21.02.2014

Der Mythos vom Determinismus der „frühen Jahre“

Kommentar von Helene Guldberg

Die Behauptung der Bindungstheorie und der Neurowissenschaft, der menschliche Charakter sei ab dem dritten Lebensjahr wie in Stein gemeißelt, ist falsch. Letztlich reagieren alle Menschen auf gleiche Stimuli unterschiedlich.

Die Vorstellung, dass Erfahrungen als Kleinkind bei der Bestimmung, wer wir sind, wichtiger sind als spätere Erfahrungen, dominiert politische Debatten auf beiden Seiten des Atlantiks. Anfang des Jahres hat beispielsweise US-Präsident Barack Obama behauptet, dass „die ersten Jahren im Leben eines Kindes – wenn sich das menschliche Gehirn ausbildet – ein entscheidend wichtiges Zeitfenster darstellen, um die Möglichkeiten des Kindes zu entwickeln“.

In Großbritannien glauben alle größeren politischen Parteien, dass wir erklären können, wer wir als Erwachsene sind, indem man auf die Art und Weise der Betreuung schaut, die wir in der frühen Kindheit erhalten haben. In der Politikgestaltung herrscht Einigkeit darüber, dass der Staat – möglichst früh – in das Familienleben einzugreifen hat, um inkompetente Eltern zu identifizieren und zu „unterstützen“.

Der Bericht des britischen Bildungsministeriums 2013 Conception to Age Two – The Age of Opportunity empfiehlt folgendes: Die vor- wie nachgeburtliche Pflege sollte sich auch auf die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind konzentrieren und nicht nur auf die Entbindung und die körperliche Gesundheit des Babys. Die kommunalen Gesundheitsbeauftragten sollen werdenden Müttern zwei Gespräche anbieten, um die Beschaffenheit ihrer Bindung zum Kind zu beurteilen. Und eine weitere Bewertung des „Bindungsverhaltens“ wird den Eltern angeboten, von denen man annimmt, dass sie Schwierigkeiten damit haben, eine Bindung zu ihrem Kind herzustellen.

„In der Politikgestaltung herrscht Einigkeit darüber, dass der Staat – möglichst früh – in das Familienleben einzugreifen hat, um inkompetente Eltern zu identifizieren und zu ‚unterstützen‘.“

Die Verpflichtung der liberal-konservativen Regierung zum frühen Eingreifen wurde bereits 2011 im Dokument Supporting Families in the Foundation Years ausformuliert. Der Begriff „Basisjahre“ wurde ausdrücklich übernommen – wie vom Labour-Abgeordneten Frank Field empfohlen –, weil „die körperliche, emotionale, sprachliche und kognitive Entwicklung eines Kindes von der Schwangerschaft bis zum Alter von fünf Jahren die Grundlagen für den Rest des Lebens legt“.

In Großbritannien Eltern zu sein, ist ähnlich wie Baumeister zu sein. Wenn die richtige Sorgfalt und Aufmerksamkeit nicht der Herstellung eines soliden Fundaments gewidmet werden, ist es egal, wie viele Anstrengungen in den Rest des Gebäudes gesteckt werden: Das Bauwerk wird nicht sicher sein. Gleiches gilt, wenn Eltern sich während der „Basisjahre“ nicht richtig verhalten. Die Fähigkeit des Kindes, zu wachsen und zu gedeihen, wird dauerhaft geschwächt sein.

Ist es aber wirklich der Fall, dass Erfahrungen in der frühen Kindheit einen bestimmenden Einfluss auf den Rest unseres Lebens haben? Ist die Qualität der elterlichen Interaktionen so wichtig, dass sie erklären kann, zu was für einen Erwachsenen sich das Baby entwickelt? Hat Obama Recht, wenn er vom Kleinkindalter als dem „Zeitfenster der Möglichkeiten“ spricht, in dem das ganze Potenzial eines Kindes entwickelt wird? Wenn sich das Fenster nach dem Kleinkindalter vermeintlich schließt, ist es dann zu spät für eine Wende?
Kleinkind-Deterministen beziehen sich ausnahmslos auf die Bindungstheorie, die Waisenhäuser der Ceaușescu-Zeit in Rumänien und die Neurowissenschaften, um ihre Behauptungen über die menschliche Entwicklung zu stützen. Ich werde mich mit allen dreien auseinandersetzen.

