15.12.2023

Droht ein Atomkrieg?

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Föderationsrat Russland via Wikicommons / CC BY 4.0

Eine nukleare Eskalation des Ukrainekriegs ist nicht ausgeschlossen. Hierbei spielen Aggressor Putin und der doppelmoralische Westen eine Rolle. Verhandlungen wären möglich.

Putins Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen haben dieser Waffengattung seit dem Ende des Kalten Krieges wieder große Aufmerksamkeit beschert. Mit ihrer enormen Zerstörungskraft ist sie eine Geißel der Menschheit, die jedoch nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein wird. Gerade deshalb muss alles darangesetzt werden, eine atomare Eskalation des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zu verhindern. Es ist höchste Zeit, die Einseitigkeiten der politisch-medialen Debatte zu überwinden und sich für diplomatische Initiativen unter Führung der USA stark zu machen.

Postmoderne Linke verbreiten gerne die Mär, dass die durch die US-amerikanische und die Französische Revolution in die Welt getragenen Werte wie Freiheit, Gleichheit und Rechtstaatlichkeit als solche reine Heuchelei sind und nur der verschärften Ausbeutung und Unterdrückung von Minderheiten wie Menschen nicht-weißer Hautfarbe, alternativer sexueller Orientierung und Frauen dienen. Der Siegeszug eben jener Gruppen in liberalen Demokratien – so in der Frauen-, der Bürgerrechts-, der Homosexuellen- und der Transsexuellen-Bewegung – führt diese Position ad absurdum. Stets schloss sich in der langen Frist und verbunden mit zeitweisen Rückschlägen die Kluft zwischen normativem Anspruch und von abweichender Realität ein Stückchen weiter. Gleichwohl werden „westliche Werte" nach wie vor brutal von mächtigen westlichen Staaten mit Füßen getreten, insbesondere dann, wenn es um geopolitische und ökonomische Interessen geht, die man gerne mit dem Vorwand bemäntelt, man trete ja nur für die gleiche Freiheit und die demokratische Mitbestimmung aller Menschen ein.

Die Doppelmoral des Westens

In einem berühmten Buch aus dem Jahr 1999 hat der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski die USA als die „einzige Weltmacht" beschrieben, die ihre Einflusszonen permanent ausdehnt und mit einer weltgeschichtlich einzigartigen Mischung aus technologischer, wirtschaftlicher, militärischer und kultureller Macht als Imperium wirkt – wie das römische, mongolische oder chinesische Reich in der Antike und dem europäischen Hochmittelalter.1 West-, Mittel- und Osteuropa sind der Brückenkopf in den eurasischen Kontinent und Russland ist deshalb immer weiter zurückzudrängen und in einem Geflecht aus pro-amerikanischen Staaten einzukreisen. Ein Zusammengehen von europäischer Technologie und russischen Rohstoffen soll auf diese Weise – so der US-amerikanische Geo-Stratege George Friedman – verhindert werden.

Mit dem Untergang der Sowjetunion haben sowohl der Warschauer Pakt als auch die Nato ihre historische Funktion eingebüßt. Die Nato wurde aber erhalten, spielt sie doch eine bedeutende Rolle in der Vorherrschaftsstrategie der USA. Über die Nato können die USA über andere Nationen hinweg ihre Waffenverbände bewegen und sie fungieren damit faktisch als militärische Schutzmacht für zahlreiche andere Länder. Nichts verleiht so viel Macht, wie andere schützen zu können. Ein europäisches Sicherheitsbündnis unter Einschluss Russlands, für das Putin noch 2001 im Bundestag geworben hat, wurde nicht realisiert. Stattdessen kam es zu einer schrittweisen Ausdehnung der Nato nach Osten (1999, 2004, 2009, 2017, 2020). Der Erfinder der US-amerikanischen Containment-Politik nach dem Zweiten Weltkrieg, George Kennan, hat 1997 eindringlich vor der Nato-Osterweiterung gewarnt. Diese ist der „verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg“; sie lasse erwarten, „dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns gänzlich missfallen werden.“2

„Putins Armee begeht grausamste Kriegsverbrechen in der Ukraine und die russische Führung wäre auch für den Einsatz einer Atomwaffe alleine verantwortlich.“

Der Krieg in der Ukraine ist nicht weniger als die Folge eines beidseitigen geopolitischen Atavismus: Der Rechtsnachfolger einer ehemaligen Supermacht hat den ehemaligen „Systemfeind“ vor seiner westlichen Haustür, und dieser setzt sich nun mit verbrecherischen, den Weltfrieden gefährdenden Mitteln zur Wehr. Putin hat in den letzten beiden Jahrzehnten freilich seine eigenen, höchst zwielichtigen Spielchen mit Europa, insbesondere auch mit Deutschland, gespielt und Abhängigkeiten von russischen Rohstoffen systematisch vorangetrieben (unter Mitwirkung vor allem sozialdemokratischer Politiker-Kreise, aber auch von Bundeskanzlerin Merkel) sowie seine Cyber-Armeen in Gang gesetzt, um westliche Staaten zu destabilisieren. Stichworte: Trump, Allianzen mit rechtspopulistischen Parteien. Eben so wenig wie die Kriegspolitik des US-Staatsapparates gerechtfertigt ist, ist es die Kriegspolitik Putins, die beileibe nicht erst mit der Ukraine begann, sondern in Tschetschenien seit 1999 seinen Anfang nahm und einen ersten traurigen Höhepunkt in der barbarischen Bombardierung von Krankenhäusern in Syrien hatte, bevor Russland schließlich 2014 die Krim besetzte, auf den von russischen Milizen geschürte bürgerkriegsähnliche Zustände im Donbass folgten. Am 24. Februar 2022 marschierte die russische Armee nach einem monatelangen Aufmarsch schließlich in der Ukraine ein, wo sie die Oblaste Luhansk, Donezk und Saporischschja und Cherson besetzte. Putin hat sie nach Pseudo-Referenden im September 2022 zum Gebiet der russischen Föderation erklärt; Cherson konnte allerdings im November 2022 vom ukrainischen Militär zurückerobert werden.

Klar ist: Russland ist, was die Ukraine angeht, der unmittelbare Aggressor, verhält sich klar völkerrechtswidrig und Putin hegt selbst imperiale Phantasien, die er in dem Diktum von dem Zerfall der Sowjetunion als der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts" zum Ausdruck gebracht hat. Putin beklagte vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine, dass sich die Ukraine in ein dem Westen zugewandtes „Anti-Russland“ verwandelt habe – gewiss auch mit Blick auf seine eigene autokratische Herrschaft, die unter Druck geriete, würde Russland weiter mit liberalen Ideen aus dem Westen infiziert. Putins Armee begeht grausamste Kriegsverbrechen in der Ukraine und die russische Führung wäre auch für den Einsatz einer Atomwaffe alleine verantwortlich.

Wie aber hätten die USA wohl reagiert, wenn – um ein Gedankenexperiment des Politologen John Mearsheimer aufzugreifen – Kanada und Mexiko eine militärische Allianz mit Russland geschlossen und Manöver in den Nachbarstaaten abgehalten hätten? Hätten die USA in diesem Fall das Prinzip der „freien Bündniswahl“ hochgehalten? Selbstverständlich nicht. Sie hätten versucht, diese Allianz mit Hilfe ihrer Geheimdienste oder durch eine militärische Intervention zu unterminieren. Sie hätten mindestens einen Krieg angedroht. Den Solomonen-Inseln widerfuhr im April 2022 genau dies. Die dortige Regierung wollte es China gestatten, eine Militärbasis auf einer ihrer Inseln zu errichten, prompt feuerten die USA (und Australien) Drohungen in Richtung des Inselstaates. Putin aber habe es selbstverständlich zu akzeptieren, argumentiert Mearsheimer, wenn US-amerikanische Militärs ukrainische Soldaten trainieren.

