21.12.2011

Masernepidemie auf Steiners Geburtstagsparty

Kommentar von David Fahnert

Im 150. Geburtstagsjahr von Rudolf Steiner wuchs in Deutschland die Zahl der Masernfälle. Waldorf-Schulen spielen bei der Verbreitung eine wichtige Rolle. Dabei gibt es längst funktionierende Impfmittel. Ein Beitrag über esoterische Verirrungen auf Kosten von Kindern

Jedes Jahr Tote und Tausende Kranke: Das Ziel der WHO, die Masern bis Ende 2010 auszurotten, misslang. [1] Während in den USA die Anzahl der Erkrankten kaum die Tausendermarke erreicht, infizieren sich in Deutschland jährlich Tausende und es werden sogar Impfwarnungen vor der Einreise in den deutschsprachigen Raum veröffentlicht. [2] Was ist schief gelaufen?

Masern sind eine hochansteckende Krankheit, welche von Mensch zu Mensch übertragen wird. Schätzungen der WHO zufolge, sterben an ihr weltweit jährlich hunderttausende Menschen – betroffen sind vor allem Säuglinge und ältere Menschen. Der Umstand, dass in erster Linie Kinder erkranken, kann zum Fehlurteil führen, in Masern nur eine harmlose Kinderkrankheit zu sehen. Dies ist falsch. Sie sind hochinfektiös, weswegen man an ihnen sehr frühzeitig erkrankt. Häufig mit tödlichen Folgen, wie uns zum Beispiel der Todesfall eines 26-jährigen Deutschen Anfang des Jahres vor Augen führte. [3]

Gegen diese schwerwiegende Erkrankung gibt es seit Jahren einen Impfstoff, dessen positive Wirkung wohl dokumentiert und bewiesen ist. Die Mittel zur Bekämpfung sind also da. Leider scheint aber nicht überall der Wille vorhanden, sie auch einzusetzen. Impfmüdigkeit ist aktuell ein wichtiges Thema. In diesem Zusammenhang fallen vor allem auch die Waldorfschulen auf, denn dort werden besonders häufig Masernfälle beobachtet. [4]

Waldorf-Schulen fußen auf den als Anthroposophie bekannten, weltanschaulichen Thesen des Esoterikers Rudolf Steiner (1861-1925). Sein Weltbild war, bei Lichte betrachtet, vor allem ein Kind seiner Zeit. So könnte sich die Überzeugung der Existenz von Atlantis und der dort ansässigen „Wurzelrassen“ etwa aus dem damaligen sehr beschränkten Wissen und ideologischen Moden erklären lassen. Doch da Steiner selbst von sich aussagte, er habe dieses Wissen aus „höheren Geisteswelten“ erhalten (die so genannte Akasha-Chronik), wurde der Anthroposophie ein Anspruch auf absolute Wahrheit in die Wiege gelegt, welcher sich nur schwer mit der Realität vereinbaren lässt. Da dieser dogmatische Absolutheitsanspruch nur wenig Kritik, insbesondere von außen, verträgt, lässt sich in Reihen der anthroposophischen Bewegung eine Art ideologischer Immunisierungsprozess beobachten, welcher die Weiterentwicklung und das Hinterfragen der eigenen Lehren systematisch untergräbt. So verwundert es wenig, dass man auf Seiten der Waldorf-Schulen zur Frage Masernverbreitung bis auf das Beharren auf der „freien und individuellen Impfentscheidung“ kaum etwas vernimmt. [5] Dies ist natürlich auch ihr gutes Recht und aus freiheitlicher Perspektive, als Eintreten für eine autonome Entscheidungsfindung, auch zu begrüßen.