Bindungstheorie

Der britische Psychiater John Bowlby hat argumentiert, dass ein wichtiger Unterschied zwischen „verletzlichen“ und „resilienten“ Kindern in der Beschaffenheit ihrer frühesten Beziehungen liegt, insbesondere in ihrer Bindung zu einer Mutterfigur. Eine sichere Beziehung zu ihrer Bezugsperson macht die Kinder selbstsicherer und befähigt sie, später im Leben mit belastenden Situationen umzugehen. Kinder, die in ihrer frühen Kindheit keine sicheren Bindungen entwickeln konnten, schaffen es als Erwachsene nicht, dauerhafte Beziehungen zu etablieren.

Der Großteil der empirischen Forschung zur Bindungstheorie stützt sich auf die Psychologin Mary Ainsworth und ihre Kollegen, die das experimentelle Vorgehen ausgearbeitet haben, das als „Fremde Situation“ bekannt ist. Im Fremde-Situation-Versuch werden Kinder einer Reihe von milden Stressfaktoren ausgesetzt – so werden sie mit einem Fremden allein gelassen –, um ihre Gefühle zu ihrer Bezugsperson zu bewerten. Ainsworth zufolge zeigten die Daten, dass Kinder in drei grundlegende Bindungstypen eingeteilt werden können: sicher, unsicher/vermeidend und unsicher/resistent. Die Unterschiede zwischen den Bindungstypen wurden als das Ergebnis der Feinfühligkeit der Bezugsperson während der Interaktionen in der frühen Kindheit angesehen. Diese Bindungstypen wurden als relativ stabil betrachtet und ihnen wurde eine Vorhersageleistung hinsichtlich der künftigen emotionalen Entwicklung von Kindern zugeschrieben.

„Die Hälfte einer großen Zahl von Studien hat keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Feinfühligkeit der mütterlichen Fürsorge und der Sicherheit der kindlichen Bindung gefunden.“

Es gibt aber auch Kritik. Wie Psychologieprofessor Jerome Kagan in The Allure of Infant Determinism betont, hat „die Hälfte einer großen Zahl von Studien, die von Wissenschaftlern in verschiedenen Städten durchgeführt wurden, keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Feinfühligkeit der mütterlichen Fürsorge und der Sicherheit der kindlichen Bindung gefunden“. [1] Es gibt auch keine eindeutige Evidenz dafür, dass die Bindungsklassifizierungen im Zeitverlauf stabil bleiben. Kagan kommt zu dem Schluss: „Manchmal bleibt die Bindungssicherheit eines Kindes mit der Zeit dieselbe. Manchmal nicht.“ Bei jedem, der Erfahrung mit kleinen Kindern hat, wird dies ein Echo finden. Kinder können an einem Tag anhänglich und unsicher sein und am nächsten sicher, selbstbewusst und sogar risikofreudig.

Die emeritierten Psychologieprofessoren Ann und Alan Clarke sind zu ähnlichen Schlüssen gekommen wie Kagan: „Für die meisten Menschen sind die Einflüsse der Erfahrungen im frühen Lebensabschnitt nicht mehr als ein erster Schritt auf dem späteren Lebensweg.“ Abhängig von einer Vielfalt von Faktoren, darunter individuelle Eigenschaften, zwischenmenschliche Beziehungen und soziale Faktoren, „mag solch ein Weg gerade oder kurvenreich, schrittweise vorwärts oder rückwärts oder schwankend verlaufen“. Die Forschung hat weder eine Verbindung zwischen elterlicher Feinfühligkeit und Bindungstypen festgestellt noch hat sie gezeigt, dass es „kritische Perioden“ für die emotionale und soziale Entwicklung gibt. Menschen reagieren auf Erlebnisse in sehr unterschiedlicher Weise. Frühe traumatische Erfahrungen oder schwere Vernachlässigung können bei manchen langfristige schädliche Wirkungen haben. Die Gründe für diese negativen Auswirkungen können vielfältig sein – und stehen höchstwahrscheinlich mit Lebenserfahrungen und Beziehungen im späteren Leben in Zusammenhang. Ein frühes Trauma und Vernachlässigung können bei manchen Kindern auch dazu führen, dass sie resilienter werden.

Es ist wahrscheinlich, dass unsere Familienbeziehungen eine große Rolle dabei spielen, uns zu formen – sie gehören schließlich zu den Beziehungen, die potentiell am längsten und dauerhaftesten sind. Aber so, wie wir Beziehungen außerhalb von Zuhause aufbauen können, die unser Selbstempfinden und die Art unserer Bindung positiv bestätigen, so können wir auch Beziehungen aufbauen, die unser Selbstbild und unsere Art, Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, infrage stellen.

