02.06.2021

Der illiberale Antirassismus der Rassenbewussten

Von Coleman Cruz Hughes

Titelbild

Foto: rawpixel via Pixabay / CC0

Martin Luther King stand für die Überwindung von Rassenschranken. Heute wird von vielen Antirassisten, ausgehend von den USA, das Trennende betont. So geraten Freiheitsrechte in Gefahr.

Über das gesamte politische Spektrum in den USA hinweg besteht weitestgehende Einigkeit, dass Rassismus von Übel ist. Dennoch gibt es nach wie vor starke Meinungsverschiedenheiten nicht nur darüber, was als Rassismus gilt, sondern auch darüber, wie man ihn bekämpfen kann. Da diese Meinungsverschiedenheiten typischerweise als Kampf um die Mittel – d.h. wie man Rassismus am besten bekämpft – dargestellt werden, kann leicht übersehen werden, dass es um eine tiefere Frage geht: Was ist das Ziel im gegenseitigen Umgang von Menschen unterschiedlicher Ethnie in den USA?

Seit 50 Jahren ist die US-amerikanische Linke zwischen zwei verschiedenen Antworten hin- und hergerissen. Die erste wurde am besten von Martin Luther King Jr. in seiner berühmten „I Have a Dream“-Rede zusammengefasst. King freute sich auf einen Tag, an dem „kleine schwarze Jungen und schwarze Mädchen kleinen weißen Jungen und weißen Mädchen als Schwestern und Brüder die Hand reichen können“ – einen Tag, an dem Hautfarbe zum unbedeutenden Attribut wird.

Die konkurrierende Vision – nennen wir sie „rassenbewusst“ – hat am klarsten die Black-Power-Bewegung verkörpert. Ziel dieser Bewegung war nicht, wie King es einmal formulierte, eine „neue Art von Zusammengehörigkeit zwischen Schwarzen und Weißen“ herbeizuführen. Vielmehr bestand es in der Forderung, dass Schwarze, verstanden als Kollektiv, mehr Anerkennung, mehr Respekt und mehr Ressourcen erhalten. Dieser Vision lag die Annahme zugrunde, dass die Gesellschaft ein Nullsummen-Machtkampf zwischen unterdrückten Gruppen und Unterdrückergruppen darstellt – und dass ein Sieg für die Ersteren einen Verlust für die Letzteren voraussetzt.

Rassenobsession

In der rassenbewussten Vision ist die Harmonie der Ethnien ein nachrangiger Gedanke. Zuweilen wird sie aktiv gemieden. Das Rassenbewusstsein versucht, die Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen auf vielfältige Weise zu „problematisieren“. So veröffentlichte die New York Times 2017 einen Beitrag mit dem Titel „Können meine Kinder mit Weißen befreundet sein?“ 1, verfasst von einem schwarzen Vater, der seinen Söhnen beibringen wollte, „grundsätzlich anzuzweifeln, dass eine Freundschaft mit Weißen möglich ist“ – eine nahezu perfekte Umkehrung der Botschaft Dr. Kings.

„Das Rassenbewusstsein versucht, die Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen auf vielfältige Weise zu ‚problematisieren‘.“

Schwarzen scheint das Rassenbewusstsein mehr Status und mehr Zugang zu Chancen zu versprechen. Weißen verspricht es eine Möglichkeit, auf Schuldgefühle wegen ihrer (echten oder eingebildeten) Mitschuld an den Sünden der Vergangenheit Amerikas zu reagieren, anstatt einfach nur darüber zu brüten. Für die Nation als Ganze scheint es Lösungen für anhaltende Probleme wie Masseninhaftierung und Polizeibrutalität zu versprechen.

Doch das Rassenbewusstsein kann seine Versprechen nicht einhalten, weil seine Grundannahmen fehlerhaft sind. Zum einen werden die starren alten Rassenkategorien weniger abgelehnt als vielmehr umgewandelt, um sie durch die Hintertür hereinzuschmuggeln. Wenn vor 100 Jahren jemand gesagt hat, dass schwarze Kinder nicht zu harter Arbeit ermutigt werden sollten, dann wahrscheinlich, weil er Rassist war. 2 Wenn heute jemand dasselbe sagt, dann mit ziemlicher Sicherheit, weil er „Antirassist“ ist. Kein politisches Programm, das für Schwarze auf niedrigeren Standards besteht, wird jedoch je in der Lage sein, die Leistungen von Schwarzen auf den gleichen, abgelehnten Standard zu heben – und wird sich daher sehr schwer tun, die Rassendisparität zu bekämpfen.

