20.12.2021

Demokratie ohne Volk (3/3)

Von Alexander Horn

Titelbild

Foto: Santeri Viinamäki via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)

Durch die inflationäre Stigmatisierung unliebsamer Auffassungen als „Hass und Hetze“ kommt die Meinungsfreiheit unter die Räder. Dass Worte inzwischen als genauso schlimm gelten wie Taten, ist eine gefährliche Fehleinschätzung.

Denken und Meinen

Die Zweifel an der Demokratiefähigkeit des Gros der Bürger unterhöhlen nicht nur die Demokratie, sie legitimieren auch die Aushöhlung der Meinungsfreiheit. Die Redefreiheit ist jedoch, wie der britische Journalist Mick Hume in einer exzellenten Verteidigung von „Hassrede“ schreibt, „der mächtigste Faktor zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer zivilisierten Gesellschaft“, denn „ohne die Bereitschaft einiger, auf ihrem Recht zu bestehen, alles in Frage zu stellen und zu sagen, was sie für wahr halten“, würden wir vielleicht heute noch glauben, die Erde sei flach und Frauen würden kein Wahlrecht haben. 1

Immanuel Kant zeigte, dass fehlender Mut zum Selbstdenken, also mangelndes Vertrauen auf die eigene Vernunft, in die Unmündigkeit führe. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“, schrieb er 1784. 2 Frei zu denken erfordert auch, zu sagen und zu schreiben was man selbst für richtig hält. Und es geht darum die eigene Meinung auf die Probe zu stellen, indem anderen die Möglichkeit erhalten die eigenen Auffassungen zu hören, zu prüfen und zu kritisieren. Der radikaldemokratische Denker Thomas Paine, ein Revolutionär des 18. Jahrhunderts, schrieb in der Einführung zu „The Age of Reason“ von 1794, dass derjenige, der anderen die freie Meinungsäußerung verweigere, in selbstverschuldeter Unmündigkeit verharre: „Derjenige, der einem anderen dieses Recht verweigert, macht sich selbst zu einem Sklaven seiner Meinung, weil er sich selbst das Recht vorenthält, sie zu ändern.“ 3

Von diesem Standpunkt aus betrachtet wird die Wahrheit durch unabhängiges Denken der Bürger entdeckt, die in offenen Debatten voneinander lernen. In seiner eloquenten Verteidigung der Redefreiheit betont John Stuart Mill, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit sich nicht einfach gegen individuelle Menschen richten, denn dann wäre „die Verhinderung ihrer Ausübung nur eine private Beeinträchtigung“. Das „eigentliche Übel der Unterdrückung einer Meinung“ sei der „Raub an der Menschheit“. 4

„Die Zweifel an der Demokratiefähigkeit des Gros der Bürger unterhöhlen nicht nur die Demokratie, sie legitimieren auch die Aushöhlung der Meinungsfreiheit.“

Auch das deutsche Grundgesetz schützt, trotz einer Vielzahl von Einschränkungen, formal das Recht, eine Meinung frei und ungehindert zu äußern. Meinung gilt dabei als Aussage, der „ein Element der Stellungnahme“ und „des Dafürhaltens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung“ innewohnt, also ein subjektives Werturteil im Sinne von Stellungnahmen, Beurteilungen, Wertungen, Auffassungen. 5 Auch Meinungen, die der verfassungsmäßigen Ordnung zuwiderlaufen, werden durch die Meinungsfreiheit geschützt. Der Schutz der Meinungsfreiheit betrifft also auch Werturteile, die „extremistisch, rassistisch, antisemitisch oder in anderer Weise rechtswidrig oder menschenverachtend sind.“ 6

Diese so definierte Meinungsfreiheit ist durch die inflationäre Verwendung des Vorwurfs von „Hass und Hetze“ jedoch erheblich unter Druck geraten. Als „Hass und Hetze“ werden längst nicht mehr nur Tatbestände betrachtet, die strafrechtlich relevant sind. Denn die Bewertung, ob etwas als Hassrede gilt, erfolgt primär aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen. Hinzu kommt, dass sich zunehmend die Vorstellung durchsetzt, Sprache sei ein elementarer Bestandteil struktureller Dominanz und gesellschaftlicher Machtstrukturen.

