31.10.2018

„Identitätspolitik ist eine fundamental anti-westliche Idee“

Interview mit Jordan Peterson

Titelbild

Foto: Ben Tavener via Flickr / CC BY 2.0

Der kanadische Psychologe, Autor und Kulturkritiker Jordan Peterson erlangte Bekanntheit als Kritiker eines Gesetzes über Transgender-Rechte. Er sieht darin einen Angriff auf die Meinungsfreiheit.

Sie erregten 2016 sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit wegen Ihres Widerstandes gegen das kanadische Gesetz „Bill C-16“. In mehreren YouTube-Videos sprachen Sie sich gegen den Entwurf aus. Inzwischen wurde das Gesetz vom kanadischen Parlament verabschiedet. Um was geht es bei der „Bill C-16“ genau und was kritisieren Sie daran?

Jordan Peterson: Mit der „Bill C-16“ werden Geschlechtsidentität und -ausdruck (engl. gender identity and gender expression) durch eine Ergänzung in der kanadischen Menschenrechtserklärung geschützt. Gerichte können zukünftig härtere Urteile fällen, wenn bewiesen werden kann, dass ein Verbrechen durch Vorurteile gegen diese Gruppen motiviert war. Das erscheint mir unschlüssig, da man Menschen, die einen ähnlichen Geschlechtsausdruck teilen, nicht als homogene Gruppe kategorisieren kann. Durch das Gesetz werden die kanadischen Bürger gezwungen, solche Pronomen zu verwenden, die sogenannte nicht-binäre Menschen – also Menschen, die sich selbst weder als Mann oder Frau wahrnehmen – festgelegt haben. Wenn man die erwünschten Pronomen nicht verwendet, drohen einem hohe Strafen. Ich habe Bedenken gegen das Gesetz geäußert, weil ich dadurch meine Redefreiheit bedroht sehe und weil es meiner Meinung nach sehr gefährlich ist, solche Dinge gesetzlich vorzuschreiben. Mir erschloss sich nicht ganz, weshalb meine Äußerungen so viel Aufsehen erregt haben. Es lag wohl daran, dass ich mir ganz entschieden nicht den Mund verbieten lassen wollte. Mir ist mein Recht, frei reden zu können, sehr wichtig. Ich wollte es nicht beschränken lassen, ganz gleich, was passiert.

Daneben finde ich es problematisch, dass wir jetzt nur eine einzelne Sichtweise auf menschliche Identität im Gesetz stehen haben – insbesondere, was sexuelle Identität anbelangt. Die „Bill C-16“ legt fest, dass das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, der Geschlechtsausdruck und die sexuelle Orientierung unabhängig voneinander variieren. Das tun sie aber nicht. Der Gesetzgeber diktiert damit, dass sexuelle Unterschiede ausschließlich das Ergebnis unterschiedlicher Sozialisierung oder individueller Entscheidungen sind. Biologische Faktoren spielen keine Rolle. Solch eine Sichtweise gesetzlich zu verankern, ist höchst bedenklich. Ich denke, dieses Gesetz wurde nur deshalb verabschiedet, weil jene Ideologen, die an so etwas glauben, die intellektuelle Auseinandersetzung längst verloren haben.

„Menschen müssen weiterhin ohne große Denkanstrengung reden und schreiben können.“

Die „Bill C-16“ kann also die Redefreiheit einschränken, indem Menschen gezwungen werden, das Pronomen zu benutzen, das vom Gegenüber bevorzugt wird. Dabei wurde auch oft der Bezug zur Transgendergemeinschaft hergestellt. Warum ist die Redefreiheit wichtiger als das Pronomen, mit dem bestimmte Geschlechtsgruppen angesprochen werden wollen?

Bei meinem Einspruch gegen das Gesetz ging es nicht um die Frage, wie man mit Transsexuellen umgehen sollte. Mein Problem war einzig und allein, dass es absolut keinen Grund gab, das Recht auf Meinungsfreiheit in diesem Kontext einzuschränken. Es ist brandgefährlich, wenn der Staat reguliert, was gesagt werden darf und was nicht. Es wurde bisher kein wirklich vergleichbares Urteil zu diesem Thema gefällt. Es ist ein schlimmer Präzedenzfall. Wie die bevorzugten Pronomen in der Praxis gebraucht werden sollen, ist dabei noch eine offene Frage. Bisher hat niemand einen vernünftigen Vorschlag vorgelegt.

