08.09.2022

Pestizide, Bestäuber und Ernährungssicherheit

Von Jonas Kathage

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Foto: m_baecher via Pixabay / CC0

Pestizide sind keine Bedrohung für die Ernährungssicherheit – doch die EU-Kommission ist fixiert auf den Rückgang der Bestäuberpopulationen.

Ende Juni hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur verbindlichen EU-weiten Verringerung des Pestizideinsatzes vorgelegt. Der Vorschlag beinhaltet zwei konkrete Vorgaben:

  1. Eine 50-prozentige Verringerung der Verwendung chemischer Pflanzenschutzmittel und der von ihnen ausgehenden Risiken bis 2030 im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2015-2017 sowie
  2. eine 50-prozentige Verringerung der Verwendung „gefährlicherer" Pflanzenschutzmittel.

Der Kommission zufolge werden diese Reduzierungen dazu beitragen, „die Widerstandsfähigkeit und Sicherheit der Nahrungsmittelversorgung in der EU und weltweit zu gewährleisten." Mit anderen Worten: Die Lebensmittelsicherheit wird sich durch diese Reduzierungen verbessern. Schauen wir uns diese Logik einmal genauer an.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ginge es bei der Ernährungssicherheit darum, genügend Lebensmittel zu produzieren, die sich die Verbraucher leisten können. Die Lebensmittelpreise müssen also ausreichend niedrig und die Einkommen der Verbraucher ausreichend hoch sein. Pestizide tragen dazu bei, Nutzpflanzen vor Schädlingen und Krankheiten zu schützen, und verringern so die Ertragsverluste. Warum also sollte die Reduzierung von Pestiziden zu mehr Ernährungssicherheit führen?

Die EU-Kommission widerspricht sich selbst

Der von der Kommission vorgeschlagene kausale Zusammenhang geht über die Bestäubung: Nutzpflanzen benötigen Bestäubung, und Pestizide töten Bestäuber, so dass der Einsatz von Pestiziden zu Produktionsrückgängen führt (was wiederum zu Preissteigerungen und damit zu Ernährungsunsicherheit führt). Dass dies tatsächlich die Logik der Kommission ist, geht aus den Fragen und Antworten zu dem Vorschlag hervor:

„In landwirtschaftlichen Gebieten trägt der Einsatz einiger chemischer Pestizide zum Rückgang der Bestäuber bei, die für die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung notwendig sind. Mehr als 75 % der weltweiten Nahrungspflanzenkulturen sind auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen; 50 % der Landfläche, auf der von Bestäubern abhängige Nutzpflanzen angebaut werden, weisen ein Bestäubungsdefizit auf. EU-Agrarerzeugnisse im Wert von beinahe 15 Mrd. EUR jährlich sind in der EU direkt auf die Tätigkeit von Bestäuberinsekten zurückzuführen. 10% der Bienen- und Schmetterlingsarten in Europa sind vom Aussterben bedroht; 33% verzeichnen einen Rückgang. [...]“

„Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass das Aussterben von Bestäubern zu einem dramatischen Produktionsverlust führen wird, der zu einem massiven Anstieg der Lebensmittelpreise führen würde. Dieser Vorschlag soll das vermeiden und die Landwirte in die Lage versetzen, weiterhin erschwingliche Lebensmittel für die Bürger bereitstellen zu können.“  

In der Pressemitteilung heißt es:

„Diese Vorschläge werden die Widerstandsfähigkeit und Ernährungssicherheit Europas auf mittlere Sicht stärken, weil Bestäuberpopulationen gesünder und größer werden [....]

weltweit sind mehr als 75 % der Nahrungsmittelpflanzenarten auf Bestäuber angewiesen.“

Einige dieser Behauptungen wurden auch von Kommissionsvizepräsident Timmermans in seiner Rede angeführt:

„Schauen Sie auf die Bestäuber - jeder dritte ist im Rückgang begriffen, obwohl 80 % unserer Nutzpflanzen von ihnen abhängen. [...]

Denken Sie nur an die Bienen, Schmetterlinge und andere Bestäuber, die unsere Pflanzen zum Wachsen brauchen.“

Und Kommissarin Kyriakides fügt hinzu:

„Tatsächlich ist es doch ganz einfach: Ohne diese Maßnahmen riskieren wir den Zusammenbruch von Bestäubern und Ökosystemen, was sich noch stärker auf die Ernährungssicherheit und die Lebensmittelpreise auswirken wird.