Die Doppelmoral der Machtapparate des Westens ist an dieser Stelle schlicht atemberaubend, ebenso wie der Umstand, dass nahezu der gesamte Medien-Mainstream (samt der Mehrheit der Experten, die dort auftreten) diese Doppelmoral permanent wegerklärt oder gleich unter den Tisch fallen lässt. Die offenkundige Rolle von US-Diplomaten beim Maidan-Aufstand im Februar 2014 in Kiew, der in der Installierung des USA-freundlichen Präsidenten Arsenij Jazenjuk mündete, gilt in breiten Teilen der Mainstream-Medien mittlerweile als bloßer Verschwörungsmythos, dem man als etablierter Journalist selbstverständlich nicht weiter nachgeht; denn man möchte ja in einem mittlerweile weit verbreiteten Faktenchecker-Gestus, der nur von den Vernünftigen und richtig Denkenden in Anspruch genommen werden kann, „Verschwörungsmythen" keinen „Raum geben". Und schon gar nicht möchte man irgendetwas ernst nehmen, was auch Putin bereits gesagt hat, weil man dann Angst hat, als „Putin-Versteher“ zu gelten – was für einen Journalisten in einem Mainstream-Medium in der gegenwärtigen Situation das berufliche Aus bedeuten könnte.

„Der Golfkrieg im Jahr 1991 wurde durch die ‚Brutkastenlüge‘ vorbereitet, als es hieß, dass kuwaitische Soldaten Frühchen aus Brutkästen zerren würden.“

Die Folge dieser Gemengelage aus einem emotional stark berührenden Kriegsgeschehen auf dem eigenen Kontinent, der massiven Verletzung der Integrität völlig unschuldiger ukrainischer Bürger, einer bereits seit längerem grundgelegten Tendenz zum moralisch korrekten Haltungsjournalismus und dem Interesse an der weiteren Ausübung des eigenen Berufes ist: Seit über eineinhalb Jahren erzählt man uns nun, dass die Nato-Osterweiterung mit diesem Konflikt natürlich nichts zu tun hat und Putin schlicht „böse“ ist, während er mit seinen in der Tat am großrussischen Reich geschulten Ambitionen der zentrale geopolitische Akteur ist, der eine seit 70 Jahren unangetastete, regelbasierte Friedensordnung gefährdet.

„Der Westen muss erst wieder lernen, sich in einer Umwelt zurechtzufinden, in der Regeln und Werte weniger zählen als die Währung der Macht“, erklärte der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung am 22. Mai 2022 in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises in der Frankfurter Paulskirche. Sätze wie diese, dass es nämlich Putin im Jahr 2022 bzw. 2014 (mit der Besetzung der Krim und dem Krieg in der Ostukraine) war, der die globale Friedensordnung zerstört hat, sind nach wie vor jeden Tag auf allen Kanälen zu hören. Als hätte es in den letzten dreißig Jahren keine kriegerischen, vom US-Militärapparat vorangetriebenen Interventionen gegeben, im Irak, in Afghanistan oder im Kosovo, die Hundertausenden bereits das Leben gekostet und ganze Staaten in den Zusammenbruch getrieben haben? Die Kriegsführung mit US-Kampfdrohnen, die technisch vom US-Stützpunkt in Ramstein koordiniert wird, hat tausenden Unschuldigen bereits das Leben gekostet, aber hier drücken nicht zuletzt die deutschen Grünen beide Augen zu. Warum nur? 

Wenn eines auf der Welt Diktatoren und autokratische Herrschaft dazu (schein-)legitimiert, ihre eigenen imperialen Ansprüche zu verfolgen, dann ist es dieses Verhalten einer Großmacht, die seit Jahrzehnten immer wieder das Völkerrecht mit Füßen tritt und ihre Ansprüche auf Ressourcen sowie ökonomischen und militärischen Einflusssphären mit der Einführung der Demokratie und der Verteidigung von Frauenrechten rechtfertigt. So bitter es ist: An dieser Stelle hat Putin schlicht Recht, wenn er die völkerrechtswidrigen Kriege der USA beklagt, so etwa ausführlich in einer Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023. Dies macht freilich den Umstand nicht besser, dass Putin selbst ein heuchlerisches Spiel betreibt, wenn er die Ukraine auf der einen Seite als „Brudervolk“ bezeichnet und gleichwohl einen grausamen Krieg gegen das Land beginnt, in dem er es zum Leidwesen von Millionen Menschen hauptsächlich auf die zivile Infrastruktur abgesehen hat.

Schon der Vergleich mit dem Irak-Krieg macht das Ausmaß an Doppelmoral des Westens greifbar: Wie anders als durch das Anlegen völlig unterschiedlicher Maßstäbe an die Handlungen mächtiger geopolitischer Akteure soll man es sich denn erklären, dass

…Russland von der UN-Vollversammlung für seinen Krieg gegen die Ukraine fast einhellig verurteilt wurde, die USA für ihren Krieg gegen den Irak jedoch nicht?

…die europäischen Staaten noch nicht einmal erwogen haben, die USA nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in den Irak ökonomisch zu sanktionieren, wie dies nun mit Russland geschieht?

…man nie gehört hat, dass der US-amerikanische Präsident George W. Bush als „Monster“ oder „das personifizierte Böse“ bezeichnet worden wäre, während diese Ausdrücke gerade zur politisch-medialen Folklore im Umgang mit dem russischen Diktator Putin gehören?

…es keine nennenswerten Forderungen geben hat, nach dem US-amerikanischen Einmarsch im Irak Hollywood-Filme zu boykottieren, es aber zu Absagen und Boykotten von Opern und Konzerten kam, weil sie, man höre und staune, von russischen Autoren oder Komponisten verfasst worden waren?

…auch nicht der kleinste Impuls bemerkbar war, mit großem Pathos eine „Zeitenwende“ auszurufen, sondern der Irak-Krieg letztlich als „eben noch so ein Krieg“– ohne große Konsequenzen gegenüber dem Aggressor zu ziehen – hingenommen wurde?

Den Fokus ausschließlich auf das mörderische Fiasko im Irak zu richten, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Denn der militärische Zynismus (hier dürfte der Begriff angemessen verwendet sein) des US-Staatsapparates, der es immer wieder, schafft sich als Getriebener der Umstände darzustellen, hat Tradition. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat er Militärdiktaturen befördert, verdeckte Kriegsführung und eine Regime-Change-Politik betrieben, so 1953 im Iran (zusammen mit Großbritannien), 1954 in Guatemala, 1965 in Indonesien, 1973 in Chile.3 Kriege, die Millionen Tote und Verwundete zur Folge hatten, wurden dabei mit Lügen gerechtfertigt. So beispielsweise im Zusammenhang mit dem „Tonkin-Zwischenfall“, bei dem nordvietnamesische Patrouillen-Boote 1964 angeblich den US-Zerstörer Maddox beschossen haben – Propaganda, die einen Einmarsch rechtfertigte, der rund zwei Millionen Vietnamesen und knapp 60.000 US-Soldaten das Leben kostete. Der Golfkrieg im Jahr 1991 wurde durch die „Brutkastenlüge“ vorbereitet, als es hieß, dass kuwaitische Soldaten Frühchen aus Brutkästen zerren würden.