Menschen müssen weiterhin ohne große Denkanstrengung reden und schreiben können. Auch das Verfassen von verständlichen, widerspruchsfreien Dokumenten wird durch die Verwendung von geschlechtsneutralen Pronomen zur Herkulesaufgabe. Es gibt über 70 weitere Pronomen zur Kennzeichnung verschiedener „Geschlechteridentitäten“. Fügt man diese auch noch hinzu, kommt es zur vollkommenen Verwirrung. Letztlich sind Pronomen Teil einer linguistischen Kategorie, die gegenüber Veränderung außerordentlich resistent ist. Gewisse linguistische Kategorien verändern ihre Form und ihren Inhalt schnell. Aber Pronomen ändern sich nicht.

Obwohl Sie ein Verfechter der Redefreiheit sind, wurden Sie als transphob, Rassist und Rechtsextremer bezeichnet. Es gab sogar Forderungen nach Ihrer Entlassung. Wie kam es zu diesen Reaktionen?

Ich habe linksradikale Gruppierungen verärgert. Sie warfen mir Beschimpfungen an den Kopf, die sie normalerweise nur für Anhänger der radikal rechten Szene rausholen. Aber es stellte sich heraus, dass ich kein Rechtsextremer bin. Nur weil man die radikale Linke angreift, heißt das noch lange nicht, dass man rechtsextrem ist. Ideologen neigen dazu, den Ruf einer Person beschädigen zu wollen, anstatt ihn direkt mit Argumenten zu konfrontieren.

„Die Linke ist ständig auf der Suche nach vermeintlichen Tätern.“

Viele der sogenannten „Social Justice Warriors“ argumentieren folgendermaßen: „Als schwarzer Mann, schwarze Frau etc. bin ich der Auffassung, dass …“. Durch solche Aussagen signalisieren sie, zu einer bestimmten „Opfergruppe“ zu gehören, und erhoffen sich so Glaubwürdigkeit. Manche dunkelhäutige Aktivisten wollen es Weißen sogar verbieten, über „schwarze Themen“ zu sprechen, weil sie sich nicht in das Leben eines Dunkelhäutigen hineinversetzen könnten. Was denken Sie darüber?

Hier zeigt sich ein gefährliches Problem innerhalb der radikalen Linken: Das Fundament ihrer Ideologie ist das Denken in Gruppenkategorien. Die radikale Linke betreibt Identitätspolitik. Sie wollen, dass man sich über seine Gruppenzugehörigkeit definiert. Dies ist eine fundamental anti-westliche Idee. Denn die Grundlage des Westens ist die Vorstellung, dass wir uns über unsere Individualität definieren. Man muss damit nicht einverstanden sein und kann sich natürlich auch über eine Gruppenzugehörigkeit definieren. Dann gibt es aber einige begriffliche Schwierigkeiten. Erstens, welche Gruppe? Das ist ein großes Problem, weil es immer mehr Gruppen gibt. Ist es das Geschlecht, die Geschlechtsidentität oder der Geschlechtsausdruck, über den man sich definiert? Oder doch Rasse, Intelligenz, Persönlichkeit, Hautfarbe, Ethnie oder Sprache? Man gehört immer zu vielen verschiedenen Gruppen. Das wird sehr schnell problematisch. Auch deshalb muss sich die Linke seit einer Weile mit dem Problem der Intersektionalität herumschlagen – also der Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen in einer Person. Und es gibt noch ein anderes Problem. Wenn zunehmend Menschen ihre Hautfarbe als bestimmende Identität wählen, bekommen Fragen der ethnischen Zugehörigkeit wieder stärkeres Gewicht. So können wir aktuell beobachten, wie sich die radikale Rechte in Amerika die radikale Linke zum Vorbild nimmt und selbst anfängt, identitätspolitisch zu argumentieren.

Sind aber manche Gruppen nicht tatsächlich Opfer von Diskriminierung?

Das Leben ist nicht leicht. Menschen werden von allen Seiten her bedrängt. Wir sind alle sowohl Opfer und Profiteure der Vergangenheit. Unsere Biologie macht uns zu verletzlichen Wesen. Das irdische Leben ist hart und die Gesellschaft ist tyrannisch. Die Frage ist nur, was man dagegen tut. Die Antwort ist nicht, sich als Opfer zu sehen, nach Tätern Ausschau zu halten und die eigene moralische Überlegenheit zu suggerieren. Opfersein ist ein kindlicher Zustand. Opfer sind nach Definition durch Fremdverschulden benachteiligt. Wenn das so ist, kann man den Schuldigen aufspüren und ihn dafür bestrafen. Die Linke ist ständig auf der Suche nach vermeintlichen Tätern. Ein enormer Teil ihrer Motivation besteht darin, Kategorien entmenschlichter Personen zu kreieren, an denen man sich rächen kann. So manifestiert sich das Ressentiment. Ich habe Studien zu den Ursachen für Genozide mit ein paar meiner Studenten durchgeführt. Es zeigte sich klar, dass die Täter des Genozids sich selbst anfänglich fast immer als Opfer aufgefasst hatten. Dieses ganze Spiel ist also höchst gefährlich.