Konsequent weitergedacht, muss man sich aber auch nun die Frage stellen, worauf denn diese „individuelle und freie Entscheidung“ basieren möge. Zu dieser Fragestellung erhält man von einer Vielzahl von anthroposophischen Vereinigungen Antworten. Thematisch am relevantesten dürfte dabei der Dachverband der anthroposophischen Ärzte sein. Auf dessen Websites finden sich auch Leitlinien, welche die Sinnhaftigkeit der Masern verkünden. So sei das Leiden der Masern gut zur Individualisierung des Körpers, welcher sich so vom Ererbten der Eltern distanziert. Des Weiteren sei laut Steiner, eine Krankheit dazu geeignet, einen Charaktermangel einer vorherigen Inkarnation zu überwinden. So lässt sich etwa in einer steinerischen „Karmatabelle“, entnehmen, dass Masern einer „sebtischen Grübelei“ entsprängen – was auch immer das jetzt zu bedeuten hat. Dies veranlasst Sylvain Coiplet, Mitarbeiterin der anthroposophischen „Gesellschaft für dreigliedrige Ordnung“, zu dem Ratschlag: „Wer auf Masern etwas gibt, muss allerdings wissen, dass es in seltenen Fällen Komplikationen geben kann und dass die Begleitung durch einen Arzt schon sinnvoll ist. Das sollte aber schon einer sein, der Kinderkrankheiten nicht für Unsinn hält.“ [6]

Krankheit als Segen, Leid als Freiheit… und, letztlich dann wohl der leidvolle Tod als größtes Glück? Was als privates Konzept schon von sehr fragwürdiger Natur ist, ist als erzieherisch kollektivistischer Gedanke gegenüber Kindern schlicht gefährlich. In diesem Lichte soll nun stand exemplarisch ein Fall in Essen aus dem letzten Jahr vorgestellt werden – der Ort des Geschehens: eine Waldorfschule: Bei einer Waldorfschülerin wurden Masern festgestellt, was das Gesundheitsamt, unter dem Gesichtspunkt der chronischen Impfmüdigkeit, dazu veranlasste eine Kontrolle an jener Schule durchzuführen. Dabei stellte man fest, dass 41 Prozent ungeimpft (an staatlichen Schulen sind über 80 Prozent geimpft) und 71 Schüler/Kinder erkrankt waren. Von diesen 71 wurden 45 in Arztpraxen behandelt, welche generell nicht gegen Masern impfen. Von diesen Arztpraxen ging, laut Behördenaussagen, genauso wie von den impfkritischen Eltern, wenig Kooperationsbereitschaft aus; sei es die Bereitschaft zum Impfen oder die Bereitstellung von Probenmaterial, welches dazu dient, den Krankheitslauf nach zu verfolgen, um somit die Epidemien zumindest eindämmen zu können. Trotz des geringen Probenmaterials konnte eine hohe Übereinstimmung mit einem Virenstamm festgestellt werden, welcher an einer anderen Berliner Waldorfschule im selben Jahr grassierte. So scheint die deutsche Waldorf-Community ihre ganz eigene Rolle bei der Ausbreitung von Masernepidemien zu spielen.

Doch ein Blick über den hiesigen Tellerrand gibt auch Grund, Erfolge zu vermelden. Die Zahl Maserntoter weltweit ist von 2000 bis 2008 von 750.000 auf 197.000 pro Jahr gemeldeter Fälle, also um 74 Prozent gesenkt worden. Besonders beeindruckend waren die Erfolge in Afghanistan, Pakistan, Somalia, und Sudan. Dort konnte die Zahl der Masern Tote um 90 Prozent gesenkt werden. [7] In Deutschland hingegen erleben wir hingegen eine immer weiter um sich greifende Impfmüdigkeit – nicht zuletzt auch durch die beständige Popularität der steinerischen Thesen und anderer verknöcherter Weltbilder bedingt. [8]

Dieses Jahr wurde der 150-jährige Geburtstag Rudolf Steiners gefeiert. Zeit genug, eine Lehre zu hinterfragen, welche es anscheinend gerne in Kauf nimmt, Kinder „sinnhaft“ leiden und sterben zu lassen.

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