09.08.2017

Nieder mit diesem bonapartistischen Regime

Analyse von Brendan O’Neill

Titelbild

Foto: Carlos Diaz via Wikimedia Commons / CC BY 2.0

Die Venezolaner brauchen keine Predigten, sondern Solidarität.

Die katastrophale Situation in Venezuela verdeutlicht die Gefahren, die es mit sich bringt, wenn Westler fremde Staaten als Projektionsfläche für die eigene Sinnsuche missbrauchen. Die nationale Tragödie Venezuelas dient sowohl den Machthabern der westlichen Welt als auch der vermeintlich radikalen Linken als Plattform für ihre persönliche Selbstdarstellung. Erstere wollen ihre politische Standfestigkeit demonstrieren und sich als entschlossene und aufgeklärte Anführer darstellen, indem sie ein zunehmend diktatorisches ausländisches Regime verurteilen. Teile der westlichen Linken weigern sich hingegen, das abscheuliche System Maduros zu verurteilen, weil sie eine vermeintlich „sozialistische“ Alternative zum westlichen Neoliberalismus stützen wollen. Ihr Bedürfnis nach einem lebendigen Beweis für die Umsetzbarkeit ihrer politischen Vorstellungen macht sie blind gegenüber Maduros Verbrechen gegen die Demokratie. Beide Seiten behandeln Venezuela nicht wie eine Nation, deren Lage analysiert werden muss oder deren Bürger Solidarität benötigen, sondern als persönliche Projektionsfläche, durch die sie sich selbst etwas beweisen können.

Was gerade in Venezuela passiert, sollte alle Menschen beunruhigen, denen Freiheit und Demokratie etwas bedeuteten – insbesondere Linke, für die es in der Politik immer darum gehen sollte, die persönliche Autonomie auszuweiten. Seit Jahren schon nehmen in Venezuela die Spannungen zu. In den letzten Monaten gab es unzählige Straßenkämpfe zwischen Demonstranten und den Schergen von Nicolas Maduro, der 2013 Hugo Chavez als Staatspräsident ablöste.

„Die demokratischen Rechte und die Meinungsfreiheit der Venezolaner werden durch eine Regierung erdrosselt, die um jeden Preis an der Macht bleiben will.“

Vier Jahre lang regierte Maduro fast ausschließlich per Dekret. Wirtschaftliche Einbußen, Lebensmittel- und Medikamentenknappheiten und Angriffe auf die Unabhängigkeit der Legislative haben seine Zustimmungswerte auf rund 20 Prozent gedrückt. Vor anderthalb Wochen verstärkte sich die Unzufriedenheit, als Maduro Wahlen für eine neue verfassungsgebende Nationalversammlung abhielt. Das provisorische Zweitparlament kann die Verfassung ändern, Beamte kündigen oder neue Parlamentswahlen verhindern. Da die Opposition die Wahl boykottierte, ist die Versammlung mit Anhängern Maduros gefüllt. Es wird erwartet, dass sie den Justizminister sowie Teile der Legislative entlässt, die der Opposition angehören. Theoretisch könnte sie anstehende Wahlen auf Eis legen, in denen die Prognosen für Maduro und seine politische Maschinerie schlecht stehen.

Am Sonntag, dem Tag der Wahlen, gingen Tausende auf die Straßen, um ihren Widerstand auszudrücken. Zehn Menschen wurden ermordet. Maduros Leute sprachen von einer Wahlbeteiligung von 41,5 Prozent, was schon sehr gering ist; die Opposition spricht sogar von 88 Prozent, die den Wahlen fernblieben. Dass Maduro jetzt sehr wahrscheinlich die Versammlung nutzen wird, um seine Macht auszubauen und Rechtsstaat und Opposition einzuschränken, passt zu seinen allgemeinen autokratischen Tendenzen. Schon lange beklagt Maduro, dass Journalisten einen „Medienkrieg“ gegen ihn führen. Der Präsident hat Notstandgesetze genutzt, um ohne Zustimmung des Kongresses die Zensur einzuführen. Unter anderem wurden oppositionelle Online-Fernsehsender geschlossen. In den letzten Tagen wurden außerdem Anführer der Opposition verhaftet. Es ergibt sich ein düsteres Bild: Die demokratischen Rechte und die Meinungsfreiheit der Venezolaner werden durch eine Regierung erdrosselt, die um jeden Preis an der Macht bleiben will.

Die Antwort westlicher Beobachter auf diese Ereignisse war vollkommen nutzlos. Vielleicht verschlimmert sie sogar die politische Lage in Venezuela – entweder durch Verschleierung der tatsächlichen Umstände oder durch moralistische Schwarzweißmalerei. Teile der westlichen Linken haben sich ziemlich ruhmlos verhalten. Zu viele sagten gar nichts oder sympathisierten sogar mit Maduros Machtzentralisierung. Nachdem sie bereits die Regierung von Hugo Chavez als Beweis für den Weiterbestand des „Sozialismus“ feierten, widerstrebt es ihnen nun, die Nachfolgerregierung zu verurteilen.

