10.04.2015

Wunsch scheitert an Wirklichkeit

Kommentar von Kevin Fuchs

Die Inklusion behinderter Kinder beschäftigt die Schulpolitik. Ohne grundlegende Änderungen im Schulsystem verfehlt sie allerdings ihr Ziel. Manche Kinder haben einen besonderen Förderbedarf. Dieser lässt sich nicht wegwünschen

„Gleichberechtigung“, „Chancengleichheit“, „soziale Gerechtigkeit“ – alles hübsche Begriffe. Doch so schön sie auch klingen, so verschlissen und inhaltsleer sind sie – Hochglanzwörter, denen man aus Erfahrung misstrauen darf. Von Politikern werden sie gerne zur eigenen Erhöhung missbraucht. Als moralisierende Universalvokabeln sind sie geeignet, missliebige Kritiker zum Schweigen zu bringen. Wer ist schon gegen „Gleichberechtigung“, „Chancengleichheit“ oder „soziale Gerechtigkeit“? Ein ebenso schmuckhafter Begriff ist die Wortschöpfung „Inklusion“.

Ähnlich wie „Diversity“ – soziale Vielfalt also – fügt sie sich in die zuvor genannte Reihe ein. Kern ist hierbei die Eingliederung behinderter Kinder in den regulären Schulunterricht – Seite an Seite mit nichtbehinderten Kindern. Dieser Anspruch leitet sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ab, die den Anspruch behinderter Kinder auf Teilnahme am Regelunterricht als zwingendes Recht postuliert. Die Idee der Inklusion wird gemeinhin als Widerpart zum deutschen Zweisäulensystem der Regelschulen auf der einen und der Sonderschulen auf der anderen Seite gesehen. „Exklusion“ ist entsprechend das, was mit diesem Doppelsystem assoziiert wird.

So positiv der Kerngedanke der Inklusion sein mag, so ernüchternd ist das, was die Politik damit anstellt. Der Inklusionsbegriff wird von Politiktreibenden überaus propagandistisch und sinnentleert geführt. Der Widerspruch zwischen inszeniertem Eifer und faktischer Inhaltslosigkeit offenbart sich beispielsweise dann, wenn „Inklusion“ einerseits als Handlungsfeld erkannt und zur Leitlinie erklärt wird, andererseits aber das Doppelsystem von Regel- und Sonderschulen erhalten bleiben soll. Ebenso widersprüchlich ist es, im Kontext der Inklusion von „Vielfalt“ oder „Diversity“ zu sprechen, gleichsam aber am dreigliedrigen Schulsystem, Frontalunterricht, gemeinsamen „Klassenzielen“ und kollektiven Leistungsniveaus nicht rütteln zu wollen. Ein derartiges Schulsystem verkörpert mit seinen groben Rastern eben alles andere als Diversität – ein struktureller Widerspruch. Und selbst der beste Wille bricht zuletzt am Unvermögen der Länder, entsprechende finanzielle Mittel verfügbar zu machen.

Letztgenanntes fußt mitunter auf der Bekundung, Inklusion sei kostenneutral. Tatsächlich wird der jährliche, bundesweite Bedarf hingegen auf zusätzliche 660 Millionen Euro geschätzt. Das ergibt die unlängst von der Bertelsmann-Stiftung herausgegebene Studie Inklusion in Deutschland – eine bildungsstatistische Analyse aus der Feder des Bildungsökonomen Klaus Klemm. [1]

„Es wird allzu gerne der individuelle, sonderpädagogische Bedarf eines Inklusionskindes ausgeblendet“

Es bleibt unklar, wie und weshalb eine solche Kostenneutralität vermutet werden kann. Denkbar ist die Annahme, dass eine reine Umschichtung sonderpädagogischer Ressourcen hin zu den Regelschulen stattfände und die Sonderschulen demnach abgeschmolzen würden. Mit einem Fortbestehen des Zweisäulensystems erübrigt sich aber diese Annahme ohnehin. Denkbar ist vielmehr, dass Inklusion von nicht wenigen als die bloße Aufnahme behinderter Kinder in reguläre Klassen verstanden wird. Dabei wird allzu gerne der individuelle, sonderpädagogische Bedarf eines Inklusionskindes ausgeblendet. Das aber hieße, behinderte Kinder in Regelklassen sich selbst zu überlassen und sie somit wiederum von hochwertiger Bildung auszuschließen. Als Ergebnis bliebe die Exklusion in der Inklusion. Zudem darf man annehmen, dass Eltern ihre behinderten Kinder wohl kaum ruhigen Gewissens einer Schule anvertrauen würden, die wenig bis keinen Förderbedarf bietet. Die Folge hieraus dürfte sein, dass die Möglichkeit der Inklusion zwar juristisch bestünde, in der Praxis allerdings eine manifeste Umsetzung fehlte.