In einem vor kurzem geführten Interview sagte Timmermans:

„Wir verlieren die Bestäuber so schnell. Das ist eine größere Bedrohung für unsere langfristige Ernährungssicherheit als der Konflikt in der Ukraine, denn 75 Prozent der wichtigsten Nahrungspflanzen hängen von der Bestäubung durch Tiere ab. 5 Milliarden Euro pro Jahr hängen in Europa direkt von der Bestäubung durch Tiere ab.“

(Lassen wir einmal außer Acht, dass weder die Zahlen noch das, worauf sie sich beziehen, im Interview, in der Rede und in der Pressemitteilung nicht übereinstimmen.)

Vielleicht enthält ja der Verordnungsvorschlag selbst Belege für die nachteiligen Auswirkungen von Pestiziden auf die Ernährungssicherheit? Das Gegenteil ist der Fall:

„Im Rahmen der bevorzugten Option steigen die Herstellungskosten je Produktionseinheit aufgrund

i) strengerer und ausführlicherer Aufzeichnungspflichten,

ii) des erwarteten Rückgangs der Erträge infolge einer geringeren Verwendung von Pestiziden,

iii) zusätzlicher Kosten für jene beruflichen Verwender, die bislang keine Beratungsdienste beanspruchen.

Dieser Vorschlag sieht vor, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der GAP (gemeinsamen Agrarpolitik) Unterstützung leisten können, um für einen Zeitraum von fünf Jahren die Kosten zu decken, die den Landwirten durch die Erfüllung aller rechtlichen Anforderungen dieses Vorschlags entstehen. Dadurch soll verhindert werden, dass die Lebensmittelpreise aufgrund neuer aus diesem Vorschlag hervorgehender Verpflichtungen steigen. Viele hier enthaltene Bestimmungen existieren bereits im Rahmen der Richtlinie über die nachhaltige Verwendung von Pestiziden und dürften sich daher nicht auf die Lebensmittelpreise oder die Ernteerträge auswirken. Die mit diesem Vorschlag eingeführten Änderungen werden schrittweise erfolgen, sodass die Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit weiter minimiert werden.“

(Seite 13, Hervorhebung J.K.)

Das klingt ganz anders als die Presseerklärungen der Kommission und die Worte von Timmermans. Im Text des Vorschlags räumt die Kommission ein, dass die Erträge sinken könnten. Es ist auch bezeichnend, dass viele der in diesem Vorschlag enthaltenen Bestimmungen bereits im Rahmen der Richtlinie über die nachhaltige Verwendung von Pestiziden aus dem Jahr 2009 bestanden. Der Text enthält keinen Hinweis auf positive Auswirkungen der vorgeschlagenen Kürzungen auf die Ernährungssicherheit. Im besten Fall, so scheint es, werden die Kürzungen keine Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit haben. Im schlimmsten Fall werden sie die Ernährungssicherheit verringern.

Der eigentliche Text des Vorschlags widerspricht also bereits dem dramatischen Gerede der Kommissarin über den bevorstehenden Zusammenbruch (falls nicht eine strengere Regulierung der Pestizide durch die EU erfolgt).

Schauen wir uns die Folgenabschätzung und das dazugehörige Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen (SWD) an. Im SWD können wir endlich die Quellen für einige der von der Kommission angeführten Zahlen ausfindig machen (S. 15 des SWD):

„Schätzungen zufolge sind 75% der weltweit angebauten Nahrungspflanzen von tierischer Bestäubung abhängig, und 50% der Anbauflächen in der EU, auf denen Pflanzen angebaut werden, die von Bestäubern abhängig sind, weisen ein Bestäubungsdefizit auf.“

Der zur Stütze dieses Satzes zitierte Bericht der Gemeinsamen Forschungsstelle der Kommission (GFS) über die Bewertung von Ökosystemleistungen (Maes et al., 2020) enthält mehrere interessante Informationen über die „Ökosystemleistung" der Bestäubung in der EU (Kapitel 5.3.4):

  • Bemerkenswert ist, dass der Bericht die Bestäubung als die Übertragung von Pflanzenpollen durch Wildbienen definiert. Damit wird die (domestizierte) Honigbiene, der bei weitem wichtigste Bestäuber für die Landwirtschaft, ausgeschlossen.
  • Der Bericht geht davon aus, dass in Gebieten, in denen Wildbienen vorkommen (Bestäubungspotenzial) und in denen gleichzeitig bestäuberabhängige Kulturpflanzen angebaut werden, diese Wildbienen tatsächlich zur Steigerung der Pflanzenproduktion beitragen (wie viel, wird nicht gesagt). Flächen mit solchen Kulturen, die für Wildbienen ungeeignet sind,  werden als solche mit „ungedecktem Bedarf" gezählt - das Konzept, auf das sich die 50-Prozent-Zahl in der Pressemitteilung der Kommission bezieht.
  • Der Bericht schätzt, dass der „ungedeckte Bedarf" im betrachteten Zeitraum (2000-2012) nicht gestiegen ist. Mit anderen Worten: Die Bestäubung durch Wildbienen ist im Laufe dieses Jahrzehnts nicht zurückgegangen.