Noch grundlegender: Das Rassenbewusstsein diagnostiziert die Probleme, mit denen die US-amerikanische Gesellschaft konfrontiert ist, falsch und verschreibt deshalb die falschen Therapien. Die Konzentration auf die Wahl schwarzer (oder im weiteren Sinne „farbiger“) Politiker ist dafür ein Beispiel. Als Freddie Gray 2015 in Polizeigewahrsam starb, waren fast alle Amtsträger, die zur Rechenschaft gezogen werden könnten – der Polizeichef, der Bürgermeister, der Staatsanwalt und der Präsident – schwarz. Städte wie Atlanta und Detroit, die fünf oder sechs schwarze Bürgermeister in Folge hatten, stehen alle vor den gleichen Problemen wie Städte mit überwiegend weißer Führung. Wie Bernie Sanders vor nicht allzu langer Zeit bemerkte: Sich für die Hautfarbe der Politiker zu interessieren statt für ihre politischen Vorstellungen und Qualifikationen ist genauso verquer, wie es sich anhört.

Ein weiteres Beispiel dafür, dass Rassenbewusstsein zu merkwürdigen und wenig hilfreichen politischen Vorstößen führt: Während der Vorwahlen zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten im Jahr 2020 schlugen drei verschiedene Kandidaten – Kamala Harris, Elizabeth Warren und Pete Buttigieg – Wohnungsbauideen vor, die den Menschen, die in ehemals durch das sogenannte Redlining als Schwarzenviertel markierten Vierteln leben, besondere Ressourcen zukommen lassen würden, wie zum Beispiel Unterstützung bei Anzahlungen. Der Gedanke dabei war, dass die Menschen, die derzeit in diesen Vierteln leben, dort durch einen Kreislauf der generationenübergreifenden Armut gefangen gewesen sein müssten, der seine Wurzeln in der rassistischen Wohnungspolitik von Mitte des 20. Jahrhunderts hat. Eine Analyse von Brookings 3 ergab jedoch, dass unter den elf Millionen Amerikanern, die in ehemals durch Redlining markierten Vierteln leben, mehr Weiße als Schwarze sind. Da rassenbewusster Antirassismus ritualisiert bemerkt, wie die Gegenwart der Vergangenheit ähnelt, kann er am Ende blind für die vielen Unterschiede zwischen Gegenwart und Vergangenheit sein.

„Städte wie Atlanta und Detroit, die fünf oder sechs schwarze Bürgermeister in Folge hatten, stehen alle vor den gleichen Problemen wie Städte mit überwiegend weißer Führung.“

Wohin wird ein solcher rassenbewusster Antirassismus auf lange Sicht führen? Wir könnten einen Hinweis aus der Arbeit der Vordenker innerhalb der Bewegung erhalten. Denken wir an Ibram X. Kendi, den Bestsellerautor von „How to Be an Antiracist“, der eine Verfassungsänderung vorgeschlagen hat, die tatsächlichen Autoritarismus ermöglichen würde. 4 Ich verwende dieses Wort nicht leichtfertig: In Kendis idealer Welt gäbe es ein Ministerium für Antirassismus, das verfassungsmäßig befugt wäre, Privatunternehmen zu überprüfen, jede lokale, bundesstaatliche oder bundesweite Politik abzulehnen, von der angenommen wird, dass sie zur Rassenungleichheit beiträgt, und Beamte zu disziplinieren, „die ihre rassistische Politik und ihre rassistischen Vorstellungen nicht freiwillig ändern“. Was als rassistische Vorstellung gilt, würde natürlich von einem Gremium, das aus Experten wie Kendi bestünde, bestimmt.

Liberaler vs. illiberaler Antirassismus

Glücklicherweise würden derzeit nur sehr wenige diesem Vorschlag Kendis zustimmen. Aber es ist dennoch ein nützliches Dokument: Es fasst genau zusammen, was erforderlich wäre, um die Welt zu erreichen, die sich die heutigen rassenbewussten Antirassisten wünschen. Eine Bewegung, die jedes rassendisparate Ergebnis als Ausdruck von White Supremacy definiert, wird unweigerlich zu einer Politik neigen, die versucht, solche Ungleichheiten durch willkürliche Maßnahmen zu beheben – und das Recht des Einzelnen zum Teufel jagen. Wenn es z.B. als rassistisch angesehen wird, dass asiatische US-Amerikaner in den Elite-High-Schools von New York City (die Schüler auf der Grundlage eines einzelnen Tests annehmen) bei weitem überrepräsentiert sind, dann können asiatisch-amerikanische Bewerber diskriminiert werden, um diese Ungleichheit zu beseitigen. Das Recht des einzelnen Schülers, nicht aufgrund seiner Ethnie diskriminiert zu werden, würde für das vermeintlich höhere Wohl ignoriert.