In solchem Lichte betrachtet zeigt sich ein tiefliegendes Missverständnis, das Inklusion mit Integration verwechselt. Beide Begriffe haben eine andere, ja sogar gegensätzliche Bedeutung. Wer ein einzelnes Element in eine größere Menge „integriert“, belässt die Menge unverändert, verlangt aber umgekehrt die Anpassung des zu integrierenden Elements an die Menge. Bei der „Inklusion“ verhalten sich die Dinge umgekehrt. Inklusion ist keine Leistung des zu inkludierenden Elements, sondern die der einschließenden Menge. Es wird hier der Menge respektive dem umgebenden System abverlangt, Elemente unterschiedlichster Form aufzunehmen, was sich als eine häufig unterschätzte Herausforderung erweist.

Von diesen Prämissen ausgehend, kann man sich ein Wunschbild der idealen, inkludierenden Schule machen. Wie muss eine solche Schule beschaffen sein? Und vor allem: Welche Mühen und Kosten wären damit verbunden?

Behinderung ist keine statische Eigenschaft, ebenso wenig beschränkt sie sich auf isolierte Phänomene. So ist ein taubes Kind nicht nur unfähig, zu hören. Seine Taubheit bedingt auch mangelndes Vermögen, sich mitzuteilen und mit seinen Mitmenschen zu interagieren. Bei unzureichender Förderung können auch weitere – im Speziellen soziale und emotionale – Fähigkeiten in Mitleidenschaft gezogen werden, die lediglich mittelbar in Bezug zur eigentlichen Behinderung stehen. Von Kind zu Kind sind solche mitläufigen Einschränkungen sehr unterschiedlich ausgeprägt, auch was die zeitliche Dynamik angeht. Vielmals ist diese weder stetig noch monoton. Auch zeitweilige Stagnation oder gar Rückschritte gehören dazu.

Dieser Aspekt ist für die Inklusion von tragender Bedeutung, da dies eine kontinuierliche Beobachtung und Beurteilung des Kindes sowie eine diesbezügliche Anpassung sonderpädagogischer Maßnahmen bedingt. Strategien zur Inklusion müssen folglich eine entsprechende Flexibilität ermöglichen. Soll eine inkludierende Idealschule all dies berücksichtigen, so wären die nachfolgenden Bedingungen zu erfüllen.

„Es sollte es möglich sein, dass ein Kind in bestimmten Fächern in einer Sonderklasse sitzt“

Neben „regulären“ Lehrkräften müssten Schulen über ausreichend Sonderpädagogen verfügen. Zwischen Regulär- und Sonderpädagogen müsste ein permanenter Austausch und Wissenstransfer stattfinden. Eine entsprechende Weiterbildung der regulären Lehrkräfte wäre ebenso zwingend. Neben den regulären gäbe es sonderpädagogische Klassen. Letztere würden sich durch einen besonderen Betreuungsschlüssel auszeichnen, der das Arbeiten in kleinen Gruppen ermöglicht. Ebenfalls wäre im Allgemeinen die Größe regulärer Klassen zu beschränken.

Eine vollständige Trennung zwischen Regel- und Sonderunterricht soll es jedoch in der Idealschule nicht geben. So sollte es möglich sein, dass ein Kind in bestimmten Fächern in einer Sonderklasse sitzt, in anderen Fächern jedoch am Regelunterricht teilnimmt, je nach individuellem Bedarf. Erreicht würde hierdurch eine dynamische Anpassung an unterschiedliche Begabungen, Lernfortschritte und Lerngeschwindigkeiten je Fach. Hier kann auch zeitgerecht Rücksicht auf eventuelle Rück- und Fortschritte genommen werden, was der zuvor benannten zeitbezogenen Dynamik in der Entwicklung behinderter Kinder Rechnung trägt. Ein Kind kann zudem in einzelnen Fächern vom regulären zum Sonderunterricht wechseln, wie auch umgekehrt, ohne dass dies einen Wechsel des sozialen Umfeldes zur Folge hätte.

