28.10.2015

Nein zur „staatlichen Besserungsanstalt mit grüner Hausordnung“

Interview mit Christian Lindner

Der Präventionsstaat tritt den Bürgern wie ein Erziehungsberechtigter gegenüber. Im Interview kritisiert der FDP-Bundesvorsitzende den grassierenden Paternalismus, das Nudging, die Auswüchse der Klimapolitik sowie Technologie- und Wachstumsfeindlichkeit

Novo: Herr Lindner, vor knapp zwei Jahren wurden Sie zum Bundesvorsitzenden der Freien Demokraten gewählt. Kurz zuvor war Ihre Partei aus dem Bundestag geflogen. Dabei wurde die FDP von den Wählern auch für ihre Konturlosigkeit abgestraft. Für welchen Begriff von Freiheit stehen Sie?

Christian Lindner: Freiheit ist die Abwesenheit von Zwang und der Aufruf zur Eigenverantwortung. Freiheit ist die Lust, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Die FDP als liberale Kraft will den einzelnen Menschen groß machen – und nicht den Staat. Zwar brauchen wir ihn als Garant klarer Regeln, aber immer öfter dringt er ja mit seiner Bürokratie in den letzten Winkel des Privaten ein.

Der Liberalismus ist ein Kind der Aufklärung. Was bedeutet Ihnen dieses Erbe heute?

Das Vertrauen in die Vernunftbegabung des Menschen und den Optimismus, dass Menschen nicht wie im Wolfsrudel zusammen leben. Das unterscheidet uns von Konservativen oder Linken, die ein skeptischeres Menschenbild haben. Die reale Bedeutung von Empathie hatte bereits der liberale Vordenker Adam Smith in seiner Theorie der ethischen Gefühle dargelegt. Übrigens vor und in gewisser Weise als Voraussetzung seines bedeutenden Werks vom Wohlstand der Nationen. Die freiheitliche Arbeitsteilung ist untrennbar mit dem Blick auf die Bedürfnisse von anderen verknüpft.

Der Philosoph Immanuel Kant definiert Aufklärung in seinem Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.” Falls Sie dieser Definition zustimmen können: Welche Verantwortung trägt der Einzelne in diesem Prozess, welche Rolle sollte der Staat spielen?

Ja, das hatte ich zu umschreiben versucht. Ich würde aus Kants Ethik noch hinzufügen, dass jeder einzelne Mensch Zweck an sich ist und niemals zum Objekt gemacht werden darf: Nicht von Bürokratien, Shitstorms oder einem Marktmonopol, das Bedingungen diktieren kann. Der Einzelne, als Subjekt mit seiner Mündigkeit und Würde, steht im Zentrum und diesem Einzelnen hat der Staat zu dienen. Hier wird die Paradoxie des liberalen Staatsbegriffes deutlich: Wir brauchen einen Staat, der durch geltendes Recht gegebenenfalls Freiheiten einschränkt, damit er die Freiheit von uns allen garantieren kann, beispielsweise indem er das Eigentum und die Bewegungsfreiheit schützt und, in neuerer Zeit, auch bestimmte Freiheitsressourcen zur Verfügung stellt.

„Ohne den Willen, die eigenen Grenzen weiter herauszuschieben, wird man nicht bestehen können“

Die wichtigste dieser Freiheitsressourcen ist Bildung. Denn ohne kulturellen Horizont, beruflich verwertbare Qualifikationen, aber auch praktische Alltagstüchtigkeit, können wir mit den uns versprochenen Chancen praktisch nichts anfangen. Gleichzeitig ist der Einzelne aufgerufen, aus diesen Freiheitsressourcen auch etwas zu machen. Man kann Bildungschancen anbieten und man kann den Zugang zu ihnen eröffnen, aber ergreifen muss ich die Chance selbst. Der Staat kann die Hürden reduzieren, aber ohne eigene Anstrengung, ohne den Willen, die eigenen Grenzen weiter herauszuschieben, und ohne Anstrengung und Fleiß werde ich Bildung nicht erfahren und werde auch im wirtschaftlichen und sozialen Wettbewerb nicht bestehen können. Übrigens betrachtete selbst der wirtschaftsliberale Ökonom Milton Friedman Bildung als staatliche Aufgabe.

