30.05.2022

Eine Runde Freifahrt für alle?

Von Christoph Lövenich

Das Neun-Euro-Ticket, das ab dieser Woche gilt, macht den Öffentlichen Nahverkehr nicht attraktiver. Es wird nur wieder mal Geld rausgehauen und Chaos provoziert.

„9 für 90“ – so griffig sollte der Flatrate-Fahrschein beworben werden. Daher auch der symbolische Preis von 9 Euro fürs Ticket, es hätten im Grunde genauso 7,99 sein können. Tatsächlich hat sich der glanzlosere Begriff „Neun-Euro-Ticket“ eingebürgert, zumal man für 9 Euro nicht 90 Tage fahren darf, sondern für 3 Mal 9 Euro 92 Tage. Das ist nicht ganz banal, denn wer weiß, ob nicht manche, die das Ticket im Juni oder Juli erwerben, im Folgemonat selbst bei diesem Spottpreis darauf verzichten.

Abgesehen von einzelnen zusätzlichen Zügen, die man einzusetzen verspricht, wird das Angebot im Nahverkehr nämlich nicht besser, weder qualitativ noch quantitativ. Wer bisher wegen schlechter Verbindungen oder Unzuverlässigkeit im Fahrplan Bus und Bahn links hat liegen lassen, wird nicht plötzlich zum ÖPNV-Fan, wenn er das Gleiche in (über)vollen Zügen genießen darf.

Aus Sicht eines Eisenbahn-YouTube-Kanals „besteht die Gefahr, dass das Vorhaben, viele neue Reisende vom Bahnfahren zu begeistern, gehörig scheitern wird. Denn wer nur bis auf den letzten Stehplatz gefüllte Züge und gestresstes Personal erfährt, wird mit Sicherheit nicht auch noch über teils lange Wartezeiten auf dem Land oder unattraktive Bahnhöfe hinwegsehen, sondern wohl leider schnell wieder auf das Auto wechseln.“

Mit heißer Nadel gestrickt, ohne zusätzliche Ressourcen und mit dem ein oder anderen Ausfall beim Fahrpersonal wegen immer noch bestehender Corona-Isolationsvorschriften – so ist Chaos durch übervolle Züge in Ballungsgebieten und auf Urlaubsrouten programmiert. Es vertreten schon Ökos die Verschwörungstheorie, dass das Projekt dem Ziel diene, den ÖPNV möglichst schlecht aussehen zu lassen.

„Nichts wird investiert, verbessert oder beschleunigt.“

Nichts wird investiert, verbessert oder beschleunigt. Man will nur innerhalb bestehender Verkehrsträger ein bisschen temporär umschichten. Von Innovationen wie „Raketenflugzeugen, Bodeneffektfahrzeugen und fliegenden Autos“ oder „autonom fahrenden Kapseln“ wollen wir gar nicht erst anfangen.

Man möchte dem Klima dienen und außerdem die Menschen angesichts steigender Preise entlasten, so die offizielle Lesart. Der Staat, findet jedoch die NZZ, „sollte […] sich angesichts knapper Kassen auf die Entlastung jener konzentrieren, die es bitter nötig haben, statt mit der Gießkanne die gesamte Bevölkerung zu beglücken – zumal diese das nicht bestellte ‚Geschenk‘ über ihre Steuern selbst bezahlen muss.“ Genau. „Ticket-Käufer zahlen weniger, die Gemeinschaft mehr“, bringt es der SWR auf den Punkt. Zu dieser Gemeinschaft gehören auch alle, die das Neun-Euro-Ticket gar nicht nutzen können oder wollen, aber trotzdem andere subventionieren müssen. Der Sender vergleicht das Unterfangen mit der Abwrackprämie oder der zeitweisen Mehrwertsteuersenkung 2020, „immer wieder beschließen Bundesregierungen sogenannte Entlastungen, die keine sind. Es handelt sich um die Zuckerwürfel der Politik, mit derselben kurzen, schädlichen Süße.“

Dieser „verpuffende Geldregen“ ist immerhin so teuer, dass man treffender von einem „2,5-Milliarden-Euro-Ticket“ spräche. Sicher, viele Dauerkarteninhaber profitieren ein Quartal lang von günstigeren Preisen und mancher Ausflug oder Urlaub wird so erschwinglicher. Ob die Schickeria auf Sylt wirklich vom „deutschen Proletariat“ überschwemmt werden wird? Auch ausländische Touristen profitieren, die können das Ticket genauso erwerben. Ob sich das der notorisch sparsame Niederländer zweimal sagen lässt? Sein Fahrrad sollte er aber zu Hause lassen, das dürfte auf manchen Strecken zu eng werden in den Waggons.

So könnte man ausländische Urlauber anlocken und gibt inländischen einen Anreiz, in hiesigen Gefilden zu bleiben. Beide kommen dann nicht nur in den Genuss des Gedränges, sondern auch das Maskenzwangs in Bus und Bahn, von dem man in immer mehr Nachbarländern verschont bleibt. Demnächst sogar in Österreich (außerhalb Wiens). Wer mit dem Neun-Euro-Ticket bis nach Salzburg oder Kufstein reist, kann dort umsteigen – und aufatmen. Es wäre allerdings wenig verwunderlich, wenn in Deutschland die Verlängerung des Maskenzwangs den Hochsommer hindurch gerade mit den durch das Neun-Euro-Ticket volleren Bussen und Bahnen begründet würde. Wenigstens muss man beim Warten auf den verspäteten Zug keine Maske mehr am Bahnsteig tragen…

„In die Sprengung der öffentlichen Haushalte fügt sich das Neun-Euro-Ticket nicht nur nahtlos ein, sondern eröffnet den Regierenden zusätzlich die Möglichkeit, sich als spendable Schenker zu geben.“

Werden wir einen Kollaps des Nah- bzw. Regionalverkehrs auf stark beanspruchten Strecken erleben? Es würde zumindest zu der destruktiven Politik passen, die sich auf vielen Gebieten äußert. Neben dem Ausstieg aus einer bezahlbaren und belastbaren Energieversorgung, den Erschütterungen der Coronapolitik, der Weginflationierung von Vermögen und Einkommen wäre dies das Tüpfelchen auf dem i.

Apropos Inflation: Preissteigerungen bei einer, durch Nullzinspolitik begünstigten, staatlichen Schuldenanhäufung bedeuten einen „Raubzug“, wie Henryk Broder sagt, oder sind schon Zeichen einer Kleptokratie. Abermillionen und -milliarden Steuergelder werden im In- und Ausland verprasst, als ob es kein Morgen gäbe. Für Coronatests- und impfdosen, für die Taliban, für Syrien, für die WHO, für die Bundeswehr und gegen ‚Rechts‘. In diese Sprengung der öffentlichen Haushalte fügt sich das Neun-Euro-Ticket nicht nur nahtlos ein, sondern eröffnet den Regierenden zusätzlich die Möglichkeit, sich als spendable Schenker zu geben. Eine neue Wahnsinnsfahrt, eine Runde um den Schuldenberg.

Die Bundestagsabgeordneten, die das beschlossen haben, können es sich derweil mit ihrer Freifahrkarte in der 1. Klasse des ICE gemütlich machen. Anderes Zugfenster, gleicher Ausblick. Wie viel kostet es eigentlich, gegen die Wand zu fahren?

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!