13.12.2023

Rückkehr nach Battersea

Rezension von Boris Kotchoubey

Titelbild

Foto: stevepb via Pixabay / CC0

In seinem Buch „Meine Vertreibung“ zeichnet Boris Reitschuster die Zustände nach, in denen sich heute die deutsche Gesellschaft allgemein und kritische Journalisten im Besonderen befinden.

Alle diese Untersuchungen, die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. […] Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. […] Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.

Bärbel Bohley, DDR-Bürgerrechtlerin, 1991 (zit. n. Chaim Noll

In einem den meisten Bewohnern der DDR bekannten Witz unterhalten sich ein West- und ein Ostdeutscher über Demokratie. Der Wessi sagt: „Wir haben eine wahre Demokratie: Wir dürfen ohne Bedenken die Regierung der Bundesrepublik öffentlich kritisieren.“ Darauf antwortet der Ossi: „Auch wir haben wahre Demokratie: Auch wir dürfen ohne Bedenken die Regierung der Bundesrepublik öffentlich kritisieren.“

Der Witz ist deshalb vom Belang, weil der Autor des rezensierten Buches seine höchste Auszeichnung, die Theodor-Heuss-Medaille, gerade für seine Regierungskritik verliehen bekam. Genauer hieß es in der Begründung, er werde ausgezeichnet „angesichts seines außerordentlichen Engagements, mit dem er sich kritisch mit dem politischen System […] auseinandersetzt und vor Ort mit hohem persönlichem Einsatz für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und damit für die Wahrung von Bürger- und Menschenrechten kämpft.“

Die Auslassungspunkte in diesem Satz stehen allerdings für ein einziges Wort im Genetiv: „Russlands“. Es war also die Regierung eines anderen Landes, mit der die kritische Auseinandersetzung prämiert wurde. Die Medaille wurde als Hochschätzung der kritischen Arbeit Boris Reitschusters in Moskau verliehen. Er hatte dort 16 Jahre gelebt, geliebt und gearbeitet, er war sowohl ein großer Fan der russischen Lebensweise geworden als auch ein erbitterter Gegner und schärfster Kritiker der russischen Politik, bevor er 2015 in ein anderes exotisches Land wechselte, nämlich nach Deutschland.

Das fremd gewordene Deutschland

Gilbert Keith Chesterton erklärte seinem Freund, warum er Reisen in fremde Länder unternimmt: „Ich fahre über Paris, Belfort, Heidelberg und Frankfurt, um am Ende der Reise das Londoner Distrikt Battersea kennenzulernen. Oder glauben Sie wirklich, dass ich nach Frankreich reise, um Frankreich kennenzulernen? Dass ich nach Deutschland reise, um Deutschland kennenzulernen? Natürlich nicht; ich werde Frankreich und Deutschland genießen, aber kennenlernen will ich Battersea.“ In einer anderen Geschichte beschreibt er einen englischen Seefahrer, der nach zahlreichen und schwierigen Abenteuern im offenen Meer endlich eine Insel erreicht. Die Insulaner verhalten sich zwar im höchsten Maße seltsam, sprechen aber gutes Englisch, so dass er sich gerne etwas länger auf der aufhält. Erst nach einer längeren Zeit begreift er, dass er in England ist. 

Reitschuster ist etwas Ähnliches, aber doch Anderes passiert. Chesterton erwähnte auch eine Amerikanerin, die bei ihrem ersten Besuch in England das Gefühl hatte, dass sie in diesem Land schon einmal gewesen war, aber vor sehr langer Zeit. Das Phänomen ist unter dem französischen Namen Déjà-vu bekannt. Reitschuster hat dagegen das entgegengesetzte Phänomen Jamais-vu erlebt: Er kam in seine Heimat und fand ein völlig unbekanntes Land vor.

„In seinen Reportagen und Interviews zeigte Reitschuster auf Probleme und Ungereimtheiten, verteidigte das Recht auf freie Meinungsäußerung, stellte kritische Fragen und hakte nach, nicht zuletzt in der Bundespressekonferenz.“