Über all dies hinaus müsste es Lehrern möglich sein, weitgehend frei und nach eigener Bemessung über Lerninhalte und Materialien zu befinden. Fixe Lehrpläne wären hierbei hinderlich. Auch die Beurteilung von Schülern sowie die Einschätzung ihrer Bedürfnisse und ihres Förderbedarfs müssen der Hoheit der Lehrer unterworfen sein.

Soviel zur Utopie der idealen Inklusionsschule. Nun zur eher traurigen Wirklichkeit. Zunächst irritiert das Paradoxon, wonach in den vergangenen Jahren zwar die Inklusionsquote gestiegen ist, die Masse der Kinder, die in Sonderschulen unterrichtet werden, jedoch auf demselben Niveau verblieb – ebenfalls eine Aussage der zuvor zitierten Bertelsmann-Stiftung. [2]

Dies liegt wohl in der Tendenz begründet, mehr Kindern denn je einen Förderbedarf zuzusprechen. Viele Kinder, die früher als „normal“ gegolten hätten und lediglich als subjektiv „anstrengend“ empfunden wurden, laufen heute Gefahr, zu Inklusionskindern umetikettiert zu werden. Zumeist verbleiben solche Kinder dennoch in den Regelschulen. Ein Grund mag sein, dass Schulen sich hierdurch zusätzliche, inklusionsbezogene Mittel erschließen. Gegenstand der Begierde ist hier maßgeblich das von den Schulämtern an die jeweiligen Schulen vergebene Kontingent an Unterrichtsstunden. Wird einem Inklusionskind ein entsprechender Förderbedarf attestiert, so erhält die Schule für dieses Kind eine bestimmte Anzahl an Förderstunden. Der Schule stehen somit zusätzliche Netto-Unterrichtsstunden zur Verfügung, was sich wiederum in Form höherer Mittelzuweisung niederschlägt.

Dem kommt ein gesellschaftlicher Trend entgegen, vom Durchschnitt abweichende Normvarianten menschlichen Verhaltens zunehmend und leichtfertig zu pathologisieren. Man denke beispielsweise an den exponentiellen Zuwachs an AD(H)S-Diagnosen in den letzten Jahren. Dieser Trend zum „Aussortieren“ unerwünschter Eigenschaften müsste eigentlich im fundamentalen Widerspruch zum Inklusionsgedanken stehen, aber das Etikett „Inklusionskind“ mutiert zum Stigma und damit zum Ausschluss.

Zudem herrscht in den Regelschulen bis heute eine Kultur des Gleichschritts entlang standardisierter, von höheren Instanzen erdachter Lehrpläne. Das gemeinsame Klassenziel bleibt das allem übergeordnete Maß. Es ist demnach kein Wunder, dass viele Abweichungen schnell als störend empfunden werden.

„Die mancherorts angenommene Kostenneutralität der Inklusion erweist sich als Hirngespinst“

Natürlich stehen auch finanzielle Motive unserer „Idealschule“ im Weg. Die mancherorts angenommene Kostenneutralität der Inklusion erweist sich als Hirngespinst. Echte Inklusionsschulen würden viel Geld kosten. Vor diesem Hintergrund sollte man verstehen, dass das Inklusionsgebot nicht nur aus gutem Willen heraus geboren wurde. Es ist – dank besagter UN-Behindertenrechtskonvention ­– ein festgeschriebenes Recht, das für Deutschland bindend ist, das neben 152 weiteren Ländern auch diese Konvention ratifiziert hat. Es schält sich der dumpfe Verdacht heraus, dass so manches Bundesland lediglich Rechtssicherheit schaffen möchte. Sprich: Möglicherweise soll die UN-Konvention allenfalls soweit und nur mit den allernötigsten Mitteln ausgestaltet werden, dass die Bildungsträger zumindest von den Eltern nicht juristisch in die Pflicht genommen werden können. So würde das bloße Angebot, ein behindertes Kind an einer Regelschule teilhaben zu lassen – ganz gleich wie wenig Förderung ihm dort zuteilwürde – genügen, um die UN-Konvention zumindest formal zu „erfüllen“.

Das größte Hindernis der Inklusion ist ein zwar in seinen Anfängen begriffener, aber noch nicht weit fortgeschrittener Bewusstseinswandel. Inklusion ist nicht umsetzbar, solange der Bildungsapparat nicht grundlegend reformiert wird und sich konsequent am Bildungserfolg der Individuen zu orientieren beginnt. Hierfür muss aber auch der propagandistische und gutmenschelnde Gebrauch des Inklusionsbegriffes ein Ende finden.

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