Rumänische Waisenhäuser und extreme Deprivation

Verfechter der „kritischen Perioden“ beziehen sich oft auf Beispiele aus rumänischen Waisenhäusern, um die Bedeutung der frühen emotionalen Bindung zu zeigen. Nach dem Sturz des Ceaușescu-Regimes 1989 waren viele über die Zustände in den staatlichen Waisenhäusern Rumäniens bestürzt. Die Kinder hatten extreme Deprivation erlitten: Sie waren mangelernährt und viele waren verkrüppelt, nachdem sie für Monate ununterbrochen an ihre Liegen gebunden waren. Weil es ihnen an allem fehlte, wenn man von minimaler körperlicher Pflege absieht, waren sie passiv und emotionslos und oft stark in ihrer Entwicklung verlangsamt.

Was weniger oft ins Gedächtnis zurückgerufen wird, ist, dass Kinder, die in diesen Waisenhäusern aufgezogen und von Eltern in den USA, Kanada und Europa adoptiert wurden, oft sehr schnell mit ihren nicht verwaisten Spielkameraden gleichzogen. Michael Rutter, Professor für die Psychopathologie der Entwicklung am Institut für Psychiatrie in London, hat 144 Kinder nachverfolgt, die in Rumänien für bis zu 42 Monate in institutioneller Pflege waren und zwischen 1990 und 1992 von britischen Eltern adoptiert wurden. Er fand heraus, dass sobald die Kinder sechs Jahre alt waren sogar viele von denen, die relativ spät in ihrer frühen Kindheit adoptiert wurden, „wesentliche normale kognitive und soziale Funktionen“ zeigten. Manche blieben mit deutlichen Defiziten zurück, aber sogar bei ihnen waren bis zum Alter von elf Jahren weitere Steigerungen zu beobachten.

„Kinder, die in Waisenhäusern aufgezogen und von Eltern in den USA, Kanada und Europa adoptiert wurden, ziehen oft sehr schnell mit ihren nicht verwaisten Spielkameraden gleich.“

Rutter betont das „überraschende“ Ausmaß der Variation in den sozialen und kognitiven Fähigkeiten der adoptierten Kinder. „Sogar unter den Kindern, die die längsten Erfahrungen institutioneller Pflege gemacht hatten, zeigten einige mit elf Jahren keine Anzeichen von abweichenden Funktionen in irgendeinem der von uns ausgewerteten Bereiche. Andererseits gab es einen erheblichen Anteil von Kindern, die Beeinträchtigungen in vielen Funktionsbereichen aufwiesen“, schreibt Rutter. [2]

Die Wahrheit ist, dass wir immer noch sehr wenig über die Auswirkungen von extremer Vernachlässigung wissen. Extreme emotionale Deprivation in den ersten zwei Lebensjahren kann für manche Kinder verheerende und irreversible Folgen haben. Für andere hingegen können die Auswirkungen minimal sein. Der Fall der rumänischen Waisen war außerdem so außergewöhnlich, dass allgemeine Schlussfolgerungen nur begrenzt möglich sind.

Das derzeitige Problem ist, dass der Begriff „Vernachlässigung“ bis zu dem Punkt ausgeweitet wurde, wo er fast bedeutungslos geworden ist. Der National Society for the Prevention of Cruelty to Children (NSPCC) zufolge umfasst Vernachlässigung sowohl Kinder, die in schlecht sitzenden Sachen in die Schule geschickt werden, als auch Kinder, die verlassen werden.

Die NSPCC ist mit ihrer Neudefinition von „Vernachlässigung“ nicht allein. Zu oft wird ungeschicktes oder unempfängliches elterliches Verhalten mit systematischem Missbrauch und systematischer Vernachlässigung zusammengebracht. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen elterlichem Verhalten, das Kinder der ernsthaften Gefahr einer Schädigung aussetzt, und Verhalten, das mit den Erwartungen von Bindungsenthusiasten nicht mithalten kann.

Nutzen und Missbrauch der Neurowissenschaften

Ausnahmslos wird die Neurowissenschaft genutzt – und missbraucht –, um die Behauptung zu rechtfertigen, dass wir von der Art der Fürsorge bestimmt werden, die wir in der frühen Kindheit erhalten. In einem Regierungsbericht von 2011 namens Early Intervention: The Next Steps behauptet der Labour-Abgeordnete Graham Allen, nachlässige Erziehung habe eine direkte Auswirkung auf die Hirnentwicklung: „Wenn die vorherrschende frühe Erfahrung Angst und Stress ist, werden die neurochemischen Reaktionen auf diese Erfahrungen zu den grundlegenden Architekten des Hirns.“