Bleiben wir noch bei der heutigen Rolle des Staates. Die zunehmende Durchregulierung unserer Gesellschaft ist eines der zentralen Themen bei Novo. Auch Sie warnen in Interviews und Reden vor den Gefahren eines „Paternalismus, der auf leisen Sohlen kommt“ [1], im Jahr 2011 sprachen Sie von einem drohenden „Präventionsstaat“ [2]. Können Sie genauer erklären, was Sie damit meinen?

Der Präventionsstaat interveniert überall, weil er jede Form von Risiko ausschalten will, bevor eine freie Entscheidung überhaupt getroffen worden ist. Er greift ein, kontrolliert, bürokratisiert, evaluiert, lenkt, steuert und seit neustem stupst er an. Im Präventionsstaat reicht bereits die drohende Gefahr unvernünftigen Verhaltens aus, um durchzugreifen. Solche Eingriffe halte ich für hochproblematisch, denn es gibt ein Recht auf ein unvernünftiges Leben, wenn ich das für mich selbst verantworte und wenn es um meine persönliche Lebensführung geht.

„Der Präventionsstaat macht aus freien Bürgern Untertanen und Mündel“

Daneben drückt sich im Präventionsstaat ein prinzipielles Misstrauensvotum des Staates gegenüber seinem Souverän aus. Das Staat-Bürger-Verhältnis kehrt sich um, weil der Staat seine Bürger erzieht, sich sozusagen Bürger nach seinem Abbild schafft. Bestimmte politische Kräfte wie die Grünen sprechen das ja sogar offen aus, indem sie etwa die „Große Transformation“ von Wirtschaft und Gesellschaft im Sinne der „Klimaverträglichkeit“ fordern. Die Voraussetzung dafür ist natürlich ein Staat, der die Menschen in eine entsprechende Schablone presst. Und das möchte ich nicht! Ich möchte einen Staat der Regeln vorgibt, die das Zusammenleben ordnen sollen. Sie müssen demokratisch legimitiert sein und innerhalb des durch Regeln definierten Rahmens ist jeder frei zu tun und zu lassen, was er will.

Können Sie konkreter beschreiben, was dieses Staatsverständnis am Ende mit der Mündigkeit der Bürger macht?

Der Präventionsstaat macht aus freien Bürgern Untertanen und Mündel, deren Erziehungsberechtigter der Staat ist. Erwachsene Bürger werden zu Kindern, die zu ihrem Glück angeleitet oder gar gezwungen werden müssen. Meine Erfahrung ist, dass man zur Freiheit motiviert werden muss. Natürlich ist es bequem, sich irgendwie im Umfeld des Staates zu bewegen, gerade wenn der Staat viel dran setzt, bei seinen Bürgern den Eindruck zu schüren, „da draußen, wo die Freiheit herrscht, da geht es eiskalt und gefährlich zu.“ Im Zweifel bleibt man dann lieber am wärmenden Herdfeuer paternalistischer Politiker.

Mir hat mal jemand die Geschichte erzählt: Wenn man Großkatzen aus einem engen Käfig in ein Freigehege überführt, sollen sie angeblich trotzdem nah beim Zaun bleiben, weil sie gelernt haben, dass es dort was zu essen gibt; der neue Spielraum des Freigeheges bleibt ungenutzt, weil die Tiere damit nichts mehr anzufangen wissen. Ich meine im übertragenen Sinn: Wir brauchen bei staatlichen Interventionen eine Art „Beweislastumkehr”. Der Staat macht nur noch das, wo klar ist, Markt und Gesellschaft können es nicht alleine, bei dem Rest vertrauen wir in die Selbstkoordinationskräfte von uns allen. Damit alle wieder lernen, positiv mit Freiheiten umzugehen und Vertrauen zu haben in die eigenen Kräfte. Aber auch, damit wir das Vertrauen gegenüber unseren Mitmenschen zurückgewinnen, dass diese genauso verantwortungsbewusst mit ihrer Freiheit umgehen wie wir selbst.