Er fand ein Deutschland vor, in dem Frauen einen besonderen Mut haben müssen, wenn sie sich abends allein in bestimmten Gebieten ihrer Städte zeigen; ein Deutschland, in dem die Aussagen „Deutschlands Grenzen sollen geschützt werden“ und „Die Grundrechte der Bürger sind unantastbar“ als rechtsextreme, fast nationalsozialistische Parolen angesehen werden; ein Deutschland, in dem ein Journalist, der Regierungsvertretern unbequeme Fragen stellt, aus dem journalistischen Pool ausgeschlossen wird; ein Deutschland, in dem verdiente Wissenschaftler mit jahrzehntelanger Erfahrung  und Hunderten begutachteten Publikationen in internationalen Fachzeitschriften öffentlich als „Pseudoexperten“ und „Spinner“ gebrandmarkt werden, wenn sie  Mainstreammeinungen infrage stellen; ein Deutschland, in dem Demonstranten, die gegen Einschränkung ihrer Menschenrechte protestieren, von der Polizei mit einer solchen Brutalität angegriffen werden, dass sogar der Folterbeauftragte der Uno, der berufsgemäß Einiges erlebt haben sollte, sich besorgt an die deutsche Polizeiführung wendet (und keine Antwort bekommt); wobei die Medien und Politik eine andere Demonstration, bei der die umliegenden Geschäfte brutal zerstört und die Polizisten massiv mit Steinen und Eisenstangen beworfen wurden, niedlich als „Party“ bezeichnen; ein Deutschland, in dem die meisten Bürger glauben, dass sie Probleme bekommen, wenn sie ihre Meinungen frei äußern; ein Deutschland, das die ganze Welt belehren will, aber keinen Flughafen rechtzeitig bauen kann; ein Deutschland, in dem auf öffentlichen Baustellen so gebaut wird, wie in Russland um 1980, weil die Baufirmen statt des Mindestlohns (welcher von den Menschen erfunden wurde, die nie im Leben gearbeitet haben) lieber ein südosteuropäisches Subunternehmen beauftragen, und weil, wenn ein öffentliches Gebäude nach zehn Jahren zusammenbricht, sowieso niemand zur Verantwortung gezogen wird; ein Deutschland, in dem die Verspätung eines Zuges um nur eine Stunde als Spitzenleistung der preußischen Pünktlichkeit gefeiert wird.

So ein Deutschland ist aber unvorstellbar. Ich bin davon überzeugt, dass jeder von uns, der ehrlich versucht, an Deutschland so zu denken, wie er oder sie 1999 gedacht hat (in diesem Jahr verließ Reitschuster Deutschland), wird bestätigen, dass es das oben beschriebene Deutschland nicht geben kann.

Was könnte man in diesem unvorstellbaren ‚Neuen Deutschland‘ (Koinzidenz mit dem Titel der SED-Zeitung rein zufällig) von jemanden erwarten, der gerade dafür gefeiert wurde, dass er (ich zitiere abgekürzt) „sich kritisch mit dem politischen System […] auseinander[ge]setzt und […] für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und damit für die Wahrung von Bürger- und Menschenrechten [ge]kämpft“ hat? Ja, offensichtlich nichts anderes, als dass er wieder dasselbe tut. In seinen Reportagen und Interviews zeigte Reitschuster auf Probleme und Ungereimtheiten, verteidigte das Recht auf freie Meinungsäußerung, stellte kritische Fragen und (horrible dictu) hakte nach, nicht zuletzt in der Bundespressekonferenz. Er gab auch denjenigen eine Stimme, die aus dem Mainstream ausgeschlossen wurden, ohne sich (wie es das journalistische Ethos vorschreibt) mit ihnen zu identifizieren.

„Den Personen, die auf die ‚schwarze Liste‘ gesetzt werden, wird täglich demonstrativ gezeigt, dass sie unter Beobachtung stehen.“

Diesmal folgte jedoch für die „kritische Auseinandersetzung mit dem politischen System“ keine Auszeichnung. Im Gegenteil erlebte er eine ganze Bandbreite von Diffamierungen, Beleidigungen, Einschränkungen, Drohungen. Wie in der Diskussion zwischen Wessi und Ossi wird eine kritische Einstellung unmissverständlich belohnt, solange fremde Gesellschaften, fremde Regierungen kritisiert werden, solange Verstöße gegen Menschenrechte nur in anderen Ländern beleuchtet werden – nicht aber im eigenen Land.

Der Journalist als Störenfried

Da sich Reitschuster als Journalist und nicht als Sozialphilosoph wahrnimmt, kommt das ‚Neue Deutschland‘ in seinen Berichten, Sendungen und Interviews nur fragmentär zum Vorschein, während es dem Leser überlassen bleibt, aus den einzelnen Facetten ein Gesamtbild der schönen neuen Welt zu bauen. Nachvollziehbar ist daher, dass er schließlich dem Wunsch eines befreundeten Journalisten aus der Achse der Guten nachgab und ein autobiographisches Buch geschrieben hat. Die Autobiografie ist aber lediglich die Form der Erzählung. Natürlich kennt Reitschuster den journalistischen Grundsatz: „Ein Journalist darf über alles schreiben, nur nicht über sich selbst“. Aber wie es in vielen Abenteuerromanen der frühen Neuzeit der Fall war, handelt dieses Buch nicht in erster Linie von demjenigen, der in der Ich-Form schreibt. In jenen Romanen war der Ich-Held oft nur der Faden, um die Episoden zusammenzubinden, in denen der Leser wie im Spiegel die Laster und eiternden Geschwüre der gegenwärtigen Gesellschaft erkennen konnten. Auch in diesem Buch ist die Person des Ich-Erzählers – mit Verlaub – am wenigsten interessant.