Im Artikel Blinded by Neuroscience von 2011/12 haben Professor David Wastell von der Universität Nottingham und Professor Sue White von der Universität Birmingham Allens Behauptung angegriffen. Sie haben gezeigt, dass die Studien, auf die sich Early Intervention bezieht, entweder wenig mit dem zu tun hatten, was er behauptete, oder gar „in die andere Richtung“ gingen. „Obwohl ‚Zeitschriftenwissenschaft‘ angeführt wird, scheint er [Allen] sich nicht groß dafür zu interessieren, was dort tatsächlich gesagt wird.“

Der Spleen mit der neuronalen Entwicklung in den frühen Jahren ist nicht auf die Politiksphäre beschränkt. Eine thematische Analyse von 505 Zeitungsartikeln im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts durch Forscher des Londoner University College zeigt, dass neurowissenschaftliche Gedanken „sich in der Massenpresse festgesetzt haben“. „Liebe wurde als eine konkrete Ressource dargestellt, die einen nachweisbaren Effekt auf die Neurobiologie des Kindes hat“ und „Familien in ökonomisch unterprivilegierten Umständen wurden so gezeigt, als könnten sie ihren Kindern nur ein emotional wie materiell armes Umfeld bieten“.

Während es weithin anerkannt ist, dass die Neurowissenschaft noch in den Kinderschuhen steckt, so werden ihre Einsichten doch unablässig für effekthascherische Behauptungen missbraucht. In einem anderen Bericht aus einer Regierungskommission, The Foundation Years: Preventing Poor Children Becoming Poor Adults, schreibt Frank Field: „Mit drei Jahren ist das Gehirn eines Babys zu 80 Prozent ausgebildet und seine bis dahin gemachten Erfahrungen haben die Art und Weise geformt, auf die das Gehirn gewachsen ist und sich entwickelt hat.“

Woanders, in Love Matters: How Affection Shapes a Baby’s Brain, will die Psychotherapeutin Sue Gerhardt zeigen, wie frühe Erlebnisse mit einer Bezugsperson Gehirnstruktur und -wachstum bestimmen. Scheinbar haben bestimmte Erfahrungen spezifische neuronale „Bahnen“ zur Folge, die beeinflussen können, „wie wir auf Stress reagieren“, was unter anderem zu „Anorexie, Sucht und anti-sozialem Verhalten“ führt.

„Während weithin anerkannt ist, dass die Neurowissenschaft noch in den Kinderschuhen steckt, so werden ihre Einsichten doch unablässig für effekthascherische Behauptungen missbraucht.“

In Blinded by Neuroscience widerlegen Wastell und White diese Behauptungen, indem sie feststellen: „Das frühkindliche Gehirn ist nicht ohne Weiteres anfällig für dauerhafte oder irreversible Schädigungen durch psychosoziale Deprivation ... Plastizität und Resilienz scheinen die allgemeine Regel zu sein.“

In dieser Hinsicht folgen Wastell and White der Arbeit von John Bruer und seinem wichtigen Buch von 1999, The Myth of the First Three Years. Bruer erklärt, dass das Gehirn in den ersten paar Jahren im Leben eines Kindes eine unermesslich große Zahl von Synapsen (neurale Verbindungen) produziert und es danach eine langandauernde Phase gibt, in der Synapsen „gestutzt“ werden. Bruer erläutert, dass die frühkindlichen Deterministen diese neurowissenschaftliche Feststellung nutzen, um zu behaupten, dass die Phase der hohen synaptischen Dichte die kritische Phase für die Gehirnentwicklung darstellt. Er zeigt außerdem, dass die Neurowissenschaft keine klaren Antworten darauf geliefert hat, wie – oder sogar ob – synaptische Schaltkreise durch Erfahrung geformt oder verändert werden. Es gibt keine sichere Evidenz dafür, dass die Art der Fürsorge in der frühen Kindheit einen Effekt auf die Synaptogenese – die Entstehung neuer Synapsen – oder auf synaptisches Stutzen hat. Diese Prozesse mögen ungeachtet der frühkindlichen Erfahrungen stattfinden.

In einem neueren Artikel des Centre for Parenting Culture Studies arbeitet Bruer die Argumente auf, die heute in den Dokumenten der Politik angeführt werden. „Im Großen und Ganzen handelt es sich bei den Autoren und Artikeln, die Mitte der 1990er bis zu den späten 1990ern zitiert wurden, um dieselben Autoren und Artikel, die in den derzeitigen Politikberichten zitiert werden“, schreibt er. „Dieselben übertriebenen Verallgemeinerungen und Vereinfachungen, die damals angeführt wurden, werden nun wieder angeführt. Die Beweisgrundlage für die frühe Gehirnentwicklung scheint sich nicht zu erweitern, die Interpretationen verbessern sich nicht und dieselben Beispiele, Phrasen und Bilder tauchen ständig wieder auf.“

Ein Experiment, das oft zitiert wird, um die Existenz von kritischen Perioden für die Gehirnentwicklung zu zeigen, ist das der Nobelpreisgewinner David Hubel and Torsten Weisel aus den 1960ern. Per Naht wurde das Auge einer Katze für zwei Monate direkt nach der Geburt verschlossen. Sie stellten fest, dass auch nach der Entfernung der Stiche die Katze auf diesem Auge niemals sehen konnte.