„In Nordrhein-Westfalen gibt es eine krasse Raucher-Diskriminierung“

Neben staatlichen Akteuren scheinen mir auch noch andere Akteure den paternalistischen Zeitgeist zu befeuern. Wie sehen Sie beispielsweise den Einfluss von NGOs?

Sehr viele Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) haben eine beachtliche Kampagnenfähigkeit entwickelt und können die Präsenz einzelner Themen in der Öffentlichkeit entscheidend beeinflussen. Die Gesetzmäßigkeiten unseres politisch-medialen Systems führen schnell dazu, dass die Politik auf solche Debatte aufspringt, um Handlungsfähigkeit und Sensibilität zu zeigen. Ich habe den Verdacht, dass bei mancher NGO auch sachfremde Interessen eine Rolle spielen. Vielleicht die Nähe zu bestimmten Branchen oder das Eigeninteresse, durch Kampagnen bekannt zu werden, um Mitglieder und Spender zu gewinnen, damit die eigenen Geschäftsstellen weiter finanziert werden können. Es ist legitim, dass es solche Organisationen gibt, die am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen – ich begrüße es sogar ausdrücklich! Es ist gut, wenn sich freie Menschen organisieren und ihre Interessen in einem Verein gemeinsam bündeln. Auch die FDP ist gegenwärtig eine Nicht-Regierungs-Organisation – und zwar eine, die Menschen in einem Verein organisiert, die Interesse an einem selbstbestimmten Leben haben. Es ist wichtig, das Debattenfeld nicht den regulierungsfreundlichen NGOs, die zum Teil, wie etwa die Verbraucherzentrale, sogar staatlich finanziert sind, zu überlassen.

Was schlagen Sie konkret vor, um diese, ich sage jetzt mal, „anti-paternalistische Gegenöffentlichkeit“ zu stärken?

Das kann ich Ihnen sagen: Klar Stellung beziehen und bestimmten Entwicklungen widersprechen. Beispielsweise haben die Grünen in Nordrhein-Westfalen eines der striktesten Nichtraucherschutzgesetze in Deutschland durchgesetzt; mit dem Ergebnis, dass es jetzt eine krasse Raucherdiskriminierung gibt. Selbst in geschützten Bereichen darf nicht mehr geraucht werden, etwa in dem Zigarrenclub, wo ich früher hin und wieder auch mal war. Vor dem Rauchverbot wurde dort Rum zur kubanischen Zigarre gereicht, heute sitzt man dort auf den Ledersesseln mit seiner Zigarre und muss sich am Kaffeeautomaten selbst für zwei Euro den Cappuccino ziehen. Da wird einem der Genuss genommen, ohne dass es eine Gefahr gegeben hätte, denn dort treffen sich ja nur Genussraucher. Eine Gefahr gibt es also höchstens für mich selbst. Aber mir ist ja bekannt, dass es Gesundheitsrisiken gibt, deshalb rauche ich nicht Kette.

Bei solchen Fragen der Lebensstilregulierung hat sich die FDP am klarsten gegen den Weg in die „staatliche Besserungsanstalt mit grüner Hausordnung“ gewendet. Daran halten wir fest. Wir achten auf die Verhältnismäßigkeit bei jedem staatlichen Eingriff und sehen jede Form von Verzerrung des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs durch Subventionen kritisch – so etwa auch bei den erneuerbaren Energien. Als einzige Partei kritisieren wir die gegenwärtige Klimaschutzpolitik. Diese hat nicht nur global keine Auswirkungen, sondern kostet auch unseren Wohlstand. Zum Teil wird sie auch vorgeschoben, um bei den Menschen Verhaltensänderungen zu erzielen und eine grundlegende Skepsis gegenüber industrieller Produktionen und Wirtschaftswachstum politisch durchzusetzen.

„Nudging ist der Versuch, einen Magneten an unseren inneren Kompass zu halten“

In Interviews haben Sie sich auch gegen das Nudging ausgesprochen – den angeblich sanften Paternalismus –, der Menschen nur „einen Schubs in die richtige Richtung“ geben will. Wieso?