„Von einem ‚US-amerikanischen Überfall‘ auf den Irak hat man im Jahr 2003 nichts gelesen, während der Krieg in der Ukraine – erneut: zu Recht – häufig als ‚russischer Überfall‘ bezeichnet wird.“

Noch präsenter ist vielen sicherlich US-Außenminister Collin Powell, der im Jahr 2003 im UN-Sicherheitsrat mit weißem Pulver wedelte und dies als Beleg für „Massenvernichtungswaffen“ ausgab.4 Die islamistische Terrorbande des „Islamischen Staates“ war eine indirekte Folge dieses – wie man es ausdrücken müsste, wenn gleiche Maßstäbe an jede illegitime kriegerische Handlung angelegt werden würden – „völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf den souveränen Irak“ gewesen. Auch von einem „US-amerikanischen Überfall“ auf den Irak hat man im Jahr 2003 nichts gelesen, während der Krieg in der Ukraine – erneut: zu Recht – häufig als „russischer Überfall“ bezeichnet wird.

Der Umstand, dass derartige Formulierungen – trotz aller Kritik an der US-Kriegspolitik, die es damals auch gab – gerade nicht zum selbstverständlichen Repertoire des medialen Begleitrauschens wurden, zeigt, wie sich hegemoniale Interessenlagen bisweilen in den Nuancen unserer sprachlichen Selbstverständigung niederschlagen. Der Irak-Krieg war immer nur genau das, nämlich der „Irak-Krieg", während man heute sieht, wie sich Talkshow-Gäste eilfertig verbessern und „völkerrechtswidriger Angriffskrieg" hinzufügen, sollte einem der sprachökonomisch günstigere Ausdruck „Ukraine-Krieg" herausgerutscht sein. Der mediale Mainstream, einschließlich des öffentlichen Rundfunks, hat hier eindrucksvolle „Framing“-Arbeit geleistet und drängt damit all jene an den Rand, die es als Zumutung empfinden, sich durch die journalistischen Effekte der eigenen Gebührenzahlungen auch noch erziehen zu lassen. Und dies ausgerechnet in einer Frage, die wie keine zweite die vitalen Überlebensinteressen eines jeden Menschen berührt.

Wenn der liberale Westen seine eigenen Standards an kritisch hinterfragender, unvoreingenommener, freiheitlicher Weltbetrachtung einlösen möchte, dann sollte er schleunigst daran arbeiten, solche systematischen Ungleichgewichte in der Berichterstattung über existentielle Krisen wieder auszubalancieren. Auch die Wissenschaft, insbesondere in Gestalt des öffentlich auftretenden Expertenwesens, darf sich hier angesprochen fühlen. Betrachten wir zwei Beispiele. 

Übergewicht von Expertenmeinungen

Es sind wahrlich befremdliche Zeiten: Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, in dem eine Atommacht mit einem „Besessenen“ an der Spitze agiert, gelten als ein Gebot der Humanität, das Eintreten für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen wird hingegen als „Zynismus“ diffamiert. Die Ukraine verteidige sich gegen Russland nicht nur selbst als Nation, sondern auch den Westen insgesamt und seine Werte. Die Nato habe mit diesem Konflikt nichts zu tun. Putin sei schlicht „böse“ (F.-W. Steinmeier) und ausschließlich von imperialen Gelüsten und einem irrationalen Hass gegen den Westen getrieben. Und der einzige Ausweg aus dem Konflikt sei die Lieferung immer größerer, schwererer, reichweitenstärker Waffensysteme für die Ukraine, um Putins Armee Einhalt zu gebieten. So ist es allenthalten in breiten Teilen der Medien, von der Mehrheit der Experten und der sich als „vernünftige Mitte“ verstehenden Politik zu hören.

Gerade in liberal-demokratischen Gesellschaften muss die jeder Pluralität Hohn sprechende Einheitlichkeit, mit der einem diesen Auffassungen entgegentreten, Beunruhigung hervorrufen.5 Differenzierungsversuche sind zwar möglich und sie finden statt – aber bisweilen um den Preis der Diffamierung, so dass ‚Abweichler‘ – wie etwa Ulrike Guérot oder Gabriele Krone-Schmalz – automatisch an den linken und rechten Rand gedrückt werden und teils um ihre berufliche Existenz fürchten müssen. Auch Jürgen Habermas, der etwas lavierend, aber der objektiv dilemmatischen Lage durchaus angemessen, Waffenlieferungen und Verhandlungen forderte, wurde als Einfaltspinsel belächelt.

Maßgebliche Mainstream-Medien und die von ihnen geladenen Experten bauen an dieser Phalanx mit, von der man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, als ginge es ausgerechnet in dieser höchst existenziellen Frage um Krieg und Frieden darum, den Gestaltungsspielraum des demokratischen Souveräns einzuengen. Sönke Neitzel, Militärhistoriker von der Universität Potsdam und einer der gefragtesten Waffenlieferungsbefürworter im bundesdeutschen Ukraine-Krieg-Fernsehen hat den entsprechenden Mindset in der Talkshow von Anne Will am 22. Januar 2023 mit erstaunlicher Offenheit formuliert

Will: „Wenn 43 Prozent der Deutschen gegen die Lieferung schwerer Kampfpanzer sind, ist das nicht ein guter Grund für einen Bundeskanzler auch zu sagen, nein, diese Entscheidung wäge ich richtig sorgfältig ab?

Neitzel: „Also, meines Erachtens nicht. Denn ich würde immer sagen, es muss darum gehen, braucht die Ukraine diesen Panzer ja oder nein. Das ist das militärische Argument, und das müssen die Experten beantworten. Und wenn sie ihn braucht, dann sind wir verpflichtet das Ding zu liefern, dann kann man noch logistische Fragen klären. Und Politik muss das erklären.“

Neitzel entwickelt hier in den Grundzügen ein Herrschaftsmodell, dass man als eine expertokratisch angeleitete Volkspädagogik bezeichnen könnte. Völlig recht hat Neitzel im ersten Schritt: Welche militärischen Wirkungen die Lieferung von Waffengattung X auf den Verlauf eines Krieges haben, kann nicht einfach jeder gleich gut beurteilen – hierfür braucht es in der Tat Expertenwissen, das sich aus möglichst guten Datensätzen über die Effekte vergangener Waffenlieferungen in unterschiedlichen Kriegen speist. Kolossal daneben liegt Neitzel jedoch mit Schritt zwei und drei seiner Gedankenkette. Selbst wenn Experten (allerdings: Mit welcher Wahrscheinlichkeit? Und mit welchem Grad an Gewissheit?) feststellen, dass die Lieferung schwerer Waffen einen für die Ukraine günstigen Effekt auf den Kriegsverlauf haben sollte, obliegt die Entscheidung darüber, diesen Zweck auch für legitim, d. h. ihn für normativ angemessen bzw. ihn als Ausdruck einer je spezifisch verfolgten Vorstellung vom guten Leben zu befinden und ihn hinsichtlich seiner möglichen Nebenfolgen für unser Gemeinwesen zu bewerten, einzig und allein dem demokratischen Souverän. Und damit uns allen, die wir gemeinsam als Gleiche in einem möglichst freien Diskurs über die Ziele ringen, die wir in und mit unserem Gemeinwesen realisieren wollen.