Der einzige Schluss, den wir daraus ziehen können, ist, dass sensorischer Input für die kortikale Entwicklung in den ersten Monaten des Lebens notwendig ist – jedenfalls für Katzen. Sensorische Erfahrungen in den ersten Monaten mögen auch für Menschen notwendig sein, aber solche Experimente können nicht – und sollten nicht – an Menschen durchgeführt werden.

Wie der Neurowissenschaftler Stuart Derbyshire anführt, ist es außerdem möglich, dass das Zurücklassen eines Kleinkindes in Isolation und Dunkelheit für lange Phasen während seiner ersten drei Lebensjahre zu Defiziten führen wird, die später nicht wiedergutgemacht werden können. Außerhalb der extremen und ungewöhnlichen Fälle gibt es aber keinen Grund zur Annahme, dass die Auswirkungen von unglücklichen Umständen, denen ein Kind in seinen ersten drei Jahren gegenübersteht, anschließend nicht wiedergutzumachen sind.

„Die Wahrheit ist, dass wir nicht mit Sicherheit voraussagen können, wie sich jemand auf Grundlage seiner Kindheit entwickeln wird.“

Die Wahrheit ist, dass wir nicht mit Sicherheit voraussagen können, wie sich jemand auf Grundlage seiner Kindheit entwickeln wird. Natürlich ist es möglich, Einsichten darüber zu erlangen, wie manche Dinge unsere Lebenswege wahrscheinlich beeinflussen, aber wir sind nicht in der Lage, exakt vorherzusagen, wie irgendwer von uns als Erwachsener sein wird. Zunehmend dominiert jedoch das Neuro-Geschwätz die Schulungen, die die meisten der Fachkräfte erhalten, die mit jungen Kindern und werdenden Müttern arbeiten. Den kommunalen Gesundheitsbeauftragten werden Gehirnaufnahmen gezeigt, um die langfristigen Folgen von Vernachlässigung zu veranschaulichen, und praktische Ärzte im Programm Family Nurse Partnership wird nahegelegt, im Rahmen ihrer Schulung Sue Gerhardts Buch Why Love Matters zu lesen.

Vielleicht befassen sich manche Eltern nicht so sehr mit ihren Kindern, wie es die Regierung möchte. Na und? Die Vorstellung, dass die Weise, in der Eltern ihre Babies anlächeln, mit ihnen reden und allgemein mit ihnen interagieren, zeigt, wie sehr sie ihr Kind lieben, und dass diese Interaktionen einen anhaltenden Einfluss auf ihr Kind haben werden, fußt auf einem Vorurteil, nicht auf Wissenschaft. Wir haben alle unsere eigene Art, unsere Liebe füreinander zu zeigen. Wir brauchen kein Handbuch oder die Einmischung von kommunalen Gesundheitsberatern, um zu lernen, wie wir unserer Liebe „auf die richtige Weise“ Ausdruck verleihen.

Der Kleinkind-Determinismus muss infrage gestellt werden, nicht nur, weil er die Daten verkürzt interpretiert – und in vielen Fällen auch verzerrt –, sondern vor allem wegen seiner Konsequenzen. Denn dieses pessimistische Menschenbild legitimiert den Staat darin, sich zunehmend in das Familienleben einzumischen.

Zudem handelt es sich bei der Behauptung, dass wir von Kräften außerhalb unserer Gewalt dominiert werden – eben durch vergangene Erlebnisse in der Kindheit – um eine sehr negative Botschaft. Wenn Kindern und Eltern erzählt wird, dass besondere Erlebnisse in der frühen Kindheit sie höchstwahrscheinlich für das ganze Leben beeinträchtigen, werden sie dann nicht vermutlich mit dem Gedanken aufwachsen, dass sie „Opfer“ ihrer Vergangenheit sind? Es hilft uns nicht, unsere Eltern für die Schwierigkeiten verantwortlich zu machen, die wir im Leben haben. Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Aber wir können die Zukunft ändern und wir tun gut daran, dabei auf den Kleinkind-Determinismus zu verzichten.

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