In der liberalen Theoriedebatte gibt es zwei Schulen, die sich gegenüber stehen. Es gibt einmal eine Reihe von vor allem angelsächsischen Denkern, die darin einen „libertären Paternalismus“ sehen, der zugleich legitim und notwendig sei. Die andere Seite lehnt Nudging als manipulativen Eingriff in die Autonomie der Individuen ab. Ich stehe eher auf der Seite der Nudging-Gegner. Ich halte das Nudging für den Versuch, einen Magneten an unseren inneren Kompass zu halten und damit unsere freie Urteilsfähigkeit zu beeinflussen – aus welchen Gründen auch immer.

Die Frage ist nun, was passiert, wenn ich mich dauerhaft gegen die von der Politik gewollte Option entscheide? Um erneut das Beispiel Rauchen aufzugreifen: Obwohl ich auf der Zigarrenpackung Bilder von erschreckenden Gesundheitsschäden sehe, entscheide ich mich trotzdem dafür. Was wird dann der nächste Schritt der Verhaltenslenkung sein? Für mich ist es übergriffig, wenn Gesetze mit dem Ziel der Verhaltenslenkung formuliert werden – im Bundeskanzleramt wurden ja vor kurzem extra Stellen für Anthropologen, Psychologen und Biologen geschaffen. Es gibt in der heutigen Politik eine klare Tendenz weg von der Rahmensetzung für freiheitliches und eigenverantwortliches Leben, hin zur Schablonierung und zur politischen Bewertung der Qualität von persönlichen Entscheidungen der Bürger – vom „Schiedsrichter und Regelsetzer” hin zum „Erziehungsberechtigten“. Aber Politik hat meine freien Entscheidungen nicht qualitativ zu bewerten, das ist meine Sache.

Gerade auch viele Liberale sehen im Nudging eine kostengünstige, weniger invasive Form staatlicher Regulierung. Regulieren müsse man ohnehin, lautet das Argument, da sind Nudges im Zweifelsfall besser als harte Verbote oder Ähnliches. „Es gibt zwar keinen guten Paternalismus aber vielleicht einen besseren“, heißt es. Was halten Sie von diesem Argument?

Auf der Ebene einer komparativen Betrachtung kann ich das sogar verstehen. Meine Abstufung wäre: Verbot, Nudging, Freiheit. Da ist natürlich Nudging besser als ein Verbot. Aber es ist trotzdem ein Schritt in die falsche Richtung. Ich will nämlich gar keinen Paternalismus. Ab einem gewissen Punkt kommen wir an einen „point of no return“, wo sich nicht nur dauerhaft das Verhalten der Menschen verändert hat, sondern auch der Charakter von Politik – und das in einer Zeit, in der wir ohnehin schon eine große (Wohlfahrts-)Staatsfixierung haben und staatliche Institutionen einen so prägenden Einfluss auf unsere Biografien haben. Deshalb sehe ich jeden weiteren Zugriff zunächst mit großer Skepsis. Irgendwann können – ökonomisch gesprochen – bestimmte Entscheidungen durch staatliches Handeln so stark prädisponiert sein, dass die Entscheidungskosten, sich zu entziehen, zu groß werden – etwa, wenn in der Organspendedebatte eine Opt-out-Regelung gefordert wird, also eine aktive Entscheidung gegen die Spende. Die Nudging-Leute würden so etwas prima finden, weil es weniger Bürger geben würde, die sich aufgrund von Bequemlichkeit oder Ähnlichem dagegen entscheiden. Ich sehe das kritisch. Im heutigen Modell muss sich jeder individuell mit der Frage beschäftigen und dann aktiv entscheiden, was ich für freiheitlicher halte.

„In einer Diktatur der Tugend würde ich nicht leben wollen“

Ein beliebtes Argument der Befürworter paternalistischer Eingriffe ist, dass die gesundheitlichen Konsequenzen für Menschen, die es beispielsweise nicht schaffen abzunehmen oder mit dem Rauchen aufzuhören, durch den Sozialstaat und somit die Gesellschaft getragen werden müssen. Am Ende schützen wir uns also als Gesellschaft vor einer „unnötigen“ Belastung unserer Sozialversicherungssysteme. Was halten Sie von diesem Argument?