Die gesamte Bewertung der Bestäubungsleistung ist mit massiven Daten- und Beweislücken behaftet, worauf der Bericht mehrfach hinweist.

Aha. Diese Zahl von 50 Prozent sagt also nicht viel über den Zustand der Bestäubung in der EU aus, weil sie 1) nur Wildbienen berücksichtigt und 2) nicht berücksichtigt, wie stark die Erträge der Kulturpflanzen in diesen Gebieten von den Bestäubern abhängen (mehr dazu weiter unten). Und auch die Analyse der GFS stützt nicht Timmermans' Panikmache in Sachen Pestizide und Bestäubersterben.

In der Folgenabschätzung  heißt es, dass die Verringerung des Pestizideinsatzes wahrscheinlich zu einem Produktionsrückgang führen wird. Die Autoren sind nicht zuversichtlich, was alternative Technologien (Pflanzeneffizienz, Biopestizide und neue Züchtungstechnologien) angeht, die die negativen Auswirkungen der Pestizidreduzierung abmildern könnten (IA, S. 178):

„Insgesamt erscheint es unwahrscheinlich, dass die Einführung und Übernahme dieser landwirtschaftlichen Technologien in dem Tempo erfolgen wird, das erforderlich wäre, um Ertragseinbußen infolge eines verringerten Pestizideinsatzes selbst in der Ausgangssituation zu vermeiden, es sei denn, es wird eine starke regulatorische Unterstützung eingeführt, einschließlich wirtschaftlicher Subventionen zum Abbau von Investitionshindernissen.“

Und bei den Verbraucherpreisen rechnet die Folgenabschätzung mit einem Anstieg (S. 202), der allerdings mit Unsicherheiten behaftet ist. Davon hat uns Timmermans nichts gesagt!

Die fehlerhafte Argumentation der Kommission

Wie dem auch sei, es geht mir darum, auf einige der schwerwiegenden methodischen Defizite in den Presseerklärungen der Kommission hinzuweisen. Sehen wir uns den oben angeführten Q&A-Text einmal genauer an:

„In landwirtschaftlichen Gebieten trägt der Einsatz einiger chemischer Pestizide zum Rückgang der Bestäuber bei, die für die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung notwendig sind.“

Das klingt dramatisch. Aber wie groß ist der Rückgang der Bestäuber, den die Pestizide verursachen? Wer sind diese Bestäuber, die für die Ernährung der Weltbevölkerung notwendig sind? Der wichtigste Bestäuber für die Landwirtschaft, die domestizierte Honigbiene, ist in Europa sicherlich nicht im Rückgang begriffen.

„Mehr als 75% der weltweiten Nahrungspflanzensorten sind auf die Bestäubung durch Tiere angewiesen;“

Nun gut, aber 60 Prozent der weltweiten landwirtschaftlichen Produktion stammt von Pflanzen, die nicht von tierischer Bestäubung abhängig sind. Und von den 35 Prozent der Produktion, die auf Pflanzen entfallen, die von Bestäubern „abhängig" sind, sind keineswegs 100 Prozent des Ertrags auf die Bestäubung durch Tiere zurückzuführen. (Bei Sojabohnen, Raps und Sonnenblumen beispielsweise beträgt die Abhängigkeit von der Bestäubung nur 25 Prozent. Bei Hülsenfrüchten, Tomaten und Zitrusfrüchten sind es nur 5 Prozent. Am höchsten ist sie bei Äpfeln, Birnen und Pfirsichen (65 Prozent) und einigen anderen Früchten (40 Prozent). Die wichtigen Getreidearten, die in der EU angebaut werden, sind überhaupt nicht von Bestäubern abhängig. Es ist also unredlich, ohne nähere Erläuterung von „abhängig" zu sprechen. Diese Zahlen stammen aus einem anderen JRC-Bericht (Vallecillo et al., 2018), der dem Bestäubungskapitel im JRC-Bericht 2020 (Maes et. al, 2020) zugrunde liegt. Im Bericht 2018 werden Klein et al. (2007) als Quelle für diese Zahlen genannt, aber dort sind sie nicht zu finden. Alles, was Klein et al. (2007) zu liefern scheinen (Suppl. Material 2), sind Spannen von Produktionsrückgängen ohne Bestäuber. Zur Kategorie „Bestäubung essenziell wichtig" mit einem Rückgang von mehr als 90 Prozent ohne Bestäuber gehören nur Wassermelone, Cantaloupe/Melone, Kürbis/Zuchini und eine Handvoll eher exotischer Früchte und Nüsse. Bei Melonen und Kürbis/Zuchini ist die Honigbiene der wichtigste Bestäuber - wie auch bei vielen anderen bestäubungsabhängigen Kulturen.)

