04.09.2023

Die Sprachen vergangener Zeiten

Rezension von Anton Spahl

Wie haben unsere Vorfahren gesprochen? Ein neues Buch erklärt, wie wir das herausfinden können.

Der Hamburger Linguist und Polyglott Jan Henrik Holst hat unlängst einer langen Reihe an Publikationen ein weiteres Buch hinzugefügt. Darin versucht er, eine im deutschsprachigen Raum noch nicht in dieser Form existente, übersichtliche Einführung in die Rekonstruktion von Sprachen auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Das Faszinosum menschlicher Sprache ist allgegenwärtig. Es ist die Sprache mehr als alles andere, die uns erlaubt, uns gesellschaftlich einzuordnen, uns selbst und einander. Vor allem phonetische Abweichungen von der Norm indizieren die Herkunft eines Menschen, ob innerhalb des Landes oder außerhalb. Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten oder Klassen unterscheiden sich in der Wortwahl, und zunehmend erlaubt selbst die Grammatik politische Stellungnahme. Das Sprachenlernen beschäftigt uns (obligatorisch) mindestens, aber oft auch darüber hinaus, in den ersten beiden Dekaden unseres Lebens und führt vielfach zu einem, obgleich mitunter oberflächlichen, theoretischen Bewusstsein des Phänomens. Auch Projektionen auf eine Sprache sind keine Rarität, so gilt den Griechen die unsrige oft als hart, fast so wie die Austeritätspolitik der ehemaligen Kanzlerin. Das reicht so weit, dass man als Synonym für „streng“ (gr. Αυστηρός, daher dt. „Austerität“) die Wortschöpfung „merkelikos“ (μερκελικός) antreffen kann.

Klar ist, dass sich Sprachen verändern. Ohne diese Veränderung gäbe es weder die beiden gerade genannten Lehnwörter noch Dialekte. Genau da setzt die Linguistik ein, genauer gesagt – man wird in diesem Buch sehr vieles genauer sagen lernen – die Diachrone Sprachwissenschaft. Sie beobachtet nämlich, wie aus einer Sprache eine, oder viele, andere werden. Die Rekonstruktion, deren Mühe der Autor auf sich nimmt, geht dann wieder zurück und überlegt, wie aus vielen (oder in erheblich schwierigeren Fällen aus einer) auf eine Vorgängersprache geschlossen werden kann, von der es keine schriftlichen Zeugnisse gibt. Beispielsweise kennen wir eine Reihe germanischer Sprachen, Deutsch, Englisch, Isländisch usw., das Germanische selbst ist jedoch verschwunden und wir können es nur zu rekonstruieren versuchen.

Nach einer kurzen Einleitung, die die konkreten Ziele und Motivationen Holsts klar absteckt, geht es im zweiten Kapitel richtig los. Dieses legt die Grundlagen dar, die notwendig sind, um alles weitere zu verstehen, auch wenn der Leser noch nicht mit sprachwissenschaftlichen Problemen vertraut ist. Dabei wird besonderes Gewicht auf die Phonetik gelegt, die, wie der Autor betont, eine ungleich wichtige Stellung bei der Rekonstruktion genießt. Es ist auch notwendig, sich eine Reihe an Fachbegriffen gleich zu Anfang einzuprägen, darunter die Bezeichnungen der verschiedenen Laute, die eine Sprache aufweisen kann. Hier ist das Buch allerdings keineswegs übermäßig rigide und lässt zu, dass das eine oder andere auch dann noch in Erfahrung gebracht wird, wenn benötigt. Trotzdem ist dieser Teil fundamental und darf auch ein zweites Mal gelesen werden.

Danach geht es gleich an die Essenz: Die Lautgesetze in ihren beiden Formen, spontan und kombinatorisch, werden erklärt. Dabei handelt es sich, in wenigen Worten, um das Ersetzen eines Lautes durch einen anderen, entweder in jeder Position (spontan) oder nur unter bestimmten Bedingungen (kombinatorisch), etwa zwischen zwei Vokalen. Diese Prozesse finden ohne Ausnahmen der Regel statt und können auf diese Weise auch Spannungen in der Sprache schaffen, die dann auf anderem Wege wieder ausgeglichen werden müssen oder können. Als Beispiel dient hier der kombinatorische Lautwandel, der vom Lateinischen ins Italienische stattgefunden hat. Die Bedingung, die ihn kombinatorisch macht, ist, dass ein vorderer Vokal folgt (das ist ein Vokal, der im vorderen Bereich des Mundes artikuliert wird, konkret also i und e, aber nicht a, o oder u). Objekt des Lautwandels ist hier das lateinische k, das zum italienischen t͡ʃ = tsch wird. Ein Fall, in dem wir den Wandel beobachten, ist der lateinische amicus, der Freund. Im Plural wird aus ihm dann amici, auf lateinisch „amiki“ ausgesprochen, auf Italienisch „amitschi“ (amict͡ʃi). Der Theorie zufolge sollte das jetzt in allen gegebenen Situationen auftreten, tut es aber nicht. Gegenbeispiel: fuoco, fuochi (also „fuoki“ ausgesprochen). Hier ist der Lautwandel wieder umgekehrt worden und zwar in Analogie zum Nominativ fuoco, in dem die Bedingung (eines vorderen Vokals) nicht gegeben war und sich folglich nie etwas verschoben hat. Dieses Phänomen heißt daher Analogie. Sinn der Analogie ist, das Sprachsystem regelmäßiger zu machen. Nicht zu Unrecht zieht der Autor Parallelen zu Naturwissenschaften wie der Physik oder der Biologie.