„Zu diesem Diskurs jedoch kann ein Experte prinzipiell nicht mehr beitragen als jeder andere Bürger in diesem Land.“

Zu diesem Diskurs jedoch kann ein Experte prinzipiell nicht mehr beitragen als jeder andere Bürger in diesem Land. Neitzels Rekurs auf eine „Verpflichtung" bezieht sich denn auch auf nichts anderes als auf seine persönliche Auffassung, dass unter den von ihm beschriebenen Umständen eine Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine geboten sei. Denn eine Pflicht – also ein kategorisches Sollen – ist aus Wahrscheinlichkeitseinschätzungen bezüglich der Effekte der Panzerlieferungen prinzipiell nicht ableitbar. Es ist der Schluss von einem Sein (noch dazu eines Seins, das nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintritt) auf ein Sollen. Und ein solcher Schluss ist – dies wissen wir seit David Hume – nicht möglich, und schon gar nicht ist er in irgendeiner Form wissenschaftlich zu rechtfertigen.

In jenen liberal-demokratischen Gesellschaften, die angeblich in ihrer Gesamtheit gegen Russland verteidigt werden, gilt deshalb: Was eine Bevölkerung soll, ist zunächst einmal davon abhängig, was sie will. Und dieser Wille ist gerade kein homogener Block – der Westen –, sondern ein stets plural sich immer neu und nur zeitweise sich fixierendes Mosaik aus heterogenen Interessenlagen und Weltbildern und möglichst offenen Diskursen über diese Interessenlagen und Weltbilder. Liberalismus, Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit sichern genau diese plurale Mosaikhaftigkeit liberaler Demokratien. Gerade bei einem Krieg von der potentiellen, nämlich nuklearen, Tragweite wie dem in der Ukraine, ist es deshalb besonders fatal, der deutschen Bevölkerung, deren Wirtschaftsleistung es ermöglicht hat, dass bereits Waffen und militärische Hilfsgüter im Wert von knapp 8 Milliarden Euro an die Ukraine geliefert werden konnten und rund 1,5 Millionen Kriegsflüchtlinge aus dem geschundenen Land aufgenommen wurden, den Status eines passiven Rezipienten von mit Meinung vermischtem Expertenwissen zuzuweisen.

Der dritte Schritt von Neitzels Gedankenkette hat es noch einmal in sich. Denn der Politik als der Instanz, die in parlamentarischen Demokratien der Ausdruck des Willens des Souveräns ist, spricht Neitzel – in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine – lediglich die Rolle zu, das, was der Experte an Empfehlungen bereits vorformuliert hat, dem Volk zu „erklären“. Politik ist im Neitzelschen Verständnis – zumindest mit Blick auf die Waffenlieferungen an die Ukraine – also nicht mehr als der Transmissionsriemen zwischen dem überlegenen Wissen der Experten einerseits und dem Volk andererseits. Gründlicher kann man Menschen gar nicht „abhängen“ und der Bevölkerung das Empfinden geben, sie habe eigentlich – aller Sonntagsreden zum Trotz, wie sehr die Demokratie auf dem Engagement eines jeden einzelnen aufbaue – überhaupt nichts zu entscheiden. Kurz gesagt: Der Professor wünscht sich offenbar eine Welt, in der Kanzler Scholz den Erklärbären der Experten mimt. Von Platons Modell des Philosophenkönigs ist das nicht mehr weit entfernt, auch wenn Neitzel kurz nach der oben wiedergegebenen Passage noch hinzufügt, dass der Bundeskanzler die ihm von den Experten eingegebene Auffassung wenigstens noch „argumentativ vertreten“ müsse. Immerhin steckt in dem Neitzelschen Expertokratiemodell noch implizit der Bezug auf die grundsätzliche Vernünftigkeit der Bürger, die wenigstens noch überzeugt werden sollen.

Gleichwohl gilt: Effektiver als durch Neitzels Eintreten für die (über die Politik vermittelte) Herrschaft der Experten in der Frage des Umgangs mit dem Krieg in der Ukraine kann man gar nicht daran mitwirken, radikale Wissenschaftsleugnung und Vorbehalte gegenüber den Mainstream-Medien, die diese Meinungsungleichgewichte redaktionell zu vertreten haben, weiter salonfähig zu machen. Denn viele Bürger (vor allem im Osten Deutschlands) spüren intuitiv: „Warum sollte ich mir von dem seine Meinung aufdrücken lassen? Der vertritt halt völlig einseitig die Sichtweise der Nato.“ Und sie haben damit immerhin insofern Recht, als dass Neitzel für seine Bewertung – „Die Ukraine sollte schwere Waffen von westlichen Ländern erhalten“ – grundsätzlich keine Wissenschaftlichkeit beanspruchen kann. Und dann liegt natürlich der Schluss nahe, die Quelle dieser Anmaßung, nämlich das Pochen auf die unantastbar wirkende, jede Debatte abschneidende Wissenschaftlichkeit der eigenen Aussagen, fundamental in Frage zu stellen. Daraus entsteht dann eine Situation, in der auch Wissenschaft nur noch als „Meinung“ gilt, weil der Wissenschaftler hinsichtlich seines epistemischen Anspruchs so weit herabgestuft ist, dass er sich wieder auf Augenhöhe mit dem „einfachen“ Bürger – und dessen Meinung – befindet.

„Expertokratische Tendenzen in Krisenzeiten sind gleichsam ein Förderprogramm für die Ausbildung harter gesellschaftlicher ‚Lager‘, die sich nicht mehr um Sachthemen, sondern nur noch um Zugehörigkeiten streiten.“

„Wissenschaftsleugnung“ ist unter diesen Bedingungen ein Mittel, um wieder ein Gespräch auf eben jener gleichen Augenhöhe zu führen, von der uns Tag für Tag gesagt wird, dass sie für demokratische Gesellschaften konstitutiv ist. Dem demokratischen Souverän seinen wahrgenommenen Gestaltungsspielraum zu beschneiden, befördert in einer ansonsten freiheitlich organisierten Gesellschaft radikale Gegengruppierungen. Diese sehen sich nun zu einer ebenso undifferenzierten Glorifizierung von Putins Russland veranlasst, das man gleichzeitig als einen geopolitischen Partner im Kampf gegen eine „Wokeness" wahrnimmt, die in Gestalt von LGBTQ-Rechten angeblich traditionelle Familienwerte unterminiert. Expertokratische Tendenzen in Krisenzeiten sind gleichsam ein Förderprogramm für die Ausbildung harter gesellschaftlicher „Lager“, die sich nicht mehr um Sachthemen, sondern nur noch um Zugehörigkeiten streiten.