„Maduro hat absolut gar nichts mit Sozialismus zu tun. Seine Regierung ist ein bonapartistisches Regime, wovon Lateinamerika viele gehabt hat.“

Sie verkennen dabei, dass Maduro absolut gar nichts mit Sozialismus zu tun hat. Seine Regierung ist ein bonapartistisches Regime, wovon Lateinamerika viele gehabt hat. Marxisten sprechen von „Bonapartismus“, wenn politische Führer ein Kräftegleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat ausnutzen, um an die Macht zu kommen. Der bonapartistische Stil kommt meistens dann auf, wenn die kapitalistische Klasse zu schwach ist, in ihrem eigenen Namen die Macht zu übernehmen, und wenn die ebenfalls geschwächte und führerlose Arbeiterklasse nicht dazu in der Lage ist, diese Situation auszunutzen. In „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ beschreibt Marx, wie Louis Bonaparte, Neffe von Napoleon, nach der Niederlage der Arbeiterklasse in den europäischen Revolutionen von 1848 die Macht in Frankreich auf dem Rücken der unteren Schichten ergriff. In einer Situation, in der die Arbeiterklasse geschlagen und die europäische Bourgeoisie, wie Marx es ausdrückte, „ruiniert“ war, gelang es Louis Bonaparte, sich als jemand darzustellen, der über den Klassenkämpfen steht. Er konnte die Macht ergreifen, indem er sich auf eine „unbestimmte, zerfallene Masse“ – die Armen und die Unzufriedenen – berief.

Lateinamerika hat schon viele Formen des Bonapartismus erlebt – von Perons Herrschaft in den 1940er Jahren in Argentinien bis zu Allende im Chile der 1970er Jahre. Der Chavez-/Maduro-Stil ist bizarrer als diese Systeme und steht ökonomisch und moralisch auf viel wackligeren Beinen. Man verlässt sich auf Öleinnahmen, um den Wohlstand etwas umzuverteilen. Ernsthafte ökonomische Ambitionen sind jedoch nicht erkennbar. Trotzdem gibt es in der westlichen Linken immer noch viele, die es nicht fertigbringen, die Herrscher in Venezuela zu verurteilen. Als Chavez noch an der Macht war, machten sie Venezuela zu ihrem Herz in einer herzlosen Welt, zu einem strahlenden Beispiel von „Sozialismus“, an dem sie sich festklammern konnten, während George W. Bush Amerika regierte und die alten linken Parteien in der westlichen Welt immer mehr an Bedeutung verloren.

Die von den Arbeitern in ihrem Heimatländern verschmähten westlichen Linken schwelgten im scheinbaren Exotismus und Radikalismus von Chavez Venezuela. Das Land wurde zu einem moralischen Zufluchtsort für eine Linke, die ideenlos und zunehmend von ihren eigenen Landsleuten entfremdet war. So konnten oder wollten sie nicht die Schattenseiten von Chavez erkennen, die die Basis für das politische System Maduros schufen. Einige Vertreter der Linken sprechen sich gegen Kritik am venezolanischen Regime aus. Manche sagen sogar, wir müssten Maduro beistehen und die Revolution verteidigen. Welche Revolution? Die Vorstellung eines „sozialistischen Venezuelas“ ist nicht nur wahnhaft. Sie bedeutet auch, dass die Menschen in Venezuela zu einer unfreien, undemokratischen Zukunft verurteilt werden.

„Die Vorstellung eines ‚sozialistischen Venezuelas‘ ist nicht nur wahnhaft. Sie bedeutet auch, dass die Menschen in Venezuela zu einer unfreien, undemokratischen Zukunft verurteilt werden.“

Aber die Anführer westlicher Nationen tragen genauso wenig zu einer Lösung bei. Ihr Drang, Venezuela zu isolieren, Sanktionen zu verhängen und mit noch härteren Maßnahmen zu drohen, falls sich nichts ändert, könnte einen fürchterlichen Effekt haben. Ein solches Vorgehen würde die nationale Tragödie Venezuelas immer weiter internationalisieren. Das könnte ausgerechnet die Initiative derjenigen schwächen, die vor Ort gegen das Regime protestieren.

Menschen, denen die venezolanische Demokratie am Herzen liegt, müssen die Auffassung in Frage stellen, dass externe Mächte entscheiden sollten, wie und wann die Demokratie wiederhergestellt wird. Diese Vorstellung ist ein Widerspruch in sich. Eine weitere Isolation des venezolanischen Regimes könnte Maduros hartes Vorgehen gegen die Opposition verstärken und eine demokratische Lösung erschweren. Die Erfahrung zeigt uns, dass unüberlegte, angeberische Interventionen in die Angelegenheiten fremder Staaten – ob ökonomisch oder militärisch – nur die Spaltungen vertiefen und die Spannungen verstärken.

Venezuela ist nicht euer Spielplatz! Das Land ist nicht die Verkörperung eurer „sozialistischen“ Träume oder ein Schurkenstaat, den ihr verurteilen könnt, um euch selbst aufzuwerten. Venezuela ist ein echtes Land, mit echten Menschen, die leiden. Sie brauchen keine wahnhaften oder martialischen Reden von Außenstehenden, sondern Solidarität.

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