Vor Ende des Kapitels gibt es noch einen kurzen Abschnitt, der die Nützlichkeit solcher Kenntnisse fürs Sprachenlernen verdeutlicht. Wer Lautwandel versteht und verfolgen kann, der kann auch Entsprechungen eines Lautes in Schwestersprachen wesentlich besser erkennen und sich das zu Nutze machen, zum Beispiel bei der Aneignung des notwendigen Wortschatzes. Englisch und Deutsch sind beides westgermanische Sprachen, stammen daher von einem gemeinsamen Vorfahren ab und haben seitdem jeweils ihre eigenen Lautgesetze durchgemacht. So kommt es, dass ein englisches th im Deutschen einem d entspricht: thirst; durst, thistle; Distel, thing; Ding, north; norden, though; doch, then; dann, leather; Leder und so weiter. Mit Kenntnis von dieser und weiteren Veränderungen dürfte es also möglich sein, nicht wenige englische Wörter zu erkennen, die sich uns auf den ersten Blick sonst nicht erschließen würden.

„Wer Lautwandel versteht und verfolgen kann, der kann auch Entsprechungen eines Lautes in Schwestersprachen wesentlich besser erkennen und sich das zu Nutze machen.“

Im folgenden Kapitel wird zunächst die vergleichende Methode im Kontrast zur inneren Rekonstruktion erläutert. Dabei gibt es auch noch ein paar zunehmend ausführlichere Beispiele, an denen man durchaus auch selbst etwas rätseln darf, bevor der Autor die Auflösung präsentiert. Hier sollte erwähnt werden, dass das ganze Buch sehr praxisorientiert ist und kaum eine Materie ohne anschauliche Beispiele abgehandelt wird.

Damit dürfte dann auch der Grundstein gelegt sein und es kann an die Feinheiten und unregelmäßigen Veränderungen gehen. Um diese sinnvoll strukturiert zu überblicken, werden die verschiedenen Ebenen der Sprache beleuchtet, beginnend mit einer etwas vertieften Einsicht in die Phonetik. Es folgen Syntax und Morphologie und schließlich Semantik und Wortschatz. Auch letzterer ist beim Rekonstruieren von Bedeutung, zum Beispiel können Lehnwörter ein Lautgesetz brechen, weil sie erst nach dessen Ablauf in die Sprache aufgenommen worden sind. Spanisch hat sich bekanntermaßen aus dem Lateinischen entwickelt und hat einen Großteil des eigenen Wortschatzes von seiner Muttersprache geerbt. Drüber hinaus haben aber spanische Gelehrte auch immer wieder Wörter aus dem Lateinischen entlehnt. Beispiele sind culpa (Schuld), mundo (Welt), cruz (Kreuz). Als nicht ererbt verrät diese Wörter ihr u, das mit dem Lateinischen übereinstimmt (culpa, mundus, crux); die Lautgesetze hätten zu einem o führen müssen. Nicht zu vergessen ist, dass über das Aussehen bzw. den Klang des Wortes hinaus die ältere Sprache in allen ihren Facetten entdeckt werden soll, dazu gehört also auch, wie ihr grammatikalisches System funktionierte und was ein Wort damals bedeutete. Deutsch Tier und Englisch deer haben beispielsweise zwar den gleichen Ursprung aber teilen sich keine identische Bedeutung mehr. Das proto-westgermanische deuʀ bedeutete vermutlich wildes Tier.