Der wahre Gegenstand ist nicht der Erzähler, sondern die Gesellschaft, in der sich das Denunziantentum (das Reich „des größten Lumpen im ganzen Land“) in bestimmten („gehobenen“) sozialen Gruppen zur höchsten Tugend erklärt wird, in der Kontaktschuld gilt (wer nur in der Nähe von einem AfD-Mitglied gesehen wurde, dessen Karriere ist schon zu Ende) und in der den „Störern“ Lebensgrundlagen entzogen werden. Wie Bärbel Bohley 1991 vorhersagte, werden sie „nicht unbedingt verhaftet“ – nur ihre Bankkonten werden plötzlich gesperrt, ihre Accounts bei sozialen Medien geschlossen, in ihren Arbeitsräumen finden Durchsuchungen statt, deren Ziel keineswegs darin besteht, etwas Kriminelles zu finden (und es wird natürlich nichts gefunden), sondern allein in der Einschüchterung. Den Personen, die auf die „schwarze Liste“ gesetzt werden, wird täglich demonstrativ gezeigt, dass sie unter Beobachtung stehen.

Mal werden sie bei einer Routinekontrolle im Flughafen zu einer „vertieften Prüfung“ angehalten und verhört, mal kommt ein Polizist zum Hausmeister, um ihn wegen des „seltsamen Hausbewohners“ zu befragen, mal erklären die langjährigen Geschäftspartner, sie können leider nicht weiter zusammenarbeiten, und die Begründung lautet „du verstehst ja, warum“. Reitschusters persönliche Betroffenheit bei den meisten genannten Vorgängen steht stellvertretend für viele.

„Das Buch hilft uns, aufzuwachen und den Schlaf aus den Augen zu reiben.“

Worin genau die Schuld besteht, was einem vorgeworfen wird, gegen welche Normen und Gesetze man verstoßen haben soll, wird im besten kafkaesken Stil nicht erklärt, oder die Erklärungen sind lächerlich. So hat der Ausschuss der Bundespressekonferenz Reitschuster inkriminiert, weil Kommentare zu seinen Artikeln (nicht die Artikel selbst) Wörter beinhalten wie „Systemtrichter“, „Hofberichterstatter“, „charakterlos“, „Selbstdarsteller“, „Schreiberling“, „Kasperletheater“ oder „hohle Phrasen-Show“. Man darf also in Deutschland jede öffentliche Einrichtung kritisieren, aber nur, wenn man kein einziges negativ konnotiertes Wort benutzt. Seitens des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wurde Reitschuster vorgeworfen, dass er die Querdenker-Demos live übertrug. Wenn Journalisten Terrorangriffe und Kriegshandlungen live übertragen, dann ist das ganz normal, denn sie machen nur ihren Job, und niemand kommt auf die Idee, dass sie sich dadurch zu Mittätern machen. Aber eine Filmaufnahme einer friedlichen Demonstration wird mit der Solidarität mit dieser Demonstration gleichgesetzt.

Zweifellos weiß jeder, der dieses Buch in die Hand nimmt, schon Etliches über das ‚Neue Deutschland‘, sonst würde er es unbeachtet lassen. Aber wenn er das Buch gelesen hat, kennt er dieses Land besser als davor – viel besser. Er wird mit Dingen konfrontiert, die er ahnte, aber nicht kannte. Zurück zu Chesterton: Der Freund fragt ihn, ob er nicht der Meinung sei, dass er Battersea, wo er seit langem wohnt, schon kennt. Nein, antwortet Chesterton, „Ich sehe kein Battersea hier; ich kann weder London sehen noch England. Ich kann diese Tür nicht sehen, ich kann diesen Sessel nicht sehen, weil eine Wolke aus Schlaf und Gewohnheit vor meinen Augen steht.“ Wir, die diese Jahre immer (Urlaub ausgenommen) in Deutschland blieben, wissen schon, wie stark sich das Land geändert hat, aber wir sehen (im Chesterton’schen Sinne) diese Veränderungen nicht – „aus Schlaf und Gewohnheit“. Das Buch hilft uns, aufzuwachen und den Schlaf aus den Augen zu reiben.

Und doch muss am Ende ein Funken Hoffnung kommen. Und weil der Autor mental gesehen sowohl Deutscher als auch Russe ist, spendet ein Vergleich mit Russland Trost: Immerhin wurden kritische Journalisten in Deutschland noch nicht zu 25 Jahren Straflager verurteilt; bei Aufnahmen von Demonstrationen wurde keinem Journalisten durch Polizisten Arme oder Beine gebrochen; und die Säuberung des Journalistenpools, die Reitschuster erst 2022 mit dem Ausschluss aus der Bundespressekonferenz traf, wurde in seiner zweiten Heimat 20 Jahre früher durchgeführt. Vor der Haustür Reitschusters in Berlin wurde keine Bombe abgelegt, die, sobald er herauskam, explodiert wäre, wie es bei Elena Tregubowa alias Lena Swann in Moskau der Fall war, und er wurde weder in einem Flugzeug schwer vergiftet noch im Aufzug von einem Unbekannten erschossen wie Anna Politkowskaja.

Ob dies schon ein Grund zur Freude sein sollte? Reitschuster selbst wohnt inzwischen überwiegend in Montenegro.

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