Worte und Taten

Eine der wohl größten Bedrohungen der Meinungsfreiheit geht heute von der Vorstellung aus, Worte seien so schlimm wie Taten. Sie ist Ausdruck einer inzwischen kulturell verankerten und tief empfundenen emotionalen Verletzlichkeit. Wir scheinen vergessen zu haben, dass Meinungen, wie verletzend sie auch sein mögen, nur Worte sind. Sie können zwar mächtige Waffen sein, sie allein sind jedoch nicht in der Lage, die Realität zu verändern. Das können nur Taten. Worte sollten daher als das betrachtet werden, was sie sind und nicht als krimineller Akt. Wie hart und einflussreich Worte auch immer sein mögen, sie sind weder Messer noch Knüppel.

Um die Meinungsfreiheit gegenüber dem Vorwurf von „Hass und Hetze“ verteidigen zu können, muss unterschieden werden zwischen der Formulierung eines Gedankens, was als Redefreiheit zu schützen ist, also Meinungen, Ideen, Beschimpfungen, Beleidigungen, Witzen bis hin zu Feindseligkeit und Hass gegenüber politischen oder sozialen Gruppen und andererseits Worten, die Teil einer Handlung werden, also etwa die absichtliche Anstiftung oder Aufforderung zu Gewalt gegenüber Institutionen, Gruppen oder Individuen. 7 Um diesen Unterschied deutlich zu machen, sollten wir die Rhetorik von „Hass und Hetze“ komplett ablehnen. Wenn vom Kampf gegen „Hass und Hetze“ die Rede ist, sollte stets nachgefragt werden, worum es konkret geht. Was genau soll verhindert werden und warum?

„Wir scheinen vergessen zu haben, dass Meinungen, wie verletzend sie auch sein mögen, nur Worte sind.“

Die Gleichsetzung von Worten und Taten zerstört die Meinungsfreiheit und löst gesellschaftszersetzende Prozesse aus. Wohin dies führen kann, zeigte sich in der islamistischen Attacke auf die Macher des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. In den Augen ihrer Mörder verletzten die Journalisten mit der Publikation satirischer Mohammed-Abbildungen die Gefühle gläubiger Muslime. Indem sie Worte und Taten auf die gleiche Stufe stellten, konnten sie die Legitimität ihres Racheakts ableiten.

Noch bedrückender als die Mordtat war, dass viele Menschen zwar in Anbetracht der Ermordung das Recht auf Meinungsfreiheit verteidigten, gleichzeitig aber Verständnis dafür aufbrachten, dass Charlie Hebdos Gotteslästerung als „Hass und Hetze“ empfunden werden konnte. 8 Daher sei ein sensibler Umgang erforderlich, um die Gefühle der Betroffenen möglichst nicht zu verletzen. 9 Das jedoch ist das Ende von Meinungsfreiheit und ein Einfallstor für die Anwendung von Gewalt gegenüber allen, die zu Recht der Auffassung sind, dass Meinungsfreiheit auch für Hohn und Spott gelten muss.

Die leichtfertige Ächtung und Unterdrückung unliebsamer Auffassungen als „Hass und Hetze“ behindert die unabhängige Meinungsbildung aller Bürger. Meinungsfreiheit erfordert ein Höchstmaß an Toleranz. In diesem Sinn bedeutet Toleranz, jedwede politische Auffassung zuzulassen, auch wenn sie den eigenen Vorstellungen oder den vorherrschenden gesellschaftlichen Moral- und Wertmaßstäben widerspricht. Auch wenn sie einen abstößt und anwidert. Toleranz bedeutet jedoch nicht, diese Auffassungen mit respektvoller Gleichgültigkeit hinzunehmen gar zu akzeptieren, sondern sie schließt die Möglichkeit oder gar Pflicht ein, durch eigene Meinungsäußerung den als falsch empfunden Vorstellungen entgegenzutreten. 10 Toleranz ohne Widerspruch ist Gleichgültigkeit.

Indem wir Toleranz üben, ermöglichen wir, dass auch solche Meinungen sicht- und hörbar werden, die wir ablehnen. Die freie Artikulation ist sogar ausdrücklich zu begrüßen, denn nur dann können andere Idee und Argumentation verstehen, dieser zustimmen oder sie ablehnen sie dann selbst einer öffentlichen Kritik unterziehen. Das verlangt uns mehr ab als der einfache Weg der Diffamierung oder Unterdrückung durch Verbote. Aber es ist unabdingbar für mehr Freiheit durch Meinungsfreiheit und Demokratie.

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