Die Frage ist nicht, ob ein Vorschlag wie der Kendis genug Unterstützung erhalten könnte, um heute umfassend umgesetzt zu werden; das könnte er nicht. Die Frage ist folgende: Wenn Kendis Vorschlag in, sagen wir, 50 Jahren in den politischen Mainstream eintritt, gibt es dann eine robuste, liberale antirassistische Bewegung, die eine Alternative bietet? Oder werden liberale Prinzipien – wie die individuellen Rechte und die Meinungsfreiheit – so gründlich stigmatisiert worden sein, dass Vorschläge wie die Kendis denjenigen, denen die Bekämpfung des Rassismus am Herzen liegt, als einzig gangbare Option erscheinen werden?

Schriftsteller wie Ibram X. Kendi und Robin DiAngelo haben mit Erfolg die Deutungshoheit über den Begriff „antirassistisch“ erlangt. Viele Menschen, die über ihren Illiberalismus entsetzt sind, sind daher versucht, das Etikett „antirassistisch“ aufzugeben. Das wäre ein Fehler – denn es liegt an uns, ob sich der Antirassismus weiterhin in eine illiberale Richtung bewegt.

„Eine Bewegung, die jedes rassendisparate Ergebnis als Ausdruck von White Supremacy definiert, wird unweigerlich zu einer Politik neigen, die versucht, solche Ungleichheiten durch willkürliche Maßnahmen zu beheben.“

Amerika hat eine lange Tradition des liberalen Antirassismus, die bis zu Martin Luther King, A. Philip Randolph, Bayard Rustin, Frederick Douglass und darüber hinaus zurückreicht. Es ist ein Antirassismus, der auf der Idee gründet, dass es eine einzige menschliche Rasse gibt, zu der wir alle gehören – und dass all die Abgrenzungen voneinander, so wichtig sie zum Verständnis unserer gegenwärtigen Realität sein mögen, kein moralisches Gewicht erhalten sollten. Das ist das Prinzip, das letztlich die Sklaverei und Jim Crow besiegt hat – und es ist das Prinzip, das heute wiederbelebt werden sollte.

Heute sind viele der Meinung, dass dieses Prinzip genau den Status quo darstellt, von dem wir abweichen müssen, um Fortschritte zu erzielen. Das Ziel, über die Rasse hinauszukommen, ist aus dieser Sicht genau das, was uns daran gehindert hat, die rassenbewusste Politik umzusetzen, die die Rassenungleichheit sinnvoll angehen würde. Damit wird jedoch unterschätzt, wie viele Fortschritte wir bereits gemacht haben. In den frühen 1970er Jahren töteten New Yorker Polizisten 91 Menschen in einem einzigen Jahr. 5 Im Jahr 2018 töteten sie fünf. Seit 2001 hat sich die Rate der inhaftierten schwarzen Männer zwischen 18 und 29 Jahren US-weit um mehr als die Hälfte gesenkt. 6

Die meisten wissen das nicht. Folglich bilden sie sich ein, dass das System umgestürzt werden muss, damit Fortschritte erzielt werden können. Aber obwohl es natürlich in den heutigen USA immer noch viele Ungerechtigkeiten gibt, irren sie sich. Das gegenwärtige System, mit all seinen Schwächen, hat den Schwarzen in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte ermöglicht. Ein Umsturz der liberalen Prinzipien, auf denen unsere Institutionen basieren, würde den Fortschritt in Richtung Rassengleichheit nicht beschleunigen; er würde genau die Stabilität gefährden, die für einen schrittweisen Fortschritt erforderlich ist.

Es ist an der Zeit, Martin Luther Kings Traum für die Rassenbeziehungen in Amerika wieder aufleben zu lassen – einen Traum, der vor den Ungerechtigkeiten, die wir noch überwinden müssen, nicht zurückschreckt und beharrlich an der Überzeugung festhält, dass das, was wir gemein haben, letztlich wichtiger ist als das, was uns trennt. Wir müssen dieses Prinzip verteidigen, selbst wenn es unpopulär ist und diejenigen die Augen rollen lässt, die meinen, sie hätten würdigere Prinzipien gefunden. Unsere Fähigkeit, Rassenungerechtigkeit zu beheben, hängt davon ab.

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