Im fünften Kapitel geht es darum, wie die praktische Vorgehensweise der Rekonstruktion von Sprachen effizienter gestaltet werden kann. Das reicht von banalen Dingen wie dem Vermeiden von Abtippfehlern über das Festlegen von Kriterien, nach denen die notwendigen Daten zu sammeln sind, bis zur Identifikation von ungeeigneten Lehnwörtern. Behandelt werden auch die synchrone Forschung und Feldarbeit, also das aktive Dokumentieren von bislang nur gesprochenen Sprachen. In dieses Kapitel fällt zudem die Typologie, also der Vergleich von Sprachen bzw. ihrer einzelnen Bestandteile über die Familiengrenzen hinweg. So ein Vergleich hat effektiv nur limitierte Potenz für die Rekonstruktion und beschränkt sich hauptsächlich darauf, für konkrete Vermutungen einen Präzedenzfall zu ermitteln, der deren Plausibilität steigert, was oft nicht so einfach ist, wie man denken könnte. Zuletzt gibt es eine kurze Überlegung zu den Ursachen des Sprachwandels, dabei stellt Holst einige nur selten erwähnte und kaum erforschte, aber darum nicht minder interessante Ideen in den Raum. Einfluss nehmen könnte womöglich das Klima, indem ein geringerer Luftstrom beim Sprechen in nördlichen und kalten Teilen der Welt bevorzugt würde, oder bestimmte biologische Merkmale der Sprecher, die entweder die Artikulation oder das Gehör betreffen. Trotz alldem haben natürlich innersprachliche Spannungen die weitestreichende Bedeutung.

Noch persönlicher und praktischer wird es im sechsten Kapitel, betitelt „Vermeidung psychologischer Fallen“.  Hier ist zweifelsohne die langjährige Erfahrung des Autors eine der wesentlichen Quellen. So beschreibt er beispielsweise, wie sich unbewusst Präferenzen gegenüber einer der zu vergleichenden Sprachen einschleichen, oder wie über- oder untertriebene Einschätzung des Möglichen den wissenschaftlichen Findungsprozess erschweren können.

„Ein gewisses Interesse an der Thematik vorausgesetzt, ist das Buch auch für den Laien gut lesbar.“

Das finale Kapitel ist ein zügiger Überblick über die wichtigsten Sprachfamilien der Erde. Dabei wird deutlich, wie umfangreich, aber vor allem wie unerforscht diese noch sind und wie weit am Anfang das Fach selbst noch steht. Viel Arbeit wird gemacht, aber weit mehr wartet noch darauf, aufgenommen zu werden. Gleichzeitig mutet diese Weltreise wie eine Art Menü an, von dem sich der wirklich interessierte Leser einen Teilbereich aussuchen und sich in denselben dann einarbeiten kann, denn uns wird nicht verschwiegen, dass mit alldem Gelernten doch auch vor allem die Kenntnis der jeweiligen Sprache Voraussetzung des Rekonstruierens ist.

Ein gewisses Interesse an der Thematik vorausgesetzt, ist das Buch auch für den Laien gut lesbar. Generell ist der Umgang mit Fachbegriffen sehr übersichtlich und sinnvoll gestaltet. Obwohl es sich um ein deutsches Buch handelt, werden die englischen Termini parallel mit eingeführt. Das ist wichtig, weil die Linguistik (wie alle Wissenschaften) eine nicht unwesentliche Fülle an internen Wörtern kennt. Gleichzeitig liegt der Fokus aber, wie betont wird, nicht darauf, universell in die (oder gar eine konkrete) Sprachwissenschaft einzuführen, sondern speziell das Rekonstruieren zu erklären und zugänglich zu machen, vielleicht sogar für eigene Versuche.

Die Methoden sind universell und entsprechend werden Beispiele aus den verschiedensten Teilen der Welt verwendet. Bei alldem versucht der Autor, dem Leser seine eigenen Erfahrungswerte, soweit das möglich ist, zu vermitteln. So lautet die Frage nicht nur, was ist ein möglicher Grund, sondern auch, welcher Grund ist der Situation entsprechend wahrscheinlicher, um das Auftreten eines Lautes zu erklären, und ferner, wie kann ich auch in Zukunft herausfinden, was plausibel ist.

Das Buch baut didaktisch ein umfangreiches Feld gekonnt und in jedem Moment nachvollziehbar auf, ohne sich in Details zu verlieren, was natürlich nicht heißt, dass es nicht sinnvoll ist, gelegentlich innezuhalten, um ein Konzept genauer zu durchdenken. Stilistisch ist es kurzweilig und zuweilen humorvoll, auch weil die einzelnen Bereiche tatsächlich zügig durchgegangen werden und weil mit Selbstbewusstsein und Kompetenz in die laufenden Diskussionen eingegriffen und dabei auch Verbesserungsvorschläge und Innovationen vorgebracht werden. Es bietet einen gut strukturierten Einstieg oder Einblick in einen so omnipräsenten Bereich unseres Lebens, wie es die Sprache nun einmal ist, und die Möglichkeit, ein vielen verstecktes, aber faszinierendes Fach zu entdecken.

Abschließend sei angemerkt, dass das Buch zwar ein Fachbuch ist, der Autor in aller Kürze aber auch Anmerkungen zu Themen gibt, die uns im aktuellen Kulturkampf um die Sprache begegnen. Hierzu zählt die Tabuisierung von Wörtern, wie wir sie heute etwa bei dem N-Wort, dem Z-Wort, dem I-Wort beobachten, die Debatten ums Denglisch oder politisch motivierte Rechtschreibreformen.

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