Dabei muss man gewiss kein Wissenschaftler sein, um die manifesten Widersprüchlichkeiten zu bemerken, die uns die Experten jeden Tag in der existentiellen Krise, in der sich Europa befindet, um die Ohren hauen. Inkonsistent und (trotz aller Expertise) höchst spekulativ geht es bei gängigen Narrativen zu einem möglichen, gleichwohl derzeit in weiter Ferne stehenden Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland zu. Die Politologin Claudia Major, eine der zentralen Verfechterinnen einer großkalibrigen militärischen Unterstützung der Ukraine und Beraterin der deutschen Bundesregierung in Sicherheitsfragen, vertrat in einer vom Spiegel veranstalteten Diskussion mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel am 1. Juni 2023 die Auffassung, dass über einen Frieden erst dann verhandelt werden kann, wenn Russland militärisch so weit geschwächt ist, dass es zu Verhandlungen bereit ist. Majors Position läuft, wie Merkel in dem Gespräch herausgearbeitet hat, auf zwei hoch riskante, aufeinander aufbauende Wetten hinaus:

  1. Die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegene Ukraine könne Russland tatsächlich nennenswert und dauerhaft so militärisch schwächen, dass sich die russische Armee aus den besetzten Gebieten im Donbass – und eventuell sogar von der Krim – zurückzieht.
  2. Eine militärische Schwächung der russischen Armee motiviert die russische Führung zur Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand – und dies auch noch, wie Major vorschlägt, „ohne Vorbedingungen“ – anstatt dazu, dass sich Putins Kalkül zum Einsatz der nuklearen Option verschiebt, um eine drohende Niederlage abzuwenden. 

Dass diese nicht nur von Major, sondern auch von vielen anderen Experten jeden Tag breitenwirksam verkündeten Wetten einen so viel annehmbareren und „sagbareren“ Kurs im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine als das Forcieren von diplomatischen Lösungen darstellen sollen, ist, gelinde gesagt, schlicht abwegig. Ausgerechnet an der entscheidenden Frage der Verhandlungen machte sich denn auch der entscheidende Widerspruch bei Major bemerkbar. So erklärte sie zwei Mal in Richtung Merkel, dass es sehr wohl Verhandlungen mit der russischen Führung gäbe, so etwa über das Getreideabkommen, das Atomkraftwerk in Saporischschja, die Gespräche Putins mit Macron und Scholz etc.). Im jeweils nächsten Satz behauptete sie jedoch ebenso emphatisch, dass Russland „kein Interesse" an Verhandlungen habe.

In diesem Widerspruch steckt die ganze Aporie der westlichen Reaktion auf Putins Überfall und die ihr innewohnende Eskalationsdynamik. Zwar bekunden in der Tat sowohl der ukrainische Präsident Selenskyj als auch der russische Ministerpräsident Medwedew, mit der jeweils anderen Seite nicht verhandeln zu wollen. Gleichzeitig jedoch wird die Verhandlungsbereitschaft von Selenskyj wesentlich davon abhängen, welche Position die westlichen Staaten, die den ukrainischen Staat, samt seiner militärischen Operationen, derzeit maßgeblich unterhalten, dazu einnehmen. Hier allerdings herrscht das auch von Major bemüht Dogma vor: Russland muss erst militärisch in die Knie gezwungen werden, bevor es verhandelt. (Worüber soll dann eigentlich noch verhandelt werden?) Auf diese Weise wird die ukrainische Führung jedoch geradezu dazu incentiviert, Verhandlungen ablehnen.

„Die Waffenlieferung des Westens befeuern die ablehnende Haltung der ukrainischen Führung gegenüber Verhandlungen; und die ausbleibenden Verhandlungen machen es notwendig, dass immer mehr und immer noch größere Waffen geliefert werden.“

In Gang gesetzt wird ein Teufelskreis: Die Waffenlieferung des Westens befeuern die ablehnende Haltung der ukrainischen Führung gegenüber Verhandlungen; und die ausbleibenden Verhandlungen machen es notwendig, dass immer mehr und immer noch größere Waffen geliefert werden. Für die russische Führung dürfte wiederum entscheidend sein, dass die USA eine maßgebliche Rolle in den Verhandlungen einnehmen, da aus ihrer Sicht die größte Macht in der Nato den eigentlichen Gegner des Konflikts bildet. Beide Dogmen – ein militärischer Sieg über Russland durch die Ukraine ist möglich und die USA haben mit dem Konflikt nichts zu tun – verstärken sich wechselseitig. Da der für Russland eigentliche Gegner in diesem Konflikt nicht manifest in Erscheinung tritt, können sich westliche Regierungen einreden, ihnen bliebe nur die Möglichkeit, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie Russland militärisch soweit schwächen könne, bis es schließlich „freiwillig“ an den Verhandlungstisch komme.

Löst man den Widerspruch von Majors Äußerung auf, scheint ein Ausweg auf: Wenn es so ist, dass es Verhandlungen gibt, in die die russische Seite involviert ist – und es ist so, wie Major es beschreibt –, dann ist eben faktisch das Tor auch für weiterreichende Verhandlungen über die „großen Fragen" (W. Merkel) bereits einen Spalt weit offen. Gerade dieses Tor wird jedoch beständig wieder verbal zugestoßen – durch einflussreiche Experten aus wissenschaftlichen „Think Tanks“, von Journalisten, die sehr früh und in einer erschreckend einheitlichen Weise einem sehr einseitigen Narrativ zum Krieg in der Ukraine gefolgt sind, von politischen Akteuren, bei denen anti-imperiale Beweggründe eine Liaison mit einer überkommenen Gegnerschaft gegen den ehemaligen Systemfeind einhergehen. Bei CDU/CSU scheint es nun so, als hätten sie es „immer schon gewusst“, dass eine Annäherung an Russland vor allem durch die sozialdemokratische Politik eines „Wandels durch Annäherung“ falsch war, während die Grünen, anschließend an die Diskussionen über die kolonialen Verbrechen des Westens, den Neo-Imperialismus Russlands verdammen.

Dass es letztlich eine normativ unterfütterte, sich mit den hegemonialen westlichen Machtformationen identifizierende Meinung ist, die hier vertreten wird, wird in dem Beitrag von Major deutlich: Gegen Ende des Gespräches mit Merkel nennt sie den zentralen Bezugspunkt ihrer Argumentation: „Wir" – Major spricht von Europa und Deutschland – hätten „ein fundamentales Interesse daran, dass eine freie und souveräne Ukraine besteht, weil es für uns eine der besten Sicherheitsvorsorgen ist.“ Majors „Sorge“ besteht darin, „dass wir in so ein Frozen-conflict-Szenario kommen, aber wir haben Interesse daran, dass er (der Krieg) nicht friert, sondern dass wir es auflösen.“ Denn: „In einem Europa, in dem Russland lernt, dass sich Kriegführen lohnt, mit nuklearer Erpressung verbunden, stehen wir sicherheitspolitisch schlechter dar.“

Die Waffenlieferungen ‚des Westens‘ sollen genau dies sicherstellen: Dass der Konflikt ein heißer Konflikt bleibt, weil ein eingefrorener Konflikt für Russland leichter beherrschbar ist – ähnlich wie in Georgien, wo Russland seit 2008 nach einem fünf Tage dauernden Krieg die Provinz Südossetien besetzt hält, nachdem Georgien beinahe den Status des Nato-Beitrittskandidaten erhalten hätte. Wäre das damals für die Ukraine der Fall gewesen, wie dies George W. Bush 2008 auf dem Nato-Gipfel in Bukarest durchdrücken wollte – Russland wäre zu dem Zeitpunkt bereits einmarschiert und tat genau dies wenige Monate später in Georgien.