„Ich habe noch keine glaubwürdige und realistische Studie gesehen, die eine Kausalkette vom regulären Pestizideinsatz über den massiven Rückgang der Bestäuber bis hin zu erheblichen Ernteverlusten nachweist."

„50% der Landfläche, auf der von Bestäubern abhängige Nutzpflanzen angebaut werden, weisen ein Bestäubungsdefizit auf.“

Wie groß ist dieses Defizit? Über welchen Prozentsatz an Ertragsverlusten sprechen wir? Der zugrundeliegende GFS-Bericht deutet außerdem darauf hin, dass dieses Defizit relativ stabil geblieben ist, während das „bereits" im Kommissionstext darauf hindeutet, dass sich die Bestäubungssituation verschlechtert habe.“

„EU-Agrarerzeugnisse im Wert von beinahe 15 Mrd. EUR jährlich sind in der EU direkt auf die Tätigkeit von Bestäuberinsekten zurückzuführen.“

Und wo sind die Anzeichen dafür, dass die Bestäubung durch Tiere infolge des (fortgesetzten) Einsatzes von Pestiziden vollständig verschwunden ist? Ich habe noch keine glaubwürdige und realistische Studie gesehen, die eine Kausalkette vom regulären Pestizideinsatz über den massiven Rückgang der Bestäuber bis hin zu erheblichen Ernteverlusten nachweist.

„10% der Bienen- und Schmetterlingsarten in Europa sind vom Aussterben bedroht; 33% verzeichnen einen Rückgang.“

Haben diese rückläufigen Bienen- und Schmetterlingsarten jemals einen bedeutenden Anteil an der Bestäubung von Nutzpflanzen geleistet? Eine 2015 veröffentlichte Studie hat ergeben, dass 80 Prozent der Bestäubung von Nutzpflanzen durch 2 Prozent der Bienenarten erfolgt. Und die Arten, die am meisten zur Bestäubung beitragen, treten regional häufig auf und sind nicht bedroht.

„Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass das Aussterben von Bestäubern zu einem dramatischen Produktionsverlust führen wird, der zu einem massiven Anstieg der Lebensmittelpreise führen würde.“

Doch weder zeigt die Wissenschaft, dass wir auch nur in die Nähe eines völligen Zusammenbruchs der Bestäuber kommen, noch zeigt sie, dass die Lebensmittelpreise bei einem völligen (und völlig hypothetischen) Verschwinden der Bestäuber um ein Vielfaches steigen würden.

Fazit

In den Pressemitteilungen der Kommission wird der Eindruck erweckt, dass die vorgeschlagene Verringerung des Pestizideinsatzes die Ernährungssicherheit erhöhen wird. Diese Ansicht wird jedoch durch die eigene Folgenabschätzung der Kommission nicht gestützt, die nicht nur weitaus höhere Unsicherheiten aufzeigt, sondern auch eine Verringerung der landwirtschaftlichen Produktion prognostiziert (in Übereinstimmung mit anderen neueren Analysen der F2F- und Biodiversitätsstrategien) – und eine Verringerung der landwirtschaftlichen Produktion würde die Ernährungssicherheit sicherlich nicht erhöhen, sondern vielmehr verringern.

Ein genauerer Blick auf den behaupteten Kausalmechanismus offenbart, dass die Pressemitteilungen der Kommission und des Vizepräsidenten die Risiken, die Pestizide für Bestäuber darstellen, und die Vorteile, die (wilde) Bestäuber für die Pflanzenproduktion (und damit für die Ernährungssicherheit) mit sich bringen, maßlos übertreiben. Sie tun dies, indem sie Zahlen ohne die gebotenen Präzisierungen zitieren, den Kontext auslassen und jeden positiven Beitrag von Pestiziden zur Nahrungsmittelproduktion abtun, was eine äußerst verzerrte Darstellung der Realität hervorbringt.

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