Nichts. Wenn man es konsequent zu Ende denkt, dann müsste man ja den Lebenswandel jedes Menschen ganz genau untersuchen und ein individuelles Risikoprofil anlegen. Denn auch der Vielfahrer auf der Autobahn oder der aktive Freizeitsportler haben ein anderes Risikoprofil als die Couch-Sitzer, bei denen wiederum womöglich der Bewegungsmangel in den Saldo einfließen muss. Ich glaube nicht an dieses Modell. Nimmt man es ernst, dann leben wir irgendwann in der Dystopie, die Juli Zeh in ihrem Roman Corpus Delicti beschreibt, wo ein Staat, der „Methode“ genannt wird, das Leben hinsichtlich der Gesundheit total präformieren will und der Einzelne über sein Ernährungs- und Bewegungsverhalten Rechenschaft ablegen muss. Das wäre dann die Diktatur der Tugend – und in einer solchen Gesellschaft würde ich nicht leben wollen.

„Die Wissenschaft hat festgestellt…“, lautet heute eine gängige Politikerphrase. Nicht nur in der Nudging-Debatte, auch in vielen anderen Feldern staatlicher Regulierung ersetzen Expertenurteile, Studienergebnisse oder „wissenschaftliche Evidenz“ zunehmend das politische Argument. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Es ist ja eben gerade Teil der Wissenschaft, dass es unterschiedliche Betrachtungen gibt. Ich bin ein Freund von Karl Poppers Philosophie und glaube, dass es kein letztes Wissen gibt, sondern dass man sich immer auf eine Falsifikation der Erkenntnisse einstellen muss. Gerade bei bestimmten Technologien oder in der Ökonomie gehen die Einschätzungen massiv auseinander. Insofern bin ich für eine wissenschaftliche Abstützung von Urteilen, aber trotzdem für die Offenheit des Prozesses. Nehmen wir das Beispiel Fracking: Man kann natürlich mit wissenschaftlichen Argumenten begründen, warum es Risiken beim Fracking gibt. Durch weiteren technologischen Fortschritt oder andere Anwendungsmöglichkeiten, die diese Risiken minimieren, kann Fracking aber durchaus eine wertvolle Möglichkeit zur Energiegewinnung sein. Es ist falsch, dass aufgrund einmaliger wissenschaftlicher Studien diese Technologie in Deutschland gesetzlich komplett verboten werden soll, denn so nehmen wir uns die Möglichkeit zur Weiterentwicklung.

„Es gibt in der Politik eine gewisse Romantisierung von Experten“

In der Politik scheint bei bestimmten Themen ein regelrechter „Krieg der Studien“ vorzuherrschen. Ist das am Ende nicht einfach nur ein Versuch der Politiker, sich der Verantwortung zu entziehen, selbst zu argumentieren und am Ende für die eigene Meinung gerade stehen zu müssen?

Ja, es gibt in der Politik eine gewisse Romantisierung von Experten. Ich beobachte generell, dass Wissenschaft nicht als Prozess von Frage und Antwort, von Erkenntnis und Widerlegung betrachtet wird, sondern dass zunehmend Argumente vor allem dann zählen, wenn sie ein besonderer Adressat vorträgt. Gerade in der ökonomischen Diskussion muss man doch sehr genau schauen, wer etwas sagt. Weil es eben bestimmte Wirtschaftsforschungsinstitute gibt, die einer bestimmten Schule angehören oder eine bestimmte politische Perspektive einnehmen und deshalb Zahlen von ihrer eigenen Warte her interpretieren. Ein guter Abgeordneter sollte sich natürlich wissenschaftlicher Expertise bedienen, aber eben nicht, indem er sich Experten sucht, die die eigene Meinung stützen, sondern indem er die ganze Bandbreite wissenschaftlicher Erkenntnisse betrachtet und erkennt, wo eine wirkliche gehärtete Basis besteht, bzw. wo sich unterschiedliche Denkschulen überschneiden.