Während Major einerseits beständig darauf pocht, dass „die Ukraine" (wer dort eigentlich: Selenskyj? Die breite Bevölkerung? Die Mütter, deren Söhne im Krieg sterben?) zu entscheiden habe, wie und in welchem Maße sie sich weiter verteidigt, wird andererseits deutlich, dass der Maßstab für die Lieferungen schwerer Waffen ein gehöriges Maß an Interessen impliziert, die nicht notwendigerweise auch im Sinne der Ukraine sind. Gewiss: Die ukrainischen Bürger möchten sich mehrheitlich gegen den Aggressor verteidigen, allerdings bleiben die exzessiven Waffenlieferungen westlicher Staaten gegenüber diesem Wunsch nicht neutral, sondern beeinflussen ihn selbst in einer Weise, die mit Forderungen der politischen Ethik konfligiert, auch als angegriffenes Land an einem Ausweg aus dem Konflikt im Sinne der Bürger dieses Landes mitzuwirken.

Der Krieg in der Ukraine wird so geführt, wie er geführt wird, weil dies – aus der Sicht von Major et al. – eben auch im Sinne des ‚Westens‘ ist. „Und so ein schlechter Krieg, in dem sich nicht so viel bewegt, davon profitiert Russland.“ Das heißt also im Umkehrschluss: Der Krieg in der Ukraine ist nur dann ein guter Krieg, wenn es dort beständig knallt und raucht – denn dann profitiere Russland nicht. Noch viel unverblümter hat es ein US-Diplomat gesagt: Der Westen werde sich gegen Russland bis zum letzten Ukrainer verteidigen.

Mitreden in Krisenzeiten

Der entscheidende Punkt ist: Ob die von hier von der Expertin geltend gemachten Interessen mit dem konform gehen, was der demokratische Souverän in seiner Gesamtheit im Diskurs entscheidet, kann von Experten als Experten keinesfalls präjudiziert werden. Dies gilt natürlich in derselben Weise auch für die akademisch bestallten Waffenlieferungsskeptiker, die wie der Politologe Wolfgang Merkel oder sein Bruder, der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel, für Verhandlungslösungen plädieren und dabei ebenfalls ihre persönliche Meinung nicht systematisch explizit machen. Es stünde sämtlichen Experten, die einen entscheidenden Einfluss auf die Sichtweisen vieler Menschen zu Krieg und Frieden haben, gut zu Gesicht, sich das bekannte Diktum des Soziologen Max Weber über den Schreibtisch zu hängen und es vor jedem Talkshow-Besuch noch einmal durchzulesen: „Die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Erkennen und Beurteilen und die Erfüllung sowohl der wissenschaftlichen Pflicht, die Wahrheit der Tatsachen zu sehen, als der praktischen, für die eigenen Ideale einzutreten, ist das, woran wir uns wieder stärker gewöhnen wollen.“6

Ein praktischer Vorschlag hierzu: In den reichweitenstarken Fernseh-Talkshows könnte die Problematik der Einkleidung von Meinung in den ehrfurchtgebietenden Schleier des Expertenwissens ganz einfach dadurch abgemildert werden, dass sich die geladenen Experten gemäß ihren beiden Rollen als Wissenschaftler und als Bürger physisch an jeweils unterschiedliche Orte im Studio begeben, wenn sie in der einen oder der anderen Rolle sprechen. „Auf dem blauen Stuhl sprechen Sie als Experte, auf dem grünen Stuhl als Bürger“, könnte eine Aufforderung lauten. Auch für die nächste Krise der öffentlichen Gesundheit wäre das im Übrigen anzuraten. Dem Phänomen der Delegitimierung von Expertenwissen könnte man dadurch sicherlich eher einen Teil seines Unterbodens entziehen als durch die x-te Auflage eines kontraproduktiven, rhetorisch-moralistischen Kampfes gegen „Verschwörungsideologen“, „Rechtspopulisten“ und „Putin-Versteher“.

Es spricht sehr sowohl für das politische Urteilsvermögen vieler Bürger als auch für die weitgehende Integrität einer auf den Austausch von kontroversen beruhenden liberalen Demokratie, dass die Zahl der Skeptiker gegenüber den Lieferungen von Kampfpanzern und Raketenwerfern nach wie vor hoch bleibt – und dies trotz der einseitigen Dauerbeschallung aus einer Front von ihre „Haltung" pflegenden Journalisten, Experten, die vorherrschenden Narrativen eine Relevanz und eine Reichweite verschaffen können, von denen der Otto Normalbürger mit seiner Meinung nur träumen kann, und Politikern, insbesondere von einer einstigen Pazifisten-Vorzeigepartei, die uns allen Ernstes weismachen wollen, dass die Lieferung schwerer Waffen in ein Kriegsgebiet, in dem noch dazu eine Atommacht mit einem angeblich „Verrückten“ an der Spitze agiert, Menschenleben rettet.

Richtig ist wohl vielmehr: Die Lieferung schwerer Waffen trägt unter den gegenwärtigen Bedingungen dazu bei, die Existenz des ukrainischen Staates zu erhalten, aber sie trägt durch die massive Verlängerung des Konflikts und die Reaktionen des russischen Angreifers sicherlich nicht dazu bei, „Menschenleben zu retten“. Letzteres klingt aber natürlich besser und so kann man seine Politik viel wirksamer, nämlich als moralisch unbedingt geboten, dem Wähler gegenüber verkaufen und Kritiker der Waffenlieferungspolitik dann auch noch als Unmenschen dastehen lassen, denen wohl ein Menschenleben nichts wert sei.

„Durch die potentiell nukleare Eskalationsdynamik ist von dem Krieg in der Ukraine ebenso potentiell die ganze Welt betroffen.“

Die viel gescholtenen Kommentare von waffenlieferungskritischen Intellektuellen wie Reinhard Merkel, Alice Schwarzer oder Jürgen Habermas, denen häufig vorgeworfen wurde, sie würden wohlfeile Ratschläge von der Seitenlinie erteilen und damit die Ukraine, die diesen grausamen Krieg schließlich zu kämpfen hat, bevormunden, haben in diesem Konflikt denn auch ihren höchst berechtigten Platz. Und zwar nicht nur deshalb, weil es in liberalen Demokratien stets wichtig ist, Alternativen zu Denkansätzen mit hegemonialen Ansprüchen wachzuhalten, sondern auch aus einem systematischen Grund: Durch die potentiell nukleare Eskalationsdynamik ist von dem Krieg in der Ukraine ebenso potentiell die ganze Welt betroffen. Deshalb kann und sollte bei diesem Konflikt eben auch – vom kongolesischen IT-Spezialisten über den südkoreanischen Bauern bis hin zum ostdeutschen Wutbürger – buchstäblich die ganze Welt mitreden.

Dass an dem Konflikt eben nicht nur der Aggressor Russland und – vor allem – die Ukraine beteiligt sind bzw.  in Mitleidenschaft gezogen werden, sondern sich die „Stakeholder" eines möglichen Friedens weit darüber hinaus anlagern, macht schließlich die für die Ernährung breiter Weltregionen eminent wichtigen Getreideausfuhr aus der Krisenregion, aber auch der durch den Krieg einsetzende Wohlstandsverlust in den westlichen Ländern allzu deutlich. Die Diffamierung von pluralen Kommentierungen zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist nichts weiter als der Versuch, den Status Quo der Lieferung schwerer Waffen zur nicht mehr hinterfragbaren Normalität zu erklären und diesen so gegenüber Kritik zu immunisieren.

Dass sich dezidierte Waffenlieferungsbefürworter wie Claudia Major sich dem konzentrierten Diskurs mit Andersdenkenden (wie Merkel) stellen, lässt auch an dieser Stelle hoffen, dass sich die Debatte in einer Weise weiter ausdifferenziert wie es im Fundament liberaler Demokratien bereits angelegt ist. In einem Konflikt mit einem nuklearen Eskalationspotential gibt es schlicht keine „Seitenlinie", und jeder sollte dieselbe Chance haben, sich in diesem Konflikt mit seiner Meinung hörbar zu machen, sofern er dies wünscht.