Sie kritisieren den Postmodernismus als die ideologische Rechtfertigung für die Identitätspolitik und den Opferkult. Wie meinen Sie das genau?

Die Postmodernisten fanden heraus, dass es eine sehr große Anzahl an Vorgehensweisen gibt, um eine sehr kleine Anzahl an Phänomenen zu interpretieren: Man kann Hamlet auf vielfältige Weise interpretieren. Aus der Existenz dieser unzähligen Interpretationsstrategien ziehen sie den Schluss, dass es so gut wie unmöglich sei, deren Wert oder Nützlichkeit hierarchisch zu ordnen. Daraus leitet sich die These ab, wonach letztlich vor allem die Mächtigen entscheiden, welche Interpretation richtig und welche falsch ist. Beim ersten Teil (es gibt unzählige Interpretationsansätze) liegen sie richtig. Beim zweiten Teil jedoch liegen sie falsch: Dass es viele Interpretationswege gibt, heißt noch lange nicht, dass es auch viele gültige Interpretationen gibt. Wenn man Hamlet als Aufforderung zum Suizid interpretiert, würde ich das als ungültige Interpretation bezeichnen. Sicher könnte man auch für diese Interpretation Argumente finden. Die Frage ist aber, was eine gültige Interpretation ausmacht. Die postmoderne Antwort darauf lautet: Es gibt keine gültigen Interpretationen, sondern nur Ansprüche auf Macht. Das halte ich letztlich für eine absurde Behauptung.

„Weiß Gott, was die Linke heute genau treibt. Soweit ich das beurteilen kann, ist es fast alles destruktiv.“

Im 19. und 20. Jahrhundert wurzelte die Linke in der aufklärerischen Vorstellung der Möglichkeit des Universalismus. Doch weite Teile der heutigen identitätspolitischen Linken lehnen nicht nur den Universalismus ab, sondern auch Meinungsfreiheit und sogar die Aufklärung. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?

Ich habe mich in den 1970er-Jahren bei den demokratischen Sozialisten engagiert. Die sorgten sich wirklich um die Arbeiterklasse und ihre Not – zumindest taten das die Besseren unter ihnen. Weiß Gott, was die Linke heute genau treibt. Soweit ich das beurteilen kann, ist es fast alles destruktiv. Das, was einem auch oft von Frauenforschern zu Ohren kommt: „Das Patriarchat ist korrupt, es muss niedergerissen werden!“. Da muss ich entgegnen: „Aha, das ist also euer Ziel, Dinge niederzureißen? Ihr wollt den Westen niederreißen? Die freieste, reichste und prächtigste Gesellschaft, die je existiert hat? Und durch was wollt ihr sie ersetzen? Durch utopische Visionen des 20. Jahrhunderts oder die Schurkenherrschaft, die im Rest der Welt das Sagen hat?“

Ein Beispiel, wozu diese destruktive Haltung führen kann, ist der Fall von Lindsey Shepherd. Sie ist Tutorin an der Wilfrid-Laurier-Universität in Kanada. An der Uni zeigte sie ein Video des kanadischen Staatsfernsehens, in dem ein Professor namens Nicholas Matte und ich uns zum Thema „Bill C-16“ äußerten. Shepherd wurde deswegen vor einen universitären Untersuchungsausschuss gezerrt. Die Anklage: Sie habe gegen Provinz- und Bundesgesetze verstoßen. Man warf ihr vor, transphob zu sein, kürzte ihre Lehraufträge und regelte alles hinter verschlossener Tür. Aber Lindsey Shepherd nahm das Gespräch heimlich auf und veröffentlichte es. Es ist der größte Skandal, den es an einer kanadischen Universität je gegeben hat. Und das ist nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen könnte. Und wir wissen ganz genau, wie das aussehen könnte. Wir haben sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums schon Erfahrung mit Meinungszensur gesammelt. Wir täten alle gut daran, uns dafür einzusetzen, dass sich derartige Erfahrungen nicht wiederholen.

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