über den Prozess der Regulierung und Deutschland. 1

Vor diesem Hintergrund kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass der hiesige Fokus auf verhältnispräventive Maßnahmen, also die Einschränkung von Wett- und Spielgelegenheiten, nicht mehr zeitgemäß sei. Die Regulierung gehe von einem fehlerhaften Modell aus, das einen linearen Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit eines Suchtobjekts und dem Ausmaß der Suchtprävalenz postuliert. Die Empirie – siehe z.B. Großbritannien – widerspricht dieser Auffassung. Die Erhöhung der Verfügbarkeit führt entweder zu keiner Änderung oder sogar zu einem dauerhaften Rückgang bei der Suchtprävalenz. Der Zusammenhang zwischen Verfügbarkeit und Sucht ist komplexer als Befürworter von Restriktionen und Prohibition behaupten, nicht zuletzt, weil man auch Anpassungsfähigkeit (Adaption) und Widerstandskraft (Resilienz) der Spieler mitberücksichtigen muss.

Ganz außen vor bei dieser Betrachtung bleibt hier der Umstand, dass bereits der Gedanke, ausgerechnet die sehr kleine Minderheit „verletzlicher“ Spieler zum Maßstab der Regulierung zu machen, fragwürdig ist. Die Prävalenzrate in Deutschland liegt deutlich unter einem Prozent der Bevölkerung. Das heißt im Umkehrschluss, dass über 99 Prozent der Bevölkerung überhaupt kein Problem mit Glücksspiel hat, obwohl rund die Hälfte in irgendeiner Form spielt.

Wie geht es weiter?

Man darf bezweifeln, ob sich die Besitzstandswahrer im deutschen Lotto-Block von solchen empirischen Erkenntnissen beeindrucken lassen. Seit Jahren erweisen sie sich als überaus faktenresistent. Wenn sie eines beherrschen, dann ist es das Spielen auf Zeit. Deshalb ist es umso interessanter, zu sehen, wie die Länder auf Schleswig-Holsteins Vorstoß reagieren werden und wie sich Schleswig-Holstein verhält. Bis zur Bundestagswahl dürfte sich ohnehin kein Politiker bei diesem unpopulären Thema bewegen.

„Wollen wir staatlich gelenkte Triebsteuerung?“

Danach dürfte es auf zwei Szenarien hinauslaufen. Im ersten Szenario geht Schleswig-Holstein wie bereits 2012 mit eigenem Gesetz alleine seinen Weg. So könnten z.B. Wettanbieter dort wieder Lizenzen beantragen. Die 15 anderen Bundesländer müssten einen neuen Staatsvertrag aufsetzen, da der Änderungsstaatsvertrag ohne Schleswig-Holstein bereits vom Wortlaut her nicht mehr verabschiedet werden kann – dieser dürfte substantiell aber nicht besser ausfallen als der bisherige. Im zweiten Szenario würde Schleswig-Holstein weitere Bundesländer überzeugen, aus dem GlüStV auszuscheren und sich stattdessen an seinem Modell zu orientieren. Als mögliche „Verbündete“ wurden im Koalitionsvertrag Hessen und Rheinland-Pfalz genannt, die sich auch in Vergangenheit für moderate Marktöffnungen offen gezeigt haben, und Nordrhein-Westfalen, wo seit kurzem mit knapper Mehrheit eine schwarz-gelbe Koalition regiert, die ähnliche Vorstellungen haben könnte. Auch in diesem Szenario müssten die anderen Länder einen neuen Staatsvertrag verabschieden. Wie gangbar dieser Weg ist, wird sich zeigen. Im deutschen Föderalismus besteht ein sehr starker Konsensdruck, der Sonderwege bestraft und nur wenig Wettbewerb zulässt.

Letztlich ist keines dieser Szenarien dauerhaft wünschenswert. So wenig reformbierbar der GlüStV erscheint, so hat auch das alte schleswig-holsteinische Gesetz etliche Schwächen. So ist z.B. nicht nachvollziehbar, wieso bei allen sinnvollen Liberalisierungen ausgerechnet das rechtlich, politisch und ethisch fragwürdige Lottomonopol unangetastet bleiben soll. Auch hat der alte Gesetztext etwa die paternalistische Formel des GlüStV übernommen, den „natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken“. Wollen wir tatsächlich staatlich gelenkte Triebsteuerung im demokratischen Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts?

Nein, am besten wäre es, wenn man die deutsche Glücksspielregulierung von Grund auf neu aufsetzen und sich dabei an objektiven Fakten, rationalen Überlegungen und nicht zuletzt einem Menschenbild orientieren würde, das Spieler nicht pauschal als pathologische Fälle abstempelt, sondern sie zuvorderst als Bürger sieht, die autonom über ihre Freizeitgestaltung entscheiden können. Wie es allerdings zu solch einer – im besten Sinne des Wortes vernünftigen – Lösung kommen soll, steht in den Sternen.

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