Der Putschversuch und die Bombe

Die Angst vor einem Atomkrieg ist angesichts der derzeitigen Weltlage eines gewiss nicht, nämlich irrational. Die in dieser Hinsicht bislang risikoreichste Phase des Krieges in der Ukraine hat begonnen, nachdem durch den abgebrochenen Putschversuch von Jewgeni Prigoschin, dem Anführer der Wagner-Gruppe, das mafiöse System Putin einen Riss bekommen hat, der auch nach außen hin weithin sichtbar geworden ist. Ein zunehmend auch innenpolitisch in die Enge getriebener Putin (und ihn militärisch in die Enge zu treiben, seine Armee soweit zu schwächen, dass sie das Feld räumt, ist das erklärte Ziel, das viele Waffenlieferungsexperten mit ihren Beratungen verbinden) könnte sich zu Handlungen mit kollektiv verheerender Wirkung gedrängt sehen. Der Einsatz einer taktischen Atomwaffe gehört dazu – und dies ausgerechnet gegen einen jener Staaten, die nach dem Ende der Sowjetunion die auf ihrem Gebiet stationierten Atomwaffen gegen Schutzgarantien der Russischen Föderation (sowie Großbritanniens und den USA) abgegeben haben.

Die nationale Einheit durch die ultimative Machtdemonstration, die mit einem Atomschlag einhergeht, wiederherzustellen, wird für Putin in Russland nun mehr ein Element seiner Gleichung aus geopolitischem Expansionsdrang, der Eindämmung westlichen Einflusses und innenpolitischem Zusammenhalt sein. Russische Sicherheitsfachleute diskutieren derzeit rege den Einsatz von Atomwaffen und seine möglichen Folgen. Zwischen einem Atomschlag auf die polnische Stadt Posen bis zur Warnung vor der nuklearen Hölle, die ein solcher Atomwaffeneinsatz zur Folge haben könnte, rangierten die bisherigen Beiträge. Derartige innerrussische Debatten, die sich im Gewand eben jener Pluralität zeigen, die den von Putin verachteten Westen mit seinen liberalen Demokratien auszeichnen, mögen ein Versuch sein, dem vom Glauben abgefallenen Westen wieder den Respekt vor der „Waffe Gottes“ – so der Putin-nahe Politologe Sergej Karaganow – einzuflößen. Der russischen Nukleardoktrin gemäß käme ein Einsatz von Atomwaffen unter anderem dann ins Spiel, wenn die „Existenz des (russischen) Staates“ bedroht sei.7 Es ist eine Auslegungssache, ob Putin zu dem Schluss käme, dass dieser Fall bereits dann vorläge, wenn etwa ukrainische Truppen versuchen würden, die Krim zurückzuerobern oder sich ukrainische Drohnen-Angriffe auf russisches Territorium häuften.

Die Wahrscheinlichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch die russische Führung scheint gleichwohl nach wie vor gering – auch wenn Medwedew vor dem Nato-Gipfel in Litauen am 11. und 12. Juli 2023 wie gewohnt von der Wahrscheinlichkeit eines „dritten Weltkrieges“ sprach, sollte der Westen seine Unterstützung der Ukraine fortsetzen und auch noch Sicherheitsgarantien für die Ukraine abgeben. Mit humanitären Gründen für einen Nicht-Einsatz der Atomwaffe wird man bei der russischen Führung zwar nicht rechnen können. Die militärischen Folgen eines Atomwaffeneinsatzes gehen aber sicherlich in Putins Kalkül ein – einschließlich der damit einhergehenden Gefahr für sein eigenes Leben. Putin wird jedoch auch wissen, welche Wirkung die Zündung einer Atombombe auf seine demoralisierte, schlecht ausgestattete Armee hätte, die sich am 24. Juni 2023 in Rostow am Don nicht gerade als Bollwerk gegen den Einmarsch der Wagner-Gruppe erwiesen hat.

Man darf eines nicht vergessen: Die Bilder, die selbst der begrenzte, taktische Einsatz einer Atomwaffe und seiner Folgen im Jahr 2023 in dem in Echtzeit global vernetzten Medienapparat produzieren würde, gliche einem Kaleidoskop der Apokalypse, angefüllt mit sämtlichen Einzelheiten eines Grauens, das sich der Renaissance-Maler Hieronymus Bosch in seinen berühmten Weltuntergangsszenerien nie hätte ausmalen können. Wenn Russland Atomwaffen zur Anwendung bringt, dann wird es wohl eine Aktion sein, mit der selbst die russische Führung keinen militärstrategischen Zugewinn mehr einplant, sondern ein Selbstmord-Kommando, für das die Bezeichnung „erweiterter Suizid“ ein haarsträubender Euphemismus wäre. Man kann nur hoffen, dass im Ernstfall auch seine eigenen Militärs Putin den Gehorsam verweigern werden und so eine globale Katastrophe verhindern.

Geopolitischer Kampf um Anerkennung

Mögen Hiroshima und Nagasaki auf immer die einzigen Städte bleiben, die den infernalischen Kräften der Atom-Explosion ausgeliefert waren. Die Atombombe anzustreben war in der weltgeschichtlichen Situation der Jahr 1939 bis 1945 aus der Perspektive der USA nahezu unvermeidlich: „Wenn wir es nicht tun, tut es ein anderer und dann sind wir schutzlos den Kräften dieser Waffe ausgeliefert“, lautete die Logik dieser Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen war allerdings die nukleare Ursünde des 20. Jahrhunderts. Selbst Putin kann hier kein „Tabu“ mehr brechen, weil es bereits von den USA gebrochen wurde – wenn auch bereits vor fast 80 Jahren. So hatten denn auch im Manhattan-Projekt viele Wissenschaftler – darunter Szilárd und Einstein – vor dem Einsatz von Atomwaffen gegen Japan gewarnt. Was Deutschland anging, hatte sich bereits 1942 herausgestellt, dass die Nazis aufgrund schlechter Organisation und Hitlers Kurzfristdenken in der Waffenentwicklung keine Atomwaffen produzieren konnten.8

Geschaffen wurde durch den Abwurf der Atomwaffen auf Japan ein monströser, utilitaristisch gerechtfertigter Präzedenzfall: Wenn eine militärische Situation so beschaffen ist, dass durch den Atomwaffeneinsatz wesentlich mehr Leid vermieden werden kann als durch den Einsatz produziert wird, dann kann dieser nun als quasi gerechtfertigt gelten. Die USA mit ihrem Atomwaffeneinsatz sind, sozialpsychologisch gesprochen, ein höchst ambivalentes Vorbild: Auf der einen Seite haben sie die verheerenden Konsequenzen der Bombe gezeigt und auf diese Weise vielleicht sogar die Gefahr eines Atomkrieges während des Kalten Krieges vermindert. Auf der anderen Seite haben die USA dafür gesorgt, dass sich andere Nationen auf ihre Abwürfe beziehen und so ihren möglichen eigenen Einsatz implizit legitimieren könnten.

Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ist und bleibt wegen des damit verbunden nuklearen Eskalationspotentials ein Vabanque-Spiel sondergleichen. Ein taktischer russischer Atomschlag würde wohl eine konventionelle Reaktion der USA, etwa die Vernichtung der russischen Schwarzmeerflotte, zur Folge haben – mit unabsehbaren Konsequenzen im weiteren Ereignisverlauf bis hin zu einem globalen thermonuklearen Krieg. Breit international koordinierte diplomatische Initiativen unter Einbindung der USA, dem eigentlichen Gegner Russlands in diesem Stellvertreterkrieg einer Supermacht gegen eine Möchtegern-Supermacht, sind deshalb dringlich angezeigt.

„Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ist und bleibt wegen des damit verbunden nuklearen Eskalationspotentials ein Vabanque-Spiel sondergleichen.“

Putin hat wiederholt von einer „Demütigung“ gesprochen, die der Westen – und hier insbesondere die USA – dem Nachfolger des Sowjetreichs zugefügt habe. Die Historikerin Ute Frevert spricht von einem „Demütigungssyndrom“, das die Dynamik zu den Kriegsursachen wesentlich mitbestimmte. Eine solche emotional grundierte Wahrnehmung ist angesichts des Auftretens der USA als Weltmacht Nummer 1, die sich häufig nicht an die von ihr selbst vertretenen Werte hält, zunächst einmal prima facie nachvollziehbar, wenngleich dadurch keineswegs die sich daraus ergebenden Handlungen der russischen Führung gerechtfertigt werden können.9 Es lässt sich der Schluss ziehen, dass der Konflikt nicht dauerhaft gelöst werden kann, solange dieser nicht manifest als das erscheint, was er latent ist – nämlich neben allen ökonomischen und geopolitischen Interessen auch ein „Kampf um Anerkennung“ (A. Honneth) zwischen zwei rivalisierenden Mächten.

Die Voraussetzungen dafür sind gegenwärtig denkbar ungünstig: Der ukrainische Präsident Selenskyj strebt eine Befreiung der von Russland besetzten Gebiete samt einer Rückeroberung der Krim sowie eine Nato-Mitgliedschaft an. Die Nato hat ihrerseits der Ukraine, wenngleich noch höchst unverbindlich, eine Einladung zur Aufnahme in Aussicht gestellt, sofern sie Fortschritte im Bereich der Korruptionsbekämpfung und der Interoperabilität ihrer Streitkräfte macht und der Krieg in ihrem Land beendet ist. Vor allem die US-amerikanische und die deutsche Seite hatten auf letztere Voraussetzung gedrungen, um eine direkte Konfrontation der Nato mit Russland zu vermeiden. Die russische Führung hingegen hat eine Teilung des Landes zwischen Russland und der EU ins Spiel gebracht – und ihre Forderungen mit der schon fast routinemäßigen und sich langsam abnützenden Warnung vor dem Armageddon untermauert.

Auch wenn somit die Aussichten auf Verhandlungen alles andere als günstig stehen, so lassen die bisherigen Waffenstillstandsinitiativen doch vorsichtig Hoffnung aufkeimen. Im Juni reisten hochrangige Vertreter und Staatschefs aus sieben afrikanischen Ländern in die Ukraine und nach Russland, um für eine Friedenslösung zu werben – in den aufeinanderfolgenden Gesprächen mit Selenskyj und Putin ging es vor allem um die Punkte Lebensmittelversorgung und Energiesicherheit. Seit Februar 2023 zeigt auch China Interesse an Friedensgesprächen. Präsident Xi Jinping betrachtet den Krieg in der Ukraine – auch vor dem Hintergrund der nuklearen Gefahr – mit großer Sorge, aber hält gleichwohl zu seinem Partner Putin. Im Mai und Juni 2023 reiste der chinesische Sondergesandte Li Hui, ehemaliger Botschafter in Moskau, in die Ukraine und durch Europa, um Verhandlungschancen zu eruieren. Im August 2023 trafen sich schließlich 42 Staaten in der saudi-arabischen Stadt Dschidda, um Möglichkeiten für einen Frieden auszuloten – darunter die Brics-Staaten, China und die USA – allerdings ohne Russland. Eine Abschlusserklärung gab es nicht.

„Die entscheidende Variable bei der Schaffung eines dauerhaften Friedens sind die USA.“

Die entscheidende Variable bei der Schaffung eines dauerhaften Friedens sind die USA. Zwar scheint ein gemeinsamer diplomatischer Vorstoß mit China höchst unwahrscheinlich, befinden sich die USA doch selbst mit China in einer äußerst spannungsreichen Rivalität, die sich derzeit im Konflikt um den Status der Insel Taiwan am sichtbarsten ausprägt und in der Affäre um chinesische Spionageballone über dem nordamerikanischen Kontinent zum Ausdruck kam. Aber auch in dieser Hinsicht findet sich ein Hauch Utopie im Schmutz der Realität, hat doch der US-amerikanische Außenminister Anthony Blinken dem chinesischen Präsident Xi Jinping im Juni 2023 einen Besuch abgestattet und damit einen hochrangigen Kontakt wiederbelebt, der seit 2018 eingefroren war. Im Juli traf Blinken in Jakarta schließlich auf den Spitzendiplomat Wang Yi und setzte den Austausch fort. Auch US-Präsident Biden und der chinesische Führer Xi Jinping trafen sich unlängst zum Gespräch, das außenpolitisch nun durch den Krieg in Nahost dominiert war.

Die größte Aussicht auf Erfolg hätte wohl die folgende Konstellation: Russland und die Ukraine verhandeln unter einer gemeinsamen Vermittlung der USA, der Europäischen Union, Brasilien, Indien und Südafrika und China über einen Waffenstillstand. Russland hätte in dieser Konstellation seinen „Seniorpartner“ China neben sich sowie seinen „Rivalen“ USA gegenüber, mit dem es sich gerne auf Augenhöhe bewegen würde. Die geschundene Ukraine hätte zwei „Partner“ an ihrer Seite (EU und USA). Für eine dauerhafte Lösung müsste der Konflikt genau die geopolitische Rahmung bekommen, die ihm objektiv auch zuzumessen ist – ansonsten kann auch weiterhin nur an den Symptomen herumgedoktert werden. Mit der russischen Führung initiiert die gegenwärtige US-Regierung jedoch deshalb keine Verhandlungen (zumindest keine öffentlich wahrnehmbaren), weil sie Putin nicht als Gleichen anerkennen will und mit einer Verhandlung unter ihrer Führung implizit die These vom Stellvertreterkrieg bestätigen würde. Putin bekäme so den Gegenspieler, von dem er selbst der Überzeugung ist, dass er sich auf Augenhöhe mit ihm befindet. Man kann mit Blick auf die US-Wahlen 2024 nur hoffen, dass eine andere Führung die Logik der Nichtanerkennung durchbricht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei um Donald Trump handeln könnte, ist beträchtlich. Aber die Welt bietet nun einmal nicht nur schwarz oder weiß, sondern viele, mitunter schmerzhaft auf das Auge wirkende Grautöne an.

Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Vagabundierende Atomwaffen, um die sich Warlords in einem zerfallenden russischen Staat streiten, sind das Letzte, was diese Welt braucht. Lassen wir es nicht dazu kommen, dass sich ausgerechnet eine moralistisch-ideologisch aufgeladene Politik, die die tieferen Ursachen eines Konflikts beständig in den Hintergrund drängt, um einem mächtigen Verbündeten zu gefallen, in etwas transformiert, von dem Überlebende vielleicht eines Tages sagen werden, es sei ein „Akt kollektiver Gewissenlosigkeit von schauerlicher Größe" gewesen.10

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