Wieso sind sie eigentlich vor kurzem zusammen mit der damaligen Vorsitzenden Karen Horn und anderen aus der Hayek-Gesellschaft ausgetreten? [3]

Es gab in der Hayek-Gesellschaft plötzlich einige, die als eine Art Glaubenskongregation diktieren wollten, was in ihren Augen liberal und was „sozialdemokratisch“ ist. Für mich kann es unterschiedliche Perspektiven darauf geben, was liberale Politik und liberale Werte sind, aber Liberalismus ist für mich auch eine Art Stilvorgabe der inhaltlichen Auseinandersetzung. Das habe ich in der Hayek-Gesellschaft vermisst. Ausdrücklich teile ich übrigens in der Sache nicht alle Positionen von Karen Horn. Beispielsweise ihre Position, ein progressiver Liberaler müsste gegen das steuerliche Ehegattensplitting sein, ist geradezu absurd. Ich vertrete das Gegenteil davon. Aber in der Frage des Stils der Auseinandersetzung hatte sie Recht. Da gab es einige in der Gesellschaft, die Hayeks Werk als eine Art Offenbarung interpretieren, das wie der Koran wörtlich genommen werden muss. Da geht es dann weniger um Theoriedebatten als vielmehr um eine Form religiöser Verehrung. Mir ist jede Form von Orthodoxie fremd. Ich empfinde das Werk von Hayek als inspirierend, aber ich lese ihn in Korrespondenz zu Ralf Dahrendorf.

„Man darf sich nicht von einem Shitstorm einschüchtern lassen“

Die derzeitige Flüchtlingskrise zeigt, dass Migration auch ein Freiheitsthema ist. Denn die Freiheit, dorthin zu gehen, wohin man will, ist eine der wichtigsten Freiheiten überhaupt. Wie alle etablierten Parteien steht die FDP für eine streng regulierte Einwanderungspolitik. Wie lässt sich solch eine Einschränkung der individuellen Bewegungsfreiheit aus liberaler Perspektive rechtfertigen? Sollte in einer freien Welt nicht jeder das Recht haben, zu leben und zu arbeiten, wo er möchte?

Das ist ein Wunsch, der nur im Paradies in Erfüllung geht. In der unvollkommenen Welt, in der wir leben, brauchen wir Regeln. In Deutschland beispielsweise bieten bereits die sozialstaatlichen Absicherungen einen starken Anreiz für Migration. Was uns von den anderen etablierten Parteien unterscheidet, ist eine prinzipielle Offenheit für Migration, wenn die Bedingungen dafür stimmen. Wir sind angesichts der Alterung unserer Gesellschaft für eine geordnete, aber aktiv auf stärkere Einwanderung setzende Politik. Eines muss dabei klar sein: Mir ist es egal, woher jemand kommt, woran er glaubt und was seine Kultur ist. Aber die Grundlage des Zusammenlebens sind die liberalen Werte unserer Verfassung. Wenn jetzt immer gesagt wird, Deutschland müsse und werde sich wegen der starken Zuwanderung ändern, dann will ich antworten: Auch Zuwanderer müssen sich nötigenfalls ändern und sich zu unseren Verfassungswerten bekennen.

Abschließend noch ein paar Sätze zur Meinungsfreiheit: Staatliche Zensur findet hierzulande glücklicherweise kaum statt. Stattdessen streiten wir mehr und mehr darüber, was man öffentlich sagen darf und was man besser für sich behalten sollte. Meine Position ist klar: Jedes Wort, auch das schwer Ertragbare, muss gesagt werden dürfen. Gibt es für den Vorsitzenden der liberalen Partei Grenzen der Meinungsfreiheit?

Nein, wenn ich jetzt einmal von strafbaren Handlungen und Verleumdung absehe. Ich bin ein Freund der Meinungsfreiheit. Ich mache selbst von ihr Gebrauch, weil ich oft Positionen vertrete, die in Deutschland nicht mehrheitsfähig sind. Das größere Problem ist, dass viele es dieser Tage schon als Begrenzung ihrer Meinungsfreiheit sehen, wenn ihre Meinung einen Shitstorm auslöst und sie deshalb einen bestimmten „Anpassungs- und Konformitätsdruck“ spüren. Sie beklagen, dass angeblich bestimmte Dinge nicht mehr gesagt werden dürfen. Ich finde, dass in Deutschland alles gesagt werden kann. Man muss eben damit rechnen und leben können, dass einem Menschen widersprechen und darf sich nicht vom Shitstorm einschüchtern lassen.

Herr Lindner, vielen Dank